Mord im Orientexpress: Fake und Täuschung auf hohem Schauspiel-Niveau
Eine Premiere, die offenbar mit großer Spannung erwartet wurde, denn der große Saal im Martinipark war restlos ausverkauft. Kaum ein Krimi von Agatha Christie hat es zu so einer Berühmtheit gebracht, wie „Der Mord im Orient Express“, wo der schrullige Hercule Poirot mit Hilfe seiner grauen Zellen alle Täuschungsmanöver der potenziellen und reellen Mörder durchschaut. Zum Schlussapplaus kam dann eine besondere Ehrung des Hauptdarstellers Klaus Müller.
Von Halrun Reinholz
Sebastian Müller-Stahl, Mirjana Milosavljevic, Klaus Müller
Eine Herausforderung ist es schon, einen so bekannten Krimi auf die Bühne zu bringen. Nicht zuletzt auch, weil es die herausragende britische Verfilmung von Sidney Lumet aus dem Jahr 1974 gibt, mit einem sagenhaften Star-Aufgebot bei den Darstellern um Albert Finney als Hercule Poirot. Da ist es vielleicht gar nicht verkehrt, wenn ein Regisseur wie Andreas Merz von allem unbeleckt ist, was den Kult-Roman und den Film betrifft. Er hat beides nach eigenem Bekunden gar nicht gekannt, bevor er sich an die Regie-Arbeit im Staatstheater machte.
Das Szenario ist so, wie man es bei Agatha Christie gewohnt ist: ein geschlossener Raum, eine überschaubare Anzahl Personen, ein Mord. Nur Hercule Poirot, der Detektiv, war nicht vorgesehen. Er wurde von seinem Freund „Monsieur Bouc“, Geschäftsführer der Eisenbahngesellschaft, die den Orient-Express betreibt, im letzten Moment in den Zug eingeschleust. Dass der Zug im Schnee stecken bleibt und den Mord kein Außenstehender begangen haben kann, ist typisch für Agatha Christie. Und auch, dass jede und jeder im Verdächtigenkreis ein Motiv hat und offenbar nicht die Wahrheit sagt. Und schließlich gab es gleich am Anfang einen Hinweis für die Zuschauer: Ein Filmausschnitt von der Entführung der kleinen Daisy Armstrong vier Jahre zuvor.
Hercule Poirot (Klaus Müller) und Monsieur Bouc (Julius Kuhn) – Fotos: Jan-Pieter Fuhr
Eine Steilvorlage für das Schauspielensemble des Augsburger Staatstheaters. Jürgen Lier verwandelt die Bühne im Martinipark mit Hilfe der Drehbühne in einen Luxuszug der Vorkriegszeit, Veronika Blefferts Kostüme fügen sich entsprechend ein in den Zeitgeist: Hüte, Roben, Schleier, Knickerbocker – eine Freude für Fetischisten der standesbewussten Robe. Vor den Augen von Poirot, vorgestellt von dem neben ihm stehenden Bouc, steigen die Reisenden nach und nach in den Zug: Da ist die uralte russische Prinzessin Dragomiroff ganz in schwarz (souverän dargestellt von der gar nicht alten Katja Sieder). In ihrer Begleitung die verhuschte Schwedin Greta Olsson (Katharina Hintzen). Da ist die auffällige Mrs. Hubbard, die jeden mit ihrem Gelaber nervt (grandios gespielt von Natalie Hünig), die rätselhafte ungarische Gräfin Andrenyi, die praktischerweise Ärztin ist und die pathologische Untersuchung der Leiche vornehmen kann (mit geheimnisvollem Timbre dargestellt von Mehdi Salim). Dass Mary Debenham (Mirjana Milosavlevic) und Oberst Arbuthnot (Sebastian Müller-Stahl) sich besser kennen, als es den Anschein hat, weiß Poirot schon seit er sie im Restaurant in Istanbul belauscht hat. Sie sprachen davon, etwas „hinter sich bringen“ zu müssen. Und da ist noch der aufdringlich-joviale Samuel Ratchett, dem Sebastian Müller-Stahl in dieser kurzen Rolle Gestalt gibt, denn er ist das Mordopfer. Begleitet wird er von seinem Sekretär Hector McQueen (Jenny Langner). Der blau uniformierte Schaffner Michel (Gerald Fiedler), weist den Passagieren diskret ihre Kabinen zu. Als der Mord passiert, kommt die große Stunde von Hercule Poirot – eine Paraderolle für Publikumsliebling Klaus Müller, der mit herrlich französischem Akzent seine Schrullen vorführt, ohne jedoch in Slapstick zu verfallen. Als Folie für die Exzentrik des großen Meisters dient der beflissen-naive und um den Ruf der Eisenbahngesellschaft („mein Vater bringt mich um“) besorgte Monsieur Bouc, hervorragend verkörpert von Julius Kuhn. Als kleinen Gag lässt der Regisseur Hercule Poirot noch eine „Kriminalassistentin“ holen, die sich zufällig „in einem anderen Wagen“ des Zuges befindet. Die kleine Dame, die mit einer großen Tasche auftritt, weckt Assoziationen mit Miss Marple, der anderen großen Detektivgestalt bei Agatha Christie. Aber gewollt ist sicher auch der Bezug auf „Alberich“, die (kleinwüchsige) Assistentin von Professor Börne im Münster-Tatort, die dem Exzentriker dort mit schnoddrigem Selbstbewusstsein die praktische Labor-Arbeit abnimmt (hier dargestellt von der Statistin Stefanie von Mende).
Passend zum Ambiente des Luxuszugs aus vergangenen Zeiten agiert nach dem Konzept des kreativen Theatermusikers Stefan Leibold die prominent besetzte Band (Tilman Herpichböhm, Jonas Horche, Jan Kiesewetter, Tom Jahn) wandelbar zwischen Zeiten und Musikstilen. Vielfach eingesetzt werden auch Videos in schwarz-weiß, die den Zuschauern Details näherbringen oder Rückblenden ermöglichen. Dass der Regisseur aber mehr als nur einen Krimi auf die Bühne bringen will, zeigen im Laufe des Abends einige Gesangseinlagen – eine jiddische von Natalie Hünig, eine serbokroatische von Mirjana Mirosavljevic und eine schwedische von Katharina Hintzen, die auf die Vielfalt dieser Welt verweisen. Und angesichts der Frage nach Recht und Gerechtigkeit, die sich zum Schluss stellt und mit der das Weltbild des sonst so selbstgewissen und rechtsgläubigen Poirot in seinen Grundfesten erschüttert wird, wird vollends klar, dass Agatha Christie eine zeitlose und immer wieder aktuelle Vorlage geschaffen hat. Die Zugfahrt im Roman findet im Jahr 1934 statt. Natalie Hünig als Helen Hubbard formuliert die Schlussworte: „Die Welt steht am Abgrund. Die Messer sind gewetzt. Niemand wird sich für unser Recht einsetzen, wenn wir es nicht selbst tun.“ Was für ein Appell ein paar Tage vor der Bundestagswahl!
Klaus Müller wird Kammerschauspieler
Der begeisterte Schlussapplaus des Premierenpublikums wurde unterbrochen, als Intendant Bücker gemeinsam mit der Oberbürgermeisterin auf der Bühne auftauchte. Schon vorher war – selbst für eine Premiere – auffällig viel Stadtprominenz im Saal aufgefallen und nun wurde der Grund offenbar: Klaus Müller, seit 1996 Ensemblemitglied des Augsburger Theaters, wurde offiziell zum „Kammerschauspieler“ ernannt. Schon im Programmheft sind seinem Namen die beiden Buchstaben „KS“ vorangestellt. In seiner kurzen Dankesrede zeigte er seine Freude darüber. Das sei für ihn, der seine Schauspielausbildung in Wien erhalten habe, eine große Ehre, die er sehr zu schätzen wisse. Der Titel „Kammerschauspieler“ wurde nach dem Vorbild Österreichs in Bayern eingeführt, er wird von der Bayerischen Staatsregierung verliehen und wurde dem Geehrten in diesem Fall von Oberbürgermeisterin Weber überreicht. Nach dem Umweg über ein Theologiestudium hat sich Klaus Müller für die Schauspielerei entschieden. In Augsburg ist er mittlerweile ein geschätztes „Urgestein“ mit einem breiten Repertoire. Im Kollegenkreis hat er bei Premierengeschenken auch immer wieder sein Talent für Karikaturen offenbart, mittlerweile warten die Leser der Augsburger Allgemeinen jede Woche gespannt auf seine karikaturistische Sicht auf das Stadtgeschehen. Die Rolle als Meisterdetektiv Hercule Poirot ist sicher ein Highlight seiner Karriere.