„Ich habe immer von einem gemeinsamen Thema geträumt, an dem alle mitwirken“
Juliane Votteler wird dem Augsburger Stadttheater weiter als Intendantin vorstehen – bis 2017. Das ist die Zielvorstellung der Stadt. Noch ist nichts unterschrieben. „Die Verhandlungen sind ein bisschen ins Stocken gekommen.“ Womit das zu tun haben könnte, erklärt Frau Votteler im großen DAZ-Interview.
Das knapp zweistündige Gespräch verlief teilweise kontrovers, wurde aber durchgängig von der guten Laune, dem lauten Lachen und der konzentrierten Ernsthaftigkeit der Intendantin getragen. An dem Gespräch nahmen fürs Stadttheater auch die Leiterin für Kommunikation und Sponsoring, Ursula Baier Pickartz sowie Pressereferent Philipp Peters teil. Die Fragen für die DAZ stellten Kulturredakteur Frank Heindl und Herausgeber Siegfried Zagler.
v.l.: Kulturredakteur Frank Heindl, Theaterintendantin Juliane Votteler, DAZ-Herausgeber Siegfried Zagler | Fotos: Elena Fijalkowski
DAZ: Frau Votteler, wir haben im März den Kulturreferenten Peter Grab mit den Worten zitiert, die Stadt führe mit Ihnen „Verhandlungsgespräche mit dem Ziel einer Verlängerung.“ Es wundert uns, dass dieses Ziel immer noch nicht erreicht ist.
Votteler: Die Verhandlungen sind ein bisschen ins Stocken gekommen, aber da ist weder die eine noch die andere Seite schuld. Meine Überlegungen sind diese: Wir haben hier so viel bewegt, die Stadt hat uns voll akzeptiert, wir sind wohl gelitten und auch Gesprächsthema in der Stadt – wir machen gute Arbeit. Aber wenn wir so weiterarbeiten sollen, dann brauchen wir die Zusage, dass in dieser Legislaturperiode die Sanierung des Theaters angegangen wird. Seit 20 Jahren schieben die Stadtregierungen dieses Thema vor sich her. Ich brauche keine Zusage über 60 Millionen, aber ich brauche die Sicherheit, dass die Stadtregierung diesem Thema jetzt wirklich allerhöchste Priorität einräumt.
Für das Theater war es sehr schade, dass die Kongresshalle vorgezogen wurde, weil im Konjunkturpaket Theaterbauten ausgenommen sind, eine Entscheidung, die ich überhaupt nicht verstehe. Hier hat die Bundesregierung wahrscheinlich die Überlegung getragen, dass diese Sanierungsmaßnahmen ja immer von Stadt und Bundesland gemeinsam getragen werden müssen. Und so müssen wir uns auch nach München wenden, denn es ist sehr einsehbar, dass dieses langjährige Projekt der Theatersanierung auf keinen Fall die Kommune allein stemmen kann.
DAZ: Hat Ihre Forderung etwas Ultimatives? Die Augsburger Lokalpolitik ist ja sehr schwer zu berechnen, siehe Königsplatzumbau, wo im Moment alles zerfasert, während vor vier Monaten alle Stadträte in die gleiche Richtung zu marschieren schienen.
„Ich wünsche mir ein ernsthaftes Bekenntnis“
Votteler: Ultimativ ist das nicht – ich wünsche mir ein ernsthaftes Bekenntnis, und die ersten Schritte sind schon erfolgt. Die Bedingungen, unter denen hier im Haus produziert wird, sind einfach unzumutbar. In der Lehrwerkstatt der Schneiderei ist ein Mann, der Außenarbeiten durchführte, durch das Dach gebrochen. Deshalb haben wir sie jetzt ins Besucherfoyer im dritten Rang verlegt. Aber man fragt sich: was muss noch passieren?
DAZ: Wir haben uns die Frechheit erlaubt, in der letzten Werkausschusssitzung mitzuschreiben: „Wenn wir wieder erst im April erfahren, dass die Sanierung (…) wieder nicht stattfindet, dann müssten wir das große Haus schließen“, sagten Sie wörtlich. Als dann die Augsburger Allgemeine daraus eine Headline bastelte und die Wellen hoch gingen, haben Sie via a.tv zurück gerudert. Angst vor der eigenen Courage – oder Diplomatie vor der folgenden Stadtratssitzung? Mit dem Verlauf dieser Sitzung müssten Sie doch mehr als zufrieden sein. (die DAZ berichtete).
