DAZ - Unabhängige Internetzeitung für Politik und Kultur
Dienstag, 14.10.2025 - Jahrgang 17 - www.daz-augsburg.de

Musik

„Faust – Margarethe“: Gretchen mit Stinkefinger

Stimmig-feministische Operninszenierung am Staatstheater Augsburg

von Halrun Reinholz

Foto © Jan-Pieter Fuhr

Eigentlich hält sich Gounod beim Aufbau seiner Oper „Faust“ ziemlich genau an die Vorlage von Goethe. Und doch steht bei ihm der Fokus mehr auf der Figur des Gretchen, bei ihm Marguerite oder Margarethe. Diesen Ansatz greift Jochen Biganzoli bei seiner Augsburger Inszenierung zeitgemäß und einfühlsam auf, verzichtet jedoch trotz naheliegender Anspielungen auf die „Me Too“-Debatte klug auf den plumpen politischen Holzhammer.

Programmatisch ist schon der Doppel-Titel „Faust – Margarethe“, unter dem die Oper im Spielplan firmiert. Auch das Programmheft unterstreicht diese Zweiteilung: Bis zur Pause, in der Handlung bis zur Liebesnacht, steht „Faust“ im Blick des Betrachters, danach muss das Programmheft umgedreht werden, nun ist „Margarethe“ dran. Was zunächst wie eine künstlerische Spielerei anmutet, erweist sich im wahrsten Sinn des Wortes als „Wende“ des Fokus. Margarethe wandelt sich vom passiven Püppchen, dem von der befrackten Männerwelt nach Belieben Kittelschürze, Paillettenkleid oder Dirndl übergestreift wird, zur eigenständigen Person, die weiß, was sie will. Sie bringt ihr Kind zur Welt und als der zunächst noch sehnsüchtig erwartete Faust nach der (in der Inszenierung konsequent ausgesparten) Walpurgisnacht wieder auftaucht und sie „befreien“ möchte, zeigt sie ihm den Stinkefinger: Jetzt nicht mehr und schon gar nicht mit dem schmierigen Gesellen an deiner Seite, ist ihre Botschaft.

NEIN, schreibt sie an die Wand, stellt sich auf den Tisch davor und verleiht ihrem Selbstbewusstsein (zuweilen in schrägem Widerspruch zu dem Text ihrer Arie) Ausdruck. Den Weg in die Erlösung findet sie selbst, nicht durch die Gnade der höheren Macht. Eine starke Aussage, die im Publikum ankommt – nicht zuletzt, weil Jihyun Cecilia Lee die Rolle der Margarethe stimmlich und darstellerisch überzeugend ausfüllt.

Doch letztlich überzeugt dieser Opernabend durch das Gesamtpaket. Die Inszenierung steht, wie so vieles, schon lange in den Startlöchern und musste pandemiebedingt verschoben werden. Ein Glück, dass sie nicht komplett in der Versenkung verschwand, es wäre ein Verlust fürs Repertoire gewesen. Ihre Stärke liegt nicht zuletzt in der Einfachheit, die zunächst durch ein sparsames, komplett weißes Bühnenbild (Wolf Gutjahr) markiert wird. Die Rückwand kann nach hinten geschoben werden und gibt dann Seitentüren frei für Auf- und Abtritte. Faust (Jacques le Roux) betritt die Bühne zunächst über den Orchestergraben. Er ist genauso befrackt wie Mephisto (Alejandro Marco-Burmester), der seine Coolness (und Frauenfeindlichkeit) gelegentlich durch eine Macho-Sonnenbrille markiert. Auch der Chor steht im Einheitsfrack da (Kostüme: Katharina Weissenborn) und symbolisiert damit die kompakte männlich dominierte Gesellschaft. Ihr gehört auch Margarethes um ihr Wohl besorgter Bruder Valentin (Wiard Withold) an, der ihr zum Abschied die Kittelschürze überstülpt. Und letztlich sogar die Kupplerin Marthe Schwertlein (Kate Allen, ebenfalls im Frack).

Im zweiten Teil stehen Margarethe im weißen Büßerhemd ebenso gekleidete schwangere Frauen zur Seite, auch Transparente werden hochgehoben, wovon sich der coole Mephisto freilich unbeeindruckt zeigt. Das weiße Hemd trägt, das irritiert zunächst etwas, auch der Margarethe wahrhaft liebende Siebel (Natalia Boeva) als Zeichen seiner Empathie. Doch auch er erreicht sie nicht, Margarethe legt das Hemd ab, zieht sich auf offener Bühne um und steht in Jeans und Pulli da. Nicht unvermittelt, denn die Verbindung zur Gegenwart wird bereits mit einem schwarz-weiß Film (Video: Jana Schatz) hergestellt, der in entscheidenden Momenten der Handlung im Hintergrund läuft.

Wie ein Werbeclip zeigt er die Parallelgeschichte zweier junger Menschen, von „Faust“ und „Margarethe“, in der Augsburger Alltagskulisse: Ein Treffen im Café, die junge Frau beim Einkaufen, dann in ihrer Single-Wohnung, später auf dem Weg zur Entbindung, die sehr realistisch mit dokumentiert wird.  Diese Parallelhandlung zeigt unaufdringlich die emanzipatorische Entwicklung der Gesellschaft, die sich schon zwischen Goethes mittelalterlichem Stoff und dem 19. Jahrhundert Gounods auf den Weg gemacht hatte.

Dass Mephisto trotz allem (immer schon) versucht, dem entgegen zu wirken, zeigt an der Stelle der Walpurgisnacht eine pantomimische Schlüsselszene mit zwei Kindern, durch Kopfmasken und Kleidung deutlich als männlich und weiblich erkennbar , die von Mephisto in ihrem klischeehaften Rollenverhalten „dirigiert“ werden. Das Fazit der Walpurgisnacht sozusagen als Puppenspiel. „Das ewig Weibliche zieht uns hinan“ – der Faustsche Merk-Satz wird zum Schluss nochmal an die Wand projiziiert.

Zum gelungenen Gesamtpaket der Inszenierung gehört nicht zuletzt das musikalische Zusammenspiel der durchwegs  hervorragenden Solistinnen und Solisten mit dem Chor und dem von Domonkos Héja geleiteten fulminant romantisch klingenden Orchester. Von allen Mitwirkenden auf der Bühne wird in dieser Inszenierung überdurchschnittlicher darstellerischer Einsatz gefordert, besonders jedoch von Jihyun Cecilia Lee, die neben der scheinbar mühelosen gesanglichen Virtuosität durchgehend auch die psychologisch glaubhafte emanzipatorische Wandlung ihrer Figur vermittelt. Das Premierenpublikum spart nicht mit Bravo-Rufen und honoriert den erhebenden und in jeder Hinsicht stimmigen Opernabend mit begeistertem Applaus. 

gesamten Beitrag lesen »



Moskau, Tscherjomuschki: Der Versuch von Satire in der Sowjetunion

Eine Operette von Schostakowitsch? Eine musikalische Satire in finsteren Sowjetzeiten? Die jüngste Premiere des Musiktheaters im Martinipark bricht mit so mancher Erwartungshaltung. Von Halrun Reinholz Die Augsburger Philharmoniker unter GMD Domonkos Héja haben in den letzten Spielzeiten einige Male Werke von Schostakowitsch gespielt und dabei viele Facetten dieses begabten und innovativen Komponisten gezeigt, dem die […]

gesamten Beitrag lesen »



Stil-Synthesen: Jupiter und Herzog Blaubart beim großartigen Sinfoniekonzert der Augsburger Philharmoniker

Es ist nicht immer leicht, dem Programm der Sinfoniekonzerte einen „Titel“ für Plakat und Programmheft zu geben – so manche interessante Wortschöpfung konnten die Konzertbesucher im Laufe der Zeit schon erleben. Beim November-Konzert jetzt also: „Stil-Synthesen“. Gemeint ist wohl der Spannungsbogen zwischen zwei Werken, die überhaupt nichts Gemeinsames haben: Mozarts sehr bekannte und oft gehörte […]

gesamten Beitrag lesen »



Der Tanz der Orgel

Prof. Karl Maureen entlockt der Steinmeier-Orgel in der Kongresshalle ungewöhnliche Klangnuancen Von Halrun Reinholz Unter dem Slogan „Orgelmusik – tänzerisch inspiriert“ wurde ein Solo-Orgelkonzert im Kongress am Park angekündigt. Der emeritierte Orgel-Professor und Leiter des Fachbereichs Kirchenmusik an der Hochschule für Musik Augsburg hatte sich als Gestalter dieses Abends vorgenommen, ganz andere Facetten der Königin […]

gesamten Beitrag lesen »



Dimensions of Dance – oder die Vielfalt des Tanzes an drei Beispielen

Sie tanzen wieder, live und vor Publikum. Und auch die Zuschauer sind wieder da, wenn auch etwas verhalten und vorsichtig. Waren die Ballettabende vor der Corona-Pandemie immer frühzeitig und restlos ausverkauft, lässt sich jetzt auch spontan noch die eine oder andere Karte ergattern. Noch. Von Halrun Reinholz Denn wenn es sich erst herumgesprochen hat, mit […]

gesamten Beitrag lesen »



„Ich fürchte seine Güte“: Mozarts Oper „Clemenza di Tito“ am Staatstheater Augsburg

Zeitgleich mit der häufig gespielten „Zauberflöte“ komponierte Mozart auch die opera seria „La Clemenza di Tito“. Ein Kammerspiel fast, das dramaturgisch an sich wenig Potenzial zu bieten scheint. Die Oper entstand aus Anlass der Krönung Kaiser Leopolds II. und war deshalb nicht als Konfrontation mit herrschenden Zuständen konzipiert.  Von Halrun Reinholz Und doch geht es […]

gesamten Beitrag lesen »



All That Jazz: Das Musical „Chicago“ auf der Freilichtbühne

Nach der langen Abstinenz mutet es fast surreal an, zwischen lebendigen Menschen auf den Rängen der Freilichtbühne zu sitzen. Klar, in gebührendem Abstand und mit freien Reihen dazwischen, die Maske jederzeit griffbereit. Man hat sich an einiges gewöhnt in den letzten 18 Monaten. Und dieser fast normal wirkende Theaterabend lässt hoffen, dass zumindest der Sommer […]

gesamten Beitrag lesen »



Augsburger Philharmoniker: Neustart im Kongress am Park mit Wunschkonzert und Evgeny Konnov

Viel Gelegenheit hatte das Augsburger Publikum in dieser Spielzeit nicht in seiner Eigenschaft als „artist in residence“ zu sehen und zu hören. Vielversprechend hatte es angefangen im September, als er sich der coronabedingt dezimierten Zuhörerschaft mit Tschaikowskys erstem Klavierkonzert vorstellen durfte. Von Halrun Reinholz Nach langer Pause konnte nun zum Abschluss der Spielzeit wieder ein Konzert […]

gesamten Beitrag lesen »



A Nod to Bob: Zum 80. Geburtstag von Bob Dylan

Weltweite Würdigungen, zahlreiche Neuerscheinungen und unzählige Podcasts und Radio-Features liefern die Begleitmusik zum 80. Geburtstag des Songpoeten und Nobelpreisträgers aus Minnesota. Sie sind Ausdruck für die ungebrochene Faszinationskraft dieses Ausnahmekünstlers auf der Schlussetappe seiner Neverending Tour. Von Udo Legner Schenkt man den Erkenntnissen der zahlreichen Dylan Experten Glauben, so hatten Herkunft und Elternhaus maßgeblichen Einfluss […]

gesamten Beitrag lesen »



Ab 22. März mit flexibler Zuschauerobergrenze: Öffnung von Theatern, Konzert- und Opernhäusern

Corona-bedingt eingeschränkte Öffnungen von Theatern, Konzert- und Opernhäusern stehen vor der Tür – ab 22. März mit flexibler Zuschauerobergrenze. Die maximal Zuschauerzahl soll abhängig von örtlichen Gegebenheiten von Ort zu Ort flexibel gestaltet werden. Über dem Inzidenzwert von 50 braucht es ein negatives Testergebnis als Eintrittsvoraussetzung. Dies gab Kunstminister Bernd Sibler heute bekannt. „Theater, Konzert- und Opernhäuser […]

gesamten Beitrag lesen »