Chatkontrolle: Europa steht am Scheideweg der digitalen Privatsphäre
Mit neuem Schwung ist ein besonders umstrittenes Vorhaben auf die EU-Agenda zurückgekehrt: die sogenannte Chatkontrolle. Offiziell soll der Gesetzentwurf den Kampf gegen Darstellungen von Kindesmissbrauch stärken, doch die vorgeschlagenen Mittel könnten digitale Grundrechte in Europa unwiderruflich verändern.
Von Bruno Stubenrauch
Unter der am 1. Juli von Dänemark übernommenen Ratspräsidentschaft wird die seit 2022 andauernde, festgefahrene Debatte um eine entsprechende Verordnung (DAZ berichtete) wieder mit Hochdruck geführt. Im Kern sieht der Plan der EU vor, private Kommunikation über das sogenannte „Client-Side-Scanning“ direkt auf den Geräten der Nutzer zu überwachen.
Tabubruch mit gravierenden Folgen
Das würde bedeuten, dass jede Nachricht und jede Datei durchleuchtet wird, bevor sie durch die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung geschützt wird. Damit würde diese fundamentale Sicherheitstechnologie, die das Kommunikationsgeheimnis schützt, de facto ausgehebelt – ein beispielloser Tabubruch.
Datenschützer und Bürgerrechtler warnen eindringlich vor den Folgen. Sie bezeichnen die geplante Maßnahme als Einstieg in eine anlasslose Massenüberwachung und sehen darin einen Verstoß gegen das Recht auf Privatsphäre. Die gesamte Bevölkerung würde unter Generalverdacht gestellt.
Massives Risiko falsch positiver Treffer
Bald falsch positiv? Nektarine
Unschuldige Bürger könnten durch fehlerhafte Algorithmen auch tatsächlich unter Verdacht geraten. Wird eine Datei irrtümlich z.B. als pornografisches Material eingestuft, meldet die Software dies automatisch an Behörden – mit Konsequenzen wie Hausdurchsuchungen, Beschlagnahme von Handys und Vernehmungen. Die Betroffenen erfahren davon erst, wenn die Polizei vor der Tür steht, ohne jede Möglichkeit einer eigenen Vorabprüfung. Das untergräbt fundamentale rechtsstaatliche Prinzipien.
„Opt-in“ als falsche Wahl?
Auch Messengerdienste wie Signal, Threema und WhatsApp positionieren sich vehement gegen die Pläne. Signal und Threema haben sogar angekündigt, den europäischen Markt zu verlassen, sollte die Verordnung in Kraft treten.
Beliebte Handy-Messenger
WhatsApp warnt vor den weitreichenden Risiken und betont, dass Verschlüsselung und Chatkontrolle unvereinbar sind. In der Diskussion ist ein „Opt-in“-Modell: Wer weiterhin Bilder, Videos und Links versenden möchte, müsste der vollständigen Überwachung seiner Chats zustimmen. Wer hingegen seine Privatsphäre schützen will, wäre auf reine Textnachrichten beschränkt, für Kritiker ein erzwungener Deal: entweder Vertraulichkeit oder Funktionalität. Sie sehen darin eine Art Erpressung, die WhatsApp-Nutzer dazu drängen soll, ihr Recht auf vertrauliche Kommunikation aufzugeben.
Ringen um Stimmen im EU-Rat
Für ein Inkrafttreten der Chatkontrolle ist eine sogenannte qualifizierte Mehrheit nötig – mindestens 15 von 27 Mitgliedsstaaten, die zugleich 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren. Dänemark behauptet, bereits 19 Staaten hinter sich zu haben, darunter Frankreich und mehrere süd- und osteuropäische Länder, die zuvor skeptisch waren. Deutschland gilt inzwischen nicht mehr als klar ablehnend, sondern nur noch als „unentschlossen“. Eine Enthaltung Berlins könnte die Tür für eine Mehrheit öffnen.
Dem gegenüber stehen datenschutzstarke Staaten wie Österreich, die Niederlande und Irland, die die Pläne als gravierenden Verstoß gegen Grundrechte betrachten.
Es könnte sehr schnell gehen
Bis Mitte September müssen die Mitgliedsstaaten ihre Positionen festgelegt haben. Die entscheidende Abstimmung im Rat soll bereits am 14. Oktober 2025 stattfinden. Käme die Chatkontrolle, würde sie als EU-Verordnung unmittelbar in allen Mitgliedsstaaten gelten, ohne dass sie noch national in Gesetze umgesetzt werden muss.