Votteler: Es muss sich um einen Verständnisfehler handeln. Bei der von mir gemachten Äußerung ging es um den Bühnenturm, dessen Instandsetzung für diesen Sommer geplant war. Diese wurde wieder verschoben. Wir haben vom Hochbauamt die Information, dass die notdürftige Situation, wie sie jetzt besteht, nur zwei Jahre duldbar ist. Selbst in diesem Winter durfte nur eine bestimmte Menge Schnee auf dem Dach liegen, um die Sicherheit zu gewährleisten. Ich rudere nicht zurück, sondern verwahre mich gegen Verdrehungen oder ganz einfach aus dem Zusammenhang gerissene Sätze, die in anderem Kontext gefallen sind und deren man sich bedient, um zu provozieren. Ich fühle mich aber von der Augsburger Politik vollkommen unterstützt und weiß, dass wir alle dasselbe wollen. Was ich nicht verstehe ist der Wunsch, immer wieder Keile zu treiben.
Sitzung provokativ: Bauhelme gegen Baumängel | Foto: A.T. Schaefer
DAZ: Man könnte einwenden, dass man, was das Künstlerische anbelangt, nach der ganzen Sanierung auch nicht mehr hat als jetzt.
Votteler: Doch, doch! Der Vorschlag, den die Grundlagenermittlung in Aussicht gestellt hat als die einzig sinnvolle Sanierung, bedeutet den Abriss des Intendanzgebäudes, den Abriss der Werkstätten und die Erstellung eines neuen Gebäudes, in dem die Werkstätten untergebracht sind. Im zweiten Gebäude daneben ist eine zweite Spielstätte mit vierhundert Plätzen vorgesehen. Dieser Gebäudekomplex kostet 66 Millionen nach der momentanen Berechnung. Der zweite Schritt ist die Sanierung des großen Gebäudes, die dann „nur“ noch 27 Millionen kostet, weil wir die Werkstätten dann ja nicht mehr sanieren müssen. Was dann noch fehlt zu den 100 Millionen, die in der Zeitung gestanden haben, ist die Freilichtbühne. Die kleine Variante kostet sechs, die andere fünfzehn Millionen Euro. Es ist doch selbstverständlich, dass diese Maßnahmen viele Jahre brauchen, um umgesetzt zu werden.
DAZ: Wo brennt es am meisten?
Votteler: Als das Wichtigste erscheint uns das Werkstattgebäude. Wenn hier effizienter und unter besseren Bedingungen gearbeitet werden kann, wenn die Kulissen nicht in winzige Einzelteile zerlegt werden müssen, dann hat das natürlich auch Auswirkungen auf die Kunst.
DAZ: Wäre es nicht von Vorteil gewesen, wenn man eine neue oder renovierte Spielstätte irgendwo anders hätte – so, wie sie das jetzt mit viel Aufwand betreiben: Sie gehen mit den „Webern“ in die Dierig-Werke, das Orchester spielt in der Gersthofener Stadthalle, die Schüleroper „Tom Dumm“ wurde im Kulturpark West aufgeführt. Mit einem anderen Standort hätten Sie automatisch eine neue Atmosphäre gehabt – vielleicht wäre etwas Spannendes dabei herausgekommen.
Votteler: Wir hätten bei der Komödie einen Teil unseres Publikums verloren, fürchte ich, die langfristig eine gute Verkehrsanbindung mit öffentlichen Transportmitteln und eine zentrale Lage der Spielstätte wünschen. Sie machen Experimente mit, aber auf Dauer und insbesondere im Winter stelle ich mir das sehr schwer vor.
Aber das viel größere Problem ist die Logistik: Es ist viel sinnvoller, wenn man an einem Ort die Werkstätten und den Spielbetrieb hat. Alles andere kostet viel mehr Geld und vor allem unglaublich viel Manpower. Es gab so viele gute Ideen und es gibt so attraktive Orte, nur das Geld für die Umsetzung, das fehlt.
Warum fragen wir nicht die Menschen, die etwas davon verstehen, die seit vielen Jahren Theater machen und auch Erfahrung mit Sanierungskonzepten haben. Unser technischer Direktor, der kaufmännische Direktor, der Schauspieldirektor, der Operndirektor, sie alle haben solche Situationen erlebt und gestaltet. Da vertraue ich darauf, dass die Lösung, die nun von einem so renommierten Büro wie PFP Hamburg am Tisch liegt, auch die wirklich beste ist.
DAZ: Wir wollen jetzt nicht den Eindruck erwecken, dass wir unzufrieden mit dem bisher Geleisteten wären, das Gegenteil ist der Fall, aber ihre Art Theater zu machen, weckt Lust auf mehr. Wir trauen Ihnen eben noch einiges zu, und zwar in zweierlei Hinsicht. Einmal mit ihren Möglichkeiten weiterhin intensiv in die Schnittstellen der Stadt hinein zu kommunizieren – Stichwort „Weber“ – zum anderen das Augsburger Theater selbst aus der „Provinzfalle“ zu führen. Wäre dies nicht die vornehmste und womöglich dringlichste Aufgabenstellung für die künstlerische Leitung? Unter Provinzfalle verstehen wir zum Beispiel die leidige Kurzschlussrezeption. Das Theater und insbesondere das Schauspiel, kann tun und machen, was es will. Am Ende bespricht die hiesige Tageszeitung die Premiere und das war es dann. Wären wir an einer Inszenierung maßgeblich beteiligt, würde uns das ziemlich frustrieren. Sie nicht?
Votteler: Erstens ist es nicht so und zweitens macht man Theater für das Publikum einer Stadt und nicht für die Zeitung. Die hiesige Zeitung nimmt uns ernst und betrachtet kritisch unsere Arbeit und das tun Sie auch. Wichtig für das eigene Selbstverständnis ist die kritische Hinterfragung dessen, was man tut. Und dafür sind wir gut aufgestellt mit den drei Direktoren und der gesamten Leitung des Hauses. Dann gilt es, das Niveau zu halten, jeder Abend muss so gut oder besser als die Premiere sein. Die Konzentration darauf und auf einen abwechslungsreichen, interessanten Spielplan, der sich mit den Themen der Zeit und den Themen der Stadt beschäftigt, das sind unsere Aufgaben. Es erscheint mir sehr merkwürdig, dass mit dem überdurchschnittlichen Erfolg in der Stadt nun sofort der Ruf nach der überregionalen Wahrnehmung kommt. Das hat vor zwei Jahren niemanden interessiert und nun wird auch noch so getan, als könnten wir das beeinflussen. Müssten Sie da nicht in die Offensive gehen?
DAZ: Mit bescheidenen Mitteln in der Ersten Liga spielen. Der AEV kann das zum Beispiel. Unser Ausgangspunkt war aber eigentlich die Überlegung, was der Abonnent für eine Rolle in der Spielplandiskussion spielt und auch in dieser Standortdiskussion – ob er nicht manchmal ein bisschen überbewertet wird, und deshalb irgendwie in den Schaffensprozess hineinwirkt, und somit eventuell eine gute Idee während einer Inszenierung der Schere im Kopf zum Opfer fällt.
Votteler: Was soll das letztlich bedeuten? Wir sind zu anderem berufen, wir werfen, wie man so schön sagt „mit der Wurst nach der Speckseite“? Das ist doch Unsinn. Ich finde, Theater lohnt sich nur, wenn man es für Leute macht, die dann kommen und es sich angucken, sonst können wir hier alleine spielen.
DAZ: Perspektivisch ist es trotzdem ein Unterschied, wen man sich als Publikum vorstellt.
Votteler: Das Publikum ist wie es ist, das ist in jeder Stadt anders und es gibt bei hundert Leuten immer hundert Meinungen. Damit lebt jeder, der Theater macht. Erstmal macht man Theater miteinander und man macht es für das Publikum. Manchmal auch bewusst unbequem oder mit sehr unbequemen Stücken. Das ist unser Auftrag. Und wenn wir Komödie spielen, dann auf dem höchsten Niveau, das ist nämlich das Schwerste: das Heitere. – Dann kommt noch das Personalproblem dazu: Ich habe hier Meister und die Techniker, die sagen, wir können Ihnen diesen Spielplan nicht umsetzen mit sieben Leuten weniger. Wenn die Logistik mit der Ersatzspielstätte besser funktioniert, dann können wir auch anders planen.
Was mich ärgert, ist, dass man nicht über die Kunst redet. Sondern plötzlich über die nicht bestehende Wahrnehmung der überregionalen Medien. Aber die sind da und die schreiben auch über uns, mehr als über andere. Das nimmt hier vielleicht keiner wahr. Überregional werden wir von anderen Theatern ob der guten Resonanz beneidet.
„Was soll der Begriff Ranking?“
DAZ: Gut, dann reden wir jetzt über die Kunst. Was müsste eigentlich passieren, damit das Augsburger Schauspiel irgendwann mal in der ersten Liga spielt?
Votteler: Woran machen Sie das fest? Weil wir nicht zu den Theatertagen eingeladen worden sind zum Beispiel?
DAZ: Zum Beispiel! Oder an informellen Rankings, an der überregionalen Beachtung, auch an der Diskursheftigkeit. Zum Theaterfestival in Berlin zum Beispiel ist auch schon mal Essen oder Münster eingeladen gewesen – das sind für uns Kriterien.
Votteler: Kriterien sind das nicht! Die Kriterien dieser Jury sind ja in der Theaterlandschaft unglaublich umstritten. Ich fand es schade – ich habe gedacht, die „Weber“ hätten sie einladen müssen. Wir haben auch die Jurymitglieder einzeln angeschrieben, und die sind nicht mal gekommen und haben es sich angeguckt. Das liegt natürlich auch an der Haltung der Jury. Es es ist einfacher gemeinsam in die großen Städte zu fahren, beziehungsweise touren die großen Theater inzwischen auch sehr viel als Gastspiele, da kommt in Berlin viel vorbei aus München, Hamburg, Köln.
DAZ: Also noch mal bitte: Was müsste passieren, damit man im Ranking weiter nach oben steigt?
Votteler: Was soll der Begriff „Ranking“. Wir sind nicht bei der Leistungsschau. In größeren Häusern ist man anders aufgestellt, man hat viel größere Ensembles, andere Strukturen. Ich mag diese Neiddebatte nicht, das finde ich provinziell. Wir müssen doch für Augsburg so Theater machen, dass das Augsburger Publikum sich da wiederfindet.
DAZ: Aus unserer Sicht wäre es schon spannend, wenn wir in der ZEIT und der FAZ und anderswo lesen könnten, was das Augsburger Stadttheater macht, und nicht nur in der Augsburger Allgemeinen und in der DAZ.
Votteler: Aber da müssen Sie doch mit den Redakteuren diskutieren – warum sagen Sie mir das?
DAZ: Weil das große Feuilleton nicht nach Augsburg kommt, und das war schon immer so … und falls es Ihnen gelänge, diese grausame Form der Nichtbeachtung zu brechen, wären Sie womöglich angesehener als der Oberbürgermeister. Niemand sehnt sich stärker – so unsere These – nach Erfolg und die damit verbundene Bedeutsamkeit als die verletzten Seelen der stolzen Augsburger, seit – sagen wir mal – 1806. Vielleicht leiden wir mehr an Augsburg als am Augsburger Theater. Worum es uns geht, ist eigentlich nicht die Unzufriedenheit mit dem Theater, sondern die Unzufriedenheit mit der Diskursfähigkeit in der Stadt.
„Ich zumindest bin freiwillig hier“
Votteler: Aha, Sie sind mit der Stadt unzufrieden! Das geht mir nun gar nicht so, tut mir leid. Da kann ich Ihnen auch nicht helfen. Ich zumindest bin freiwillig hier. Wir haben von Anfang an gesagt, wir kaprizieren uns in Augsburg nicht darauf, Stars herzuholen – die kriegen wir nicht. Wir haben gesagt, wir wollen junge Leute aufbauen. Das finde ich gut so. Ich würde krank, wenn ich mich die ganze Zeit mit dem Deutschen Theater in Berlin oder mit dem Thalia Theater in Hamburg vergleichen würde – warum soll ich dahin schielen, wo ich’s doch hier gar nicht ermöglichen kann. Die haben großartige Schauspieler und ein Ensemble von vierzig Leuten – wir haben 13 Stellen besetzt. Ich kann hier nur mit den verfügbaren Mitteln das Beste rausholen.
DAZ: Und das heißt?
Votteler: Die Arbeitsbedingungen müssen so gut sein, dass die Leute es attraktiv finden, hierher zu kommen. Das haben wir geschafft. Talente aufbauen, zum Blühen bringen. Nehmen Sie Herrn Gloger, der hier seine ersten Inszenierungen gemacht hat, Clavigo, Emilia Galotti und den Prinzen von Homburg – er wird jetzt fester Regisseur am Hamburger Schauspielhaus. Das ist doch toll! Und was macht er? – Er inszeniert bei uns seine erste Oper, den Figaro. Der läuft nicht weg! Die Leute laufen nicht in Scharen weg, sondern bleiben drei, vier Jahre hier.
DAZ: Gut, und …
Votteler: …und einen Spielplan machen, der sich von der Nachbarstadt München absetzt. Stücke spielen, die man dort nicht sehen kann. Die Wahrnehmung von München ist riesengroß inzwischen.
DAZ: Was ist mit der Oper, dem Konzert. Überhaupt mit dem Risiko „Neue Musik“? Was Sie und Dirk Kaftan als Generalmusikdirektor in den vergangenen Jahren für die Neue Musik in Augsburg getan haben, finden wir unglaublich toll!
Votteler: Ganz toll ist ja auch, was Ute Legner macht, das Projekt „Mehr Musik!“.
DAZ: … und die Reihe „Zukunftsmusik“, die glücklicherweise in der nächsten Spielzeit weitergeht!
„Man muss Musik nicht verstehen, sondern sie erst mal einfach hören“
Votteler: Man muss Hemmschwellen abbauen, Vermittlungsarbeit leisten. Es gibt mittlerweile so viele Berührungspunkte zwischen U und E, zwischen Pop und ernster Musik, die Vorurteile stimmen alle nicht mehr. Deshalb ist für mich das Allerwichtigste, dass man diese Angst vor der Neuen Musik verliert.
DAZ: Man gewöhnt sich allerdings sehr viel schwerer an neue Musik als an neue bildende Kunst. Das dauert viel länger als bei den Augen – eine Solopartite für Violine von Bach kann sich immer noch sehr modern anhören, auch wenn sie schon bald 300 Jahre alt ist.
Votteler: Natürlich ist das Ohr was anderes als das Auge. Mit dem Auge können Sie weggucken, aber wenn Sie nicht weghören können, fühlen Sie sich verärgert. Über Visuelles kann man auch viel einfacher verbal kommunizieren, während die Leute einen Irrsinns-Respekt vor diesen gigantischen Partituren haben. Mit Notenlesen kommt man da nicht weit.
DAZ: Viele Menschen haben das Gefühl, dass Neue Musik sie quälen will. Nach der Premiere von „I hate Mozart“ haben wir ein Gespräch belauscht mit ungefähr dem Inhalt, dass die Oper zwar nicht regelrecht gefallen hat, dass sie aber auch längst nicht so schlimm wie befürchtet ausgefallen ist.
Votteler: Das hat auch was mit dem Bildungsbürgertum zu tun: Man versteht etwas nicht und ärgert sich darüber. Aber man muss Musik gar nicht verstehen, sondern sie erst mal einfach hören. Wenn man eine Partitur von Lachenmann durchgearbeitet hat, gefällt einem die Musik hinterher kein Stück besser.
DAZ: Um nochmal auf die Interaktion mit dem Publikum zurück zu kommen: Der Regisseur Einar Schleef hat mal gesagt, dass er gar nicht verstehen kann, warum die Leute ins Theater gehen, weil sie doch den Entstehungsprozess der Inszenierung gar nicht kennen und die Tiefen des Stückes anhand dessen, was auf der Bühne zu hören und zu sehen ist, nicht angemessen verstehen können. Wenn man dem zustimmt, dann wird der Diskurs nach dem Theaterbesuch ungeheuer wichtig. Wir finden, dass über das Augsburger Schauspiel zu wenig und zu wenig differenziert diskutiert wird.
„Man muss so Theater machen, dass man Stadtgespräch ist“
Votteler: Ich glaube das nicht. Wenn Sie zum Beispiel die Reaktionen auf die „Weber“ sehen und die Leute, die bis dahin nie im Theater waren! Genau für die haben wir doch das Stück gemacht.
DAZ: Das ist richtig, das ist ein gutes Argument, aber inwieweit wurde denn der Diskurs um das Stück vom Theater begleitet? Was hat ihrer Beobachtung nach das Stück bei den ehemaligen Arbeitern und der Augsburger Stadtgesellschaft bewirkt?

"Man muss Musik gar nicht verstehen, sondern sie erst mal einfach hören" - Juliane Votteler mit Siegfried Zagler
Votteler: Nach jeder Vorstellung bleiben Zuschauer und sprechen mit den Mitwirkenden. Und wir alle sprechen immer wieder mit Zeitzeugen und Betroffenen. Sicherlich könnte man in der nächsten Spielzeit eine größere Veranstaltung zur Rezeption machen, darüber gilt es nachzudenken. Sie haben aber auch recht, man muss so Theater machen, dass man Stadtgespräch ist, aber nicht im Sinne von Skandälchen, sondern indem man sich einmischt. Sie haben vielleicht auch recht damit, dass das Schauspiel noch politischer sein muss. Wobei ich zum Beispiel platt war, dass ein Stück wie der „Puntila“ so angenommen wurde – diese Inszenierung war eigentlich eine ziemliche Provokation, da waren viele Sprengsätze drin.
DAZ: Noch mal zu den Webern: Sind sie mit den Reaktionen auf das Stück zufrieden?
Votteler: Nur 9,8% der Bevölkerung rezipieren überhaupt Kultur. Das ist nicht schlimm, das ist einfach so. Aber ich glaube, dass wir in Augsburg bei diesen 9,8% sehr präsent sind. Natürlich werfen Sie eine Frage auf, die ja die gesamte Theaterlandschaft in Deutschland beschäftigt: Warum erreichen wir die Leute mit Migrationshintergrund nicht? – Mit den „Webern“ haben wir die Menschen erreicht, die noch nie im Theater waren. Die sind reingegangen, weil da ihr Thema, ihre Geschichte verhandelt wurde. Ich glaube, so muss man heute Theater machen: Neben dem klassischen Kanon und neben dem Zeitgenössischen muss man Stücke entwickeln, die mit der Situation, der Geschichte, der Bevölkerung einer Stadt zu tun haben.
DAZ: Welche Möglichkeiten sehen Sie denn im idealisierten Fall für das Augsburger Stadttheater? Anders gefragt: Wenn Sie sich – unabhängig von den baulichen Fragezeichen – eine künstlerische Perspektive für die kommenden Jahre ihrer Intendanz malen könnten, wie sähe die aus?
Votteler: Das Begonnene fortsetzen. Und: Noch mehr Vernetzung mit den anderen kulturellen Institutionen der Stadt schaffen. Ich habe immer von einem gemeinsam Thema geträumt, an dem alle mitwirken. Dann kann das Publikum erleben, wie vielfältig eine Schwerpunkt beleuchtet werden kann. Und man muss – um noch mal zur Frage des Spielplans zurückzukommen – mehr Moderne wagen. Auch deshalb finde ich eine zweite Spielstätte mit 400 Plätzen so sinnvoll – da könnten wir dann nämlich auch zeitgenössisches Musiktheater spielen.
DAZ: A propos, wie sieht eigentlich Ihr Plan B für den Fall aus, dass der Container im Januar nicht steht?
Votteler (lachend): Das sag ich Ihnen nicht, aber wir haben einen, wir träumen zwar gern, aber naiv sind wir nicht!
DAZ: Frau Votteler, vielen Dank für das Gespräch.