Der Traum vom erfolgreichen Bluff wurde in Augsburg immer geträumt
Kommentar von Siegfried Zagler

König der Bluffer: D´Stoinerne Ma Foto: DAZ
Augsburg ist eine erstaunliche Stadt. Nicht ganz so wie Venedig, wo hinter jeder Ecke etwas Erstaunliches zu finden ist, aber immerhin: In Augsburg wurde der Kapitalismus erfunden (Fugger), in Augsburg wurde die ästhetische Kritik am Kapitalismus erfunden (Brecht) und in Augsburg wurde der Verbrennungsmotor und die Musik revolutioniert (Diesel und Mozart). Und in Augsburg wurde neben der Wasserwirtschaft (Martin Kluger) der Bluff aus der Not heraus erfunden ( „d´ Stoinerne Ma“).
Zur „Stadt der Chancen“ (OB Eva Weber) gehören also nicht nur die Nörgler, wie Brecht und Diesel, sondern auch grandiose Bluffer, wie Jakob Fugger, der Reiche oder Konrad Hacker, der Bäcker, besser: der König der Bluffer. Der Adelsstand der Bluffer hat sich in Augsburgs DNA besser gehalten als die Stadtmauer und das Andenken an die Römer.
Ein Bluff, der funktioniert, wird von der Nachwelt als raffinierte Tat gefeiert, da man damit Interessen und Absichten durchsetzen konnte, ohne die Mittel oder die Fähigkeiten dazu gehabt zu haben. Ein Bluff dagegen, der nicht funktioniert, entlarvt den Bluffer als Hochstapler.
In Augsburg wird man Baureferent Gerd Merkle weder ein Denkmal setzen, noch einen Platz nach ihm benennen, wenn er im Frühjahr 2023 abdankt. Es sei denn, man nennt die heutige Fuggerstraße in „Straße der großen Trickser und Bluffer“ um. Darin bekäme er selbstverständlich neben Konrad Hacker und einigen Mitgliedern der hiesigen Fugger-Familie einen Ehrenplatz, den man ihm später streitig machen könnte, da ihn die Forschung möglicherweise als Hochstapler entlarven würde.
Man muss sich das „Goldene Zeitalter“ in Augsburg als Horror-Szenario vorstellen: Von der Pest entstellte Kinderleichen lagen auf den Straßen neben ihren verhungerten Eltern. In eiskalten Wintern wurde alles verheizt, was brannte, alles gegessen, was essbar erschien, Kannibalismus und Wahn beherrschten die einst reiche und stolze Reichsstadt – und es wurde gestorben: Die Bevölkerungszahl sank innerhalb kurzer Zeit von 49.000 auf 19.000, schließlich wurde 1635 die Stadt nach langen Blockaden, die den Horror verursachten, aufgegeben und an die bayerische Armee übergeben. Es gab keinen Abzug der Belagerungstruppen, deren Strategie voll aufging.
Doch im historischen Bewusstsein der Augsburger Stadtgesellschaft verfing sich, trotz dieser größten Katastrophe der Stadtgeschichte, die Legende von der Unverdrossenheit und die Idee des „All in“, die sich im Gedenken an den Steinernen Mann spiegelt, stärker als die Realität, die diese Legende erschuf. So wie sich die geschlagenen und gedemütigten Augsburger im 17. Jahrhundert den Bäcker Konrad Hacker zusammen fantasierten, der im 30-jährigen Krieg während der Belagerung der Stadt aus Sägemehl und Kleie einen riesigen Brotlaib geformt haben soll, den er von der Stadtmauer aus den Belagerern zugeworfen habe, sodass sie wohl denken mussten, dass sie weder die Stadt nehmen noch aushungern können – und abzogen, so versucht Augsburgs Baureferent heute die „eigenen Leute“ wie die „Bayerischen Truppen“ (=Staatsregierung) mit einer ebenfalls frei erfundenen Legende davon zu überzeugen, dass man mit Sägemehl und Kleie (KfW-Bank) ein Staatstheater sanieren, ja ein Theater-Viertel erschaffen kann.
Nach der Informationsshow von Gerd Merkle, Jürgen Enninger und Co. zum Sanierungsstand des Augsburger Staatstheaters darf man in Augsburg davon ausgehen, dass der „große Bluff Theatersanierung“ aufgeflogen ist. Der Bluff der Zocker bestand und besteht darin, dass Kurt Gribl, Eva Weber, Gerd Merkle und die CSU wie die Grünen so tun, als würde sich die Stadt ein Theater leisten können, dessen Sanierung wohl mehr als 400 Millionen Euro verschlingen wird. Geblufft wurden die Augsburger Bürger und die Fördermittelgeber. Der Einsatz liegt auf dem Tisch. Am 23. Juni wird der Stadtrat „All in gehen“ und das Spiel mit der Methode „Augen-zu-und-durch“ verlieren, indem er Bauteil II der Theatersanierung durchwinken wird. „Durchwinken“ deshalb, weil man in Augsburg den Bluff offensichtlich höher schätzt als die gesellschaftliche Realität, die den Bluff benötigt.
Dies haben sich wohl auch die Erben von Jakob Fugger gedacht, als sie – zwar nach 500 Jahren immer noch reich, aber längst nicht mehr reich genug, um gesellschaftlichen Einfluss zu besitzen – mit der Idee des Fugger-Pavillon vorstellig wurden. Die Stadt ließ sie machen und siehe da: Die Stadtgesellschaft und die Augsburger Allgemeine ließen sich zusammen mit Eva Weber, Ursula von der Leyen und Claudia Roth von einer Inszenierung vereinnahmen, wie sie die Welt seit Konrad Hacker nicht mehr gesehen hat. Crowdfunding á la Fugger! Wie gesagt: Von allen erstaunlichen Städten wird Augsburg nur von Venedig übertroffen – und bekanntermaßen ist die Lagunenstadt dem Untergang geweiht.
Artikel vom
12.06.2022
| Autor: sz
Rubrik: Der Kommentar
Die Stadt Augsburg und die Firma Fugger setzen ab Mai ihre großangelegte Kampagne anlässlich des 500-jährigen Bestehens der Fuggerei fort. Zu diesem Zweck wird auf dem Augsburger Rathausplatz derzeit ein begehbarer „Fugger-Pavillon“ errichtet, um für die Vorhaben der Firma Fugger zu werben. Deren neuestes Konzept heißt „Fuggerei der Zukunft“, mit dem man weltweit expandieren will. Doch was ist eine Fuggerei? DAZ-Autor Bernhard Schiller hat sich auf Spurensuche in Literatur, Architektur und Grabkultur begeben. Die Bilanz weicht von den vorherrschenden Lesarten und Legenden erheblich ab.
Von Bernhard Schiller

Stadt feiert Jubiläum der Fuggerei – Bildquelle: Screenshot von Sarah Scheel/Stadt Augsburg
Jakob Fugger, genannt der Reiche, lebte von 1459 bis 1525 in Augsburg und brachte nicht nur das ihm unterstellte Familienunternehmen zu unvorstellbarer Größe, sondern auch sich selbst zu unermesslichem Reichtum und großer Macht. In seinem letzten Lebensjahrzehnt gründete er drei Stiftungen, die bis in die Gegenwart Bestand haben. Zum einen die Prädikaturstiftung an der St. Moritz-Kirche in Augsburg, welche der Familie Fugger auch heute noch das Recht gewährt, den Pfarrer dieser Kirche und damit den katholischen De-facto-Stadtpfarrer zu ernennen. Zum anderen die Stiftungen der Fugger-Kapelle in der St. Anna-Kirche sowie – als bekannteste der drei Einrichtungen – die sogenannte Fuggerei.
Folgt man den gängigen Auffassungen und Veröffentlichungen, so scheint Fuggers Hauptanliegen und damit der Sinn und Zweck dieser Stiftungen ein Handel mit Gott gewesen zu sein, mit dem sich der Bankier und Händler erhoffte, nach seinem Tod dem ewigen Seelenheil näher zu kommen. Derlei Seelgerätstiftungen waren seit dem Mittelalter üblich und stellten nicht nur einen Deal zwischen reichen Menschen und Gott, sondern auch zwischen reichen Menschen und Kirche dar. Am ehesten dürfte dieser Vorgang auf die fuggersche Kapellen-Stiftung in der St. Anna-Kirche zutreffen.
Doch ist hier Skepsis angebracht, spricht die Architektur der Kapelle doch ebenso die Sprache der Verewigung von Ruhm und Macht. Bei der zumeist als „Sozialsiedlung“ bezeichneten Fuggerei muss die Idee der Seelgerätstiftung aus ähnlichen Gründen mit mindestens denselben Zweifeln hinterfragt werden. Dies kann aus einer gegenwärtigen Betrachtungsweise geschehen, die nicht vollständig ausschließt, dass Jakob Fugger aus Furcht sowohl um sein jenseitiges als auch um sein diesseitiges Seelenheil handelte.
Größenwahn – Im Mausoleum der Fugger
Zwei antike Krieger blicken ehrfürchtig nach oben. Sie tragen aufwändiges Gewand, Panzer, Helme, Waffen. Sie sind Teil der herrschenden Kaste und ihr verlängerter Arm. Im Gesichtsausdruck nicht sonderlich stolz, eher devot. Sie wissen, wer ihr Herr ist. Sie heben sein Wappen empor. Zwischen den Kriegern sitzen zwei Menschen in unglücklicher Lage. Entblößt, gefesselt, wehrlos. Die Hände hat er ihnen auf den Rücken binden lassen. Den Augen der Gefesselten begegnen wir nicht. Das Profil des Mannes auf der rechten Seite ist teilweise hinter dem Rock des Legionärs verborgen. Der Oberkörper zeigt hinunter zum Erdboden, wo die Füße des Gefangenen von einer Schlange gefesselt werden; Vielleicht bewegt er sich auch, windet sich, der Schlange gleich, in den engen Fesseln, wehrt sich gegen die Erniedrigung. Nicht so sein Schicksalsgenosse. Seine Füße stehen frei. Das rechte Bein vorgestreckt, wie im Ansatz zur Flucht. Das linke Bein steht – noch – fest auf dem Boden. Oberkörper und Gesicht sind vom Betrachter abgewandt. Den Blick richtet er auf das Malzeichen desjenigen, der ihm die Freiheit genommen hat.
Wem gehört dieses Zeichen, wem gehören Krieger und Gefangene? Sie gehören Jakob Fugger. Heiliges Idol der sogenannten „Fuggerstadt“. Die morbiden Darstellungen prangen auf seinem Grabmal in der sogenannten Fugger-Kapelle. Die Bezeichnung „Kapelle“ für diese gewaltige Selbstinszenierung aus Marmor und Gold stellt freilich eine ebenso irreführende wie unzulässige Untertreibung dar.

Grabmal in der Fuggerkapelle; Zeichnung: Hans Eduard von Berlepsch-Valendas, aus: A. Butt: Augsburg in der Renaissancezeit, Bamberg 1893, S. 39
Die Fugger-Kapelle ist identisch mit dem kompletten Westchor der Augsburger St. Anna-Kirche und beherrscht den Kirchenbau. Das ist keine Kapelle, sondern ein protziges Mausoleum. An der Rückwand des Mausoleums hängen die Grabmale der Fugger-Brüder. Jeweils eines für die Brüder Ulrich Fugger (1441 – 1510) und Georg Fugger (1453 – 1506), links und rechts eingefasst von den zwei Grabmalen des Patriarchen Jakob selbst. Orgeln füllen den oberen Teil Rückwand des Chors vollständig aus und rahmen ein darüber liegendes Glasfenster. Strahlendarstellungen auf der großen Orgel verlängern die Sonnensymbolik des kreisrunden Fensters ins Rauminnere. Das Glas wird durch ein Kreuz geteilt. Im Zentrum des Kreuzes prangt das Wappen der Fugger von der Lilie und somit dort, wo das göttliche Sonnenlicht in den vermeintlichen Sakralraum einströmt. Das Wappen ist von vier Engelsgestalten umgeben, die sich der Fugger-Sonne zuwenden, wie anbetende Cherubim dem Thron ihres Fürsten. Die imperiale Botschaft ist unverkennbar.
Fugger unterwirft und beherrscht Mensch und Welt
Vom Auftraggeber und seinen Handwerkern in diese vermeintlich gottgleiche Ordnung gebracht, strömen Licht und Klang vom fuggerschen Zentralgestirn aus und nehmen den Kirchenraum in Besitz. Die Bemächtigung wird zementiert durch eine Vielzahl von Familienwappen. An der Decke des Mausoleums sind im Bilde der Muttergottes abermals Kreuz und Liliendarstellungen kombiniert, die sich vierfach in alle Himmelsrichtungen erstrecken. Das Wappen prangt an Wänden, auf Stühlen und als Intarsien im Marmorboden. Der Gesamteindruck lässt kaum eine andere Schlussfolgerung zu: Fugger ist allgegenwärtig. Fugger unterwirft und beherrscht Mensch und Welt. Fugger ist Gott. Die Inschrift auf seinem Grabmal schreibt den Größenwahn dauerhaft fest. Jakob Fugger sei „im Leben mit keinem zu vergleichen“ gewesen und „auch nach dem Tode nicht unter die Sterblichen zu zählen“.
Wie Marketing aus einem Ausbeuter einen Wohltäter macht
Wer ein solches Selbstverständnis besitzt, der bedarf der mageren Gebete einer Handvoll Bedürftiger nicht. Die Fuggerschen Stiftungen selbst haben diese Tatsache erkannt, wenngleich sie einen alternativen Schluss daraus ziehen. Auf einer Infotafel in der Fuggerei steht geschrieben, dass die Bewohner der Siedlung weniger häufig als die Bewohner anderer, zeitgenössischer Armensiedlungen für ihren Stifter hätten beten müssen, weil es Jakob Fugger „nicht nur auf sein Seelenheil angekommen“ wäre. Für die eigene Errettung habe der Frühkapitalist „vielmehr die Kapellen-Stiftung in St. Anna vorgesehen“, der er „umfangreiche Vorschriften zu Messen und Gebeten“ gemacht habe.

„Keine Kapelle, sondern ein protziges Mausoleum“: Fuggerkapelle in der Annakirche Foto © DAZ
Das Mausoleum kostete den Geschäftsmann einen vielfach höheren Preis als den, der für die Errichtung der Fuggerei erforderlich war. Die Erzählung, Jakob Fugger habe die angebliche Armensiedlung „aus Frömmigkeit und hochherziger Freigebigkeit“ gestiftet, dürfte zu den Fuggerlegenden zu rechnen sein, die nicht wahrer werden, wenn man sie auf Infotafeln in Ausstellungen druckt. Auch dann nicht, wenn ein Dreiklang aus Oberbürgermeisterin, Ministerpräsident und Bischof an der 500-jährigen Legendenbildung mitwirkt, wie etwa anlässlich der Jubiläumsfeier im vergangenen Sommer. Die Bild- und Formensprache der sogenannte Fuggerkapelle berichtet von einem Sozialcharakter, der aus dem Zusammenwirken des historischen Zufalls, allerlei Intrigen, banalen Gewalttaten und der frühkapitalistischen Meisterschaft des Fuggerclans einen göttlichen Willen konstruiert.
Fuggerkapelle kostete mehr als die Fuggerei
Das Mausoleum wurde ab dem Jahr 1509 errichtet und in den Jahren nach dem Tod des Jakob Fugger fertiggestellt. Der Bau der Fuggerei erfolgte zwischen 1514 und 1523. Die Konzeptionen der Armensiedlung und der Ruhmeshalle wurden also zeitgleich umgesetzt. Derselbe Jakob Fugger, der seinen Nachruhm mit brachialen Bildern der Erniedrigung zu sichern hoffte, soll aus reinster Güte gegenüber den armen und schwachen Menschen gehandelt haben? Das dynamische Nebeneinander unterschiedlicher Moralitäten in ein und derselben Persönlichkeit ist an und für sich nichts Ungewöhnliches. Die Gestalt des Jakob Fugger jedoch wird seit rund 500 Jahren zum allerfrommsten Herzensmenschen und seine Fuggerei zur mustergültigen Sozialsiedlung verklärt. Diesen Widerspruch gilt es dauerhaft sichtbar zu machen und die historische Wirklichkeit aus dem Griff einer schönfärberischen Geschichtsschreibung zu befreien, die zum Zwecke des Marketings aus einem Ausbeuter einen Wohltäter macht.
Fuggerei: Bereits zu Lebzeiten eine PR-Maßnahme von Jakob Fugger
Das wurde und wird immer wieder versucht. Verschiedene Autoren legten in den vergangenen Jahrzehnten dar, welche Zwecke Jakob Fugger mit dem Bau der Siedlung verfolgte. Die Fuggerei sei eine wohlkalkulierte Maßnahme zur öffentlichen Aufwertung der Firma gewesen, mit der Fugger auf Vorwürfe des Verstoßes gegen das Zinsverbot und der Monopolbildung reagiert habe. Jakob Fugger wurde mit dem Montanhandel reicher und mächtiger und ließ Aufstände der von ihm ausgebeuteten Bergleute konsequent niederschlagen. Er war Geldgeber für den portugiesischen Sklavenhandel und finanzierte Kriege in nah und fern. Auch schreckte er nicht davor zurück, Proteste gegen seine ausbeuterischen Praktiken niederzuschlagen zu lassen und aufständische Bauern verfolgen zu lassen. Der Kaufmann und Bankier betrieb eine knallharte Preispolitik, bildete Syndikate und de facto ein Monopol, das ihn über altes Herkommen und jegliche Anstandsnorm zu stellen schien. Selbst der Augsburger Gelehrte Konrad Peutinger, der für das Haus Fugger Gefälligkeitsgutachten zu dessen Handels- und Geschäftspraktiken verfasste, beanstandete Jakob Fuggers Missachtungen von „lieb und treu mainen“ (Treu und Glauben). Historisch gesicherte Sachverhalte, die in der Fugger-Didaktik an vorderster Stelle berücksichtigt werden sollten.
Win-Win-Win-Situation zwischen Fuggern, Stadt und Kirche
Stattdessen wurde und wird zum Zweck eines dreifachen Win-Win-Win-Geschäftes für Fuggererben, Kirche und Stadtmarketing das Narrativ vom reichen Wohltäter hochgezogen und eine Augsburger Dachmarke geschaffen. Die in der Fuggerei ansässige „Die Fugger GmbH“ vergibt Lizenzrechte auf die Marke Fugger. Wie etwa für den Fugger-Express, der im Regionalverkehr München, Augsburg und Ulm verbindet. Oder eine Schnaps-Linie, die ein bekannter Augsburger Szene-Wirt braut und im Supermarkt bei den Quengel-Regalen sowie in einem sogenannten Pop-up-Store unmittelbar neben der Tourist-Information am Rathausplatz anbietet. In demselben Geschäft werden auch Klamotten eines jugendlichen Augsburger Modeherstellers verkauft, der seine angeblich nachhaltigen Produkte folgendermaßen bewirbt: „Traumhaft gut aussehen und nebenbei noch die Welt retten.“ Ein Slogan wie maßgeschneidert für die Zusammenarbeit mit der Fuggerei-PR der „Friedensstadt Augsburg“.
OB Gribl: Wir sind Fuggerstädter
Im Jahr 2009 beschloss der Augsburger Stadtrat anlässlich des 550. Geburtstages des Jakob Fugger, einen Platz in der Innenstadt in „Fuggerplatz“ umzubenennen. Damit sollten „die Fugger und ihre enorme Bedeutung für die Stadt gewürdigt werden“. 2017 feierte die Stadt Augsburg dann den 650. Jahrestag der Ankunft des Hans Fugger in Augsburg mit einem Festakt im Goldenen Saal des Rathauses „vor mehr als 400 geladenen Gästen aus Politik, Medien, Wirtschaft und Gesellschaft“. Als wäre die Ankunft des Webers Hans Fugger im Jahre 1367 in Augsburg ein messianischer Advent gewesen.
„Wir sind Fuggerstädter“ bekräftigte dementsprechend der damalige Oberbürgermeister Kurt Gribl (CSU) vor den Gästen im Goldenen Saal, als wäre Augsburg keine Gebietskörperschaft, sondern ein Fürstentum. Den vorläufigen Gipfel der Anbiederung erreichen nun die aktuellen Feierlichkeiten zum Bestehen der Fuggerei. Im August 2021 gratulierte die Stadt Augsburg der „Fuggerei zum 500-jährigen Jubiläum“ mit einem über 90 Quadratmeter großen Banner am Verwaltungsgebäude über dem Rathausplatz. Das sei ein „wichtiges und wunderbares Jubiläum für Augsburg als Fugger-, Stifter- und Friedensstadt“, wie die amtierende Oberbürgermeisterin Eva Weber (CSU) im Internetauftritt der Stadt Augsburg verlautbart und damit gleich mehrere Augsburg-Erzählungen zu einer einzigartigen Halluzination verdichtet. Seit fünf Jahrhunderten sei die Fuggerei „ein zukunftsweisendes Modell“, heißt es weiter auf der städtischen Homepage.

Fuggerei: „Die schnurgeraden Gassen und schmucklosen, nackten Häuserzeilen des riesigen Komplexes wirken wie die Gebäude einer Fabrik“ Foto: DAZ
Damit klinkt sich die Stadt Augsburg in das Narrativ der Fuggerschen Stiftungen ein, die behaupten, die Infrastruktur der Fuggerei sei „zukunftsweisend und visionär“. Die Sprechweisen der Firma Fugger und der Oberbürgermeisterin wirken abgestimmt, was möglicherweise an derselben Werbeagentur liegt. Corporate Wording für eine gemeinsame Marketingstrategie.
Alles andere als ein Idyll
„Bis heute“ spüre man „eine angenehm geordnete und idyllische Atmosphäre“, die durch die „geradlinige Anordnung von Häusern, Wegen und Plätzen“ hergestellt würde, behaupten die Fuggerschen Stiftungen über die Fuggerei. Gibt man die Begriffe Idylle, Idyll und idyllisch bei der Google-Bildersuche ein, erhält man als Ergebnis alles nur erdenklich Hügelige, Runde, Gebogene, Kurvenreiche, Geschlungene, Natürliche und Weite dieser Welt. Aber kein einziges Bild, das einer „geradlinigen Anordnung“, die noch dazu von Mauern umgeben ist, auch nur nahekäme.
Von der heutigen, scheinbaren Postkartenidylle der Siedlung war im 16. Jahrhundert noch nicht allzu viel vorhanden. Die ockerfarbene, weinumrankte, mit Brunnen und Bänken ausgestattete, weltweit vermarktete Touristenattraktion stammt aus späteren Jahrhunderten und kam in Jakob Fuggers Plänen nicht vor. Das Sprachdesign der Fuggerschen Stiftungen stellt jedoch nicht nur billiges Framing dar, es schafft vor allem alternative Fakten ohne historische Grundlage. In der von Jakob Fugger angelegten Siedlung gab es keine öffentlichen Plätze. Und zwar absichtlich nicht. Die ursprüngliche Infrastruktur der Fuggerei war darauf ausgelegt, die Bewohner von Müßiggang, Eigensinn und verdächtiger Zusammenrottung ab- sowie zur Arbeit anzuhalten und wies deshalb (im Gegensatz zu damaligen Armenhäusern) keine öffentlichen Plätze für Gemeinschaftsbildung und Erholung auf.
Konzept der Vereinzelung
Das Konzept zielte bewusst auf Vereinzelung ab. Die Bewohner wurden auf ihre Häuser verwiesen, wo sie fromm, fleißig und zu rechter Stunde im Bett zu sein hatten. Das gilt sogar heute noch. Nächtliche Zuspätkommer müssen an der Pforte eine Geldbuße bezahlen. Die mittlere Gasse der Fuggerei wird heute wie damals als „Herrengasse“ bezeichnet. Dort stehen die Verwaltungsgebäude, von dort aus wird das Geschehen in der Anstalt observiert. Im Stiftungsbrief von 1521 heißt es wörtlich, der in der Herrengasse ansässige Pfleger solle „zusehen“, dass in der Fuggerei nichts Unehrenhaftes geschehe. Erwünscht war die Anpassung an gewisse Verhaltensnormen, für die eines sicher gilt: Sie bestanden nicht zum Nachteil Jakobs des Reichen.
Für die Interpretation des Grabmals eröffnet diese Tatsache eine weitere Möglichkeit: Die zwei Gefesselten sind die vom Handelsfürsten disziplinierten Armen und stehen repräsentativ für eine „Fuggerei“, über der das Lilienwappen herrscht.
Jakob Fuggers Arbeitersiedlung kann als beispiellos und „modern“ also vor allem deshalb bewertet werden, weil sie der disziplinarischen Bauweise späterer Jahrhunderte vorausgriff. Wie ein Raumschiff erscheint der Neubau der Fuggerei auf dem Stadtplan des Augsburger Goldschmieds Georg Seld aus dem Jahr 1521. Die schnurgeraden Gassen und schmucklosen, nackten Häuserzeilen des riesigen Komplexes wirken wie die Gebäude einer Fabrik. Aus der Zukunft in die Arbeitervorstadt der Renaissance teleportiert, nehmen sie Funktionalismus und Rationalisierung der Architektur späterer Jahrhunderte vorweg.

Arbeitervorstadt der Renaissance: Augsburg im Jahr 1521, Stadtplan des Georg Seld – Quelle: Historisches Lexikon Bayern
Weshalb landete dieses Raumschiff am Anfang des 16. Jahrhunderts ausgerechnet zwischen Lech und Wertach? Zur Einordnung dieses Ereignisses genügen einige Kenntnisse über den Zusammenhang zwischen den systemischen Gegebenheiten der Epoche und jener zeitgeschichtlichen Figur, die am meisten von diesen Umständen profitierte.
Götze der neuen Zeit
Jakob Fugger war nicht nur der reichste und mithin auch einer der mächtigsten Männer seiner Zeit. Angeblich war er auch zutiefst verwurzelt im katholischen Glauben. Zumindest der Legende nach, die andauernd und vielerorts wiederholt wird: „Jakob Fugger war tiefgläubig und blieb bei der alten katholischen Kirche.“ So die Fuggerschen Stiftungen auf ihrer Homepage. „Tiefgläubig und der katholischen Kirche treu“ sei Jakob Fugger gewesen. So der Augsburger Bischof Bertram Maier im gleichen, vermutlich abgestimmten, Wortlaut beim Festgottesdienst zum Fuggerei-Jubiläum im vergangenen August. Tatsächlich stand Jakob Fugger in engster Verbindung mit der römischen Kirche. Wirtschaftlich und machtpolitisch. Sein Handels- und Geschäftsgebaren lässt indessen keine Rückschlüsse auf eine besondere Treue zu zentralen christlichen Inhalten und Geboten zu. Da das auch einigen seiner Zeitgenossen sehr klar war, liegt es auf der Hand, dass Jakob Fugger auch im Interesse der Firma einen gewissen Druck hatte, Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben. Die grassierende Armut in seiner Stadt bot ein willkommenes Betätigungsfeld, um Großherzigkeit zu demonstrieren, ohne dabei die sozialen Verhältnisse antasten zu müssen. Eine auch heute noch erfolgreiche Strategie.
Renaissance: Kein Goldenes Zeitalter, kein Goldenes Augsburg, sondern bittere Armut
Das ausgehende 15. und das frühe 16. Jahrhundert waren (nicht nur in Augsburg) geprägt von Bevölkerungswachstum, Preissteigerungen (insbesondere bei den Lebensmitteln) und gewaltiger Not. Zur Armut nennt das Historische Lexikon Bayern konkrete Zahlen: Im Jahr 1492 lagen in Augsburg „gut 80 Prozent des Gesamtvermögens in Händen von 5 Prozent der Bürger“. Diese Kluft wurde immer breiter und die immense Armut des größten Teils der Bevölkerung geriet zunehmend zum sozialen Sprengstoff in der Reichsstadt. In Verleugnung dieser Tatsache ist vielfach die Rede vom „Goldenen Augsburg“ der Renaissance. Das Staatstheater Augsburg sprach anlässlich seines propagandistischen Fuggermusicals „Herz aus Gold“ sogar von der „glorreichen Vergangenheit“ einer „blühenden Metropole“. Tatsächlich war die wirtschaftliche Entwicklung in der Freien Reichsstadt des 15. und 16. Jahrhunderts sprichwörtlich golden nur für die exklusive Gesellschaft weniger, gut vernetzter Familien, die in ihren Stadtpalästen im Überfluss schwelgten, während die Verelendung des Großteils der Bevölkerung enorm zunahm und unter den Ärmsten und Hungernden vor allem stinkende und teuflisch juckende Hautausschläge blühten.

Fugger-Musical des Augsburger Staatstheaters: Im Juli 22 gibt es die Wiederaufnahme
Zwischen den Jahren 1400 und 1500 hatte sich die Zahl der in Augsburg lebenden Menschen verdreifacht. Aus den Gemeinden ringsum zogen die Menschen in der Hoffnung auf ein besseres Auskommen in die Stadt, angezogen von den Verdienstmöglichkeiten der Handelsstadt. Humankapital, das durch seine schiere Körperkraft wesentlich dazu beitrug, dass die Stolzen unter den Bewohnern der Freien Reichsstadt sich bald als Macher und Lenker eines Welthandelszentrums wahrnahmen.
Die ehemaligen Landbewohner waren zumeist völlig mittellos und viele konnten in der Konkurrenzsituation am Arbeitsmarkt der Stadt nicht bestehen. Die Menge derer, welche um Almosen betteln mussten, wuchs mit dem Kapital der wenigen Reichen. Durch das massive Armutsproblem und immer wieder aufkeimende Unruhen sahen sich die Verantwortlichen der Stadt gezwungen, die Armenfürsorge zu reorganisieren. Eine maßgebliche Rolle spielte dabei die Unterscheidung der Armen in solche, die als „verschämt“ (ehrbar) und solche, die als „un-verschämt“ angesehen und stigmatisiert wurden. Bereits seit Mitte des 14. Jahrhunderts war in Augsburg unterschieden worden zwischen Bettlern und den sogenannten Hausarmen. Als Hausarme galten diejenigen, die trotz geregelter Erwerbsarbeit zwar in Not geraten waren, aber dennoch willfährig ihre Arbeitskraft zu Markte trugen. Ihre Situation wurde als unverschuldet betrachtet, wohingegen den völligen mittel- und arbeitslosen Bettlern das Stigma der Schuld und der Schamlosigkeit angeheftet wurde. Letztere hatten kein Anrecht auf Almosen und andere Beihilfen. Wenn sie kein Bürgerrecht besaßen, mussten sie auch noch die Abschiebung aus der Stadt befürchten. Gewiss konnten die Armen nicht strikt in diese und jene unterteilt werden. Zur obrigkeitlichen Handhabung des Armutsproblems aber war diese instrumentelle Unterscheidung durchaus nützlich.
Die Fuggerei wurde buchstäblich auf dieser diskriminativen Grenze errichtet. Laut Stiftungsurkunde durften in der Siedlung nur Personen unterkommen, die eine „fromme“ Lebensführung vorweisen konnten. Die also der Kategorie der Hausarmen zugerechnet wurden und die zudem katholischer Konfession waren. Als Gegenleistung wurden eine jährlich zu entrichtende Zahlung von einem Rheinischen Gulden und drei täglichen Gebeten für den Stifter und seine Familie erwartet. Im Vergleich zu anderen Armenhäusern, deren Bewohner ein klösterliches Leben voller Gebete und Rosenkränze zu führen hatten, scheint das kein hoher Preis gewesen zu sein. Die Fuggerschen Stiftungen sehen darin sogar ein Zeichen dafür, dass es Jakob Fugger besonders gut mit seinen Hausarmen gemeint habe.
Jobcenter der Renaissance: Von der Moral zur Arbeitsmoral

Jakob Fugger „der Reiche“ nach Skizzen von Albrecht Dürer (1518) entstanden …
Tatsächlich dürfte der Grund für diese Güte woanders zu suchen sein. Das Raumschiff hatte insbesondere erzieherischen Charakter und sollte seine Insassen zur Arbeit disziplinieren. Die Bewohner anderer Armenhäuser waren zumeist alleinstehende Alte und Gebrechliche, für die der Arbeitsmarkt keine Verwendung mehr hatte. Die Bewohner der Fuggerei hingegen setzten sich aus Handwerkern und ihren Familien zusammen. Mit seiner von Mauern umgebenen, klosterähnlichen Anstalt gelang Jakob Fugger tatsächlich etwas, „das Maßstäbe setzte“ (Fuggersche Stiftungen): Die Gleichsetzung von Arbeit und Moral als Arbeitsmoral. Es dürfte einer der gravierendsten Irrtümer der Sozialgeschichtsschreibung sein, dieses Ethos allein dem Protestantismus angelastet zu haben. Stattdessen kann der „tiefgläubige“ und „der katholischen Kirche treue“ CEO der Renaissance als Inkarnation des Götzen der moralischen Ökonomie betrachtet werden. Die heutigen PR-Erben dieses nicht ganz so heiligen Vaters gehen so weit, anzunehmen, dass die Gegenleistung aus Gebeten und Gulden „die Würde der Bewohner sicherte“, die dadurch „keine Almosenempfänger sein mussten“. Ein eindimensionaler Begriff von Würde, der den mittelalterlichen Begriff der Ehrbarkeit nur ersetzt, Menschen ihre prinzipielle Gleich-Würdigkeit abspricht und Almosenempfänger aus dem heiligen Zirkel der Würde ausschließt.
Diese ideologische Spaltung der Armen kann nun erneut auf dem Grabmal des Frühkapitalisten entdeckt werden. Der Gefangene auf der linken Seite erscheint als der Hausarme. Weil er bereit ist, die Regeln seines Herrn zu befolgen, wird er würdig. Der andere versteckt sein Gesicht aus Scham vor der Ordnungsmacht. Die beiden Gefangenen haben größtmögliche Distanz. Statt einander anzusehen und sich zu solidarisieren, kehrt jeder dem anderen den Rücken zu. Sie sind, ganz im Sinne der fuggerschen Stiftungsarchitektur, vereinzelt und vergesellschaften sich nicht. Dennoch teilen sie eine bestimmende Gemeinsamkeit als Unterworfene des Fuggergötzen. Sie sind Gefangene der moralischen Ökonomie, die ihre Körper auf die Schamgrenze zwischen Ehrbarkeit und Ehrlosigkeit zwingt. Die Fuggerei wurde nicht auf dieser Grenze errichtet. Sie ist die Grenze.
Anders, als Sonntagsreden und Werbeprospekte glauben machen wollen, war und ist die Fuggerei gerade kein Zeichen christlicher Nächstenliebe. Ihre Mauern schließen nicht nur ein – sie schließen auch aus. Die Fuggerei steht strukturell für die sozialpolitische Trennung in Anspruchsberechtigte und Nