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Dienstag, 01.10.2024 - Jahrgang 16 - www.daz-augsburg.de

„Faust – Margarethe“: Gretchen mit Stinkefinger

Stimmig-feministische Operninszenierung am Staatstheater Augsburg

von Halrun Reinholz

Foto © Jan-Pieter Fuhr

Eigentlich hält sich Gounod beim Aufbau seiner Oper „Faust“ ziemlich genau an die Vorlage von Goethe. Und doch steht bei ihm der Fokus mehr auf der Figur des Gretchen, bei ihm Marguerite oder Margarethe. Diesen Ansatz greift Jochen Biganzoli bei seiner Augsburger Inszenierung zeitgemäß und einfühlsam auf, verzichtet jedoch trotz naheliegender Anspielungen auf die „Me Too“-Debatte klug auf den plumpen politischen Holzhammer.

Programmatisch ist schon der Doppel-Titel „Faust – Margarethe“, unter dem die Oper im Spielplan firmiert. Auch das Programmheft unterstreicht diese Zweiteilung: Bis zur Pause, in der Handlung bis zur Liebesnacht, steht „Faust“ im Blick des Betrachters, danach muss das Programmheft umgedreht werden, nun ist „Margarethe“ dran. Was zunächst wie eine künstlerische Spielerei anmutet, erweist sich im wahrsten Sinn des Wortes als „Wende“ des Fokus. Margarethe wandelt sich vom passiven Püppchen, dem von der befrackten Männerwelt nach Belieben Kittelschürze, Paillettenkleid oder Dirndl übergestreift wird, zur eigenständigen Person, die weiß, was sie will. Sie bringt ihr Kind zur Welt und als der zunächst noch sehnsüchtig erwartete Faust nach der (in der Inszenierung konsequent ausgesparten) Walpurgisnacht wieder auftaucht und sie „befreien“ möchte, zeigt sie ihm den Stinkefinger: Jetzt nicht mehr und schon gar nicht mit dem schmierigen Gesellen an deiner Seite, ist ihre Botschaft.

NEIN, schreibt sie an die Wand, stellt sich auf den Tisch davor und verleiht ihrem Selbstbewusstsein (zuweilen in schrägem Widerspruch zu dem Text ihrer Arie) Ausdruck. Den Weg in die Erlösung findet sie selbst, nicht durch die Gnade der höheren Macht. Eine starke Aussage, die im Publikum ankommt – nicht zuletzt, weil Jihyun Cecilia Lee die Rolle der Margarethe stimmlich und darstellerisch überzeugend ausfüllt.

Doch letztlich überzeugt dieser Opernabend durch das Gesamtpaket. Die Inszenierung steht, wie so vieles, schon lange in den Startlöchern und musste pandemiebedingt verschoben werden. Ein Glück, dass sie nicht komplett in der Versenkung verschwand, es wäre ein Verlust fürs Repertoire gewesen. Ihre Stärke liegt nicht zuletzt in der Einfachheit, die zunächst durch ein sparsames, komplett weißes Bühnenbild (Wolf Gutjahr) markiert wird. Die Rückwand kann nach hinten geschoben werden und gibt dann Seitentüren frei für Auf- und Abtritte. Faust (Jacques le Roux) betritt die Bühne zunächst über den Orchestergraben. Er ist genauso befrackt wie Mephisto (Alejandro Marco-Burmester), der seine Coolness (und Frauenfeindlichkeit) gelegentlich durch eine Macho-Sonnenbrille markiert. Auch der Chor steht im Einheitsfrack da (Kostüme: Katharina Weissenborn) und symbolisiert damit die kompakte männlich dominierte Gesellschaft. Ihr gehört auch Margarethes um ihr Wohl besorgter Bruder Valentin (Wiard Withold) an, der ihr zum Abschied die Kittelschürze überstülpt. Und letztlich sogar die Kupplerin Marthe Schwertlein (Kate Allen, ebenfalls im Frack).

Im zweiten Teil stehen Margarethe im weißen Büßerhemd ebenso gekleidete schwangere Frauen zur Seite, auch Transparente werden hochgehoben, wovon sich der coole Mephisto freilich unbeeindruckt zeigt. Das weiße Hemd trägt, das irritiert zunächst etwas, auch der Margarethe wahrhaft liebende Siebel (Natalia Boeva) als Zeichen seiner Empathie. Doch auch er erreicht sie nicht, Margarethe legt das Hemd ab, zieht sich auf offener Bühne um und steht in Jeans und Pulli da. Nicht unvermittelt, denn die Verbindung zur Gegenwart wird bereits mit einem schwarz-weiß Film (Video: Jana Schatz) hergestellt, der in entscheidenden Momenten der Handlung im Hintergrund läuft.

Wie ein Werbeclip zeigt er die Parallelgeschichte zweier junger Menschen, von „Faust“ und „Margarethe“, in der Augsburger Alltagskulisse: Ein Treffen im Café, die junge Frau beim Einkaufen, dann in ihrer Single-Wohnung, später auf dem Weg zur Entbindung, die sehr realistisch mit dokumentiert wird.  Diese Parallelhandlung zeigt unaufdringlich die emanzipatorische Entwicklung der Gesellschaft, die sich schon zwischen Goethes mittelalterlichem Stoff und dem 19. Jahrhundert Gounods auf den Weg gemacht hatte.

Dass Mephisto trotz allem (immer schon) versucht, dem entgegen zu wirken, zeigt an der Stelle der Walpurgisnacht eine pantomimische Schlüsselszene mit zwei Kindern, durch Kopfmasken und Kleidung deutlich als männlich und weiblich erkennbar , die von Mephisto in ihrem klischeehaften Rollenverhalten „dirigiert“ werden. Das Fazit der Walpurgisnacht sozusagen als Puppenspiel. „Das ewig Weibliche zieht uns hinan“ – der Faustsche Merk-Satz wird zum Schluss nochmal an die Wand projiziiert.

Zum gelungenen Gesamtpaket der Inszenierung gehört nicht zuletzt das musikalische Zusammenspiel der durchwegs  hervorragenden Solistinnen und Solisten mit dem Chor und dem von Domonkos Héja geleiteten fulminant romantisch klingenden Orchester. Von allen Mitwirkenden auf der Bühne wird in dieser Inszenierung überdurchschnittlicher darstellerischer Einsatz gefordert, besonders jedoch von Jihyun Cecilia Lee, die neben der scheinbar mühelosen gesanglichen Virtuosität durchgehend auch die psychologisch glaubhafte emanzipatorische Wandlung ihrer Figur vermittelt. Das Premierenpublikum spart nicht mit Bravo-Rufen und honoriert den erhebenden und in jeder Hinsicht stimmigen Opernabend mit begeistertem Applaus. 



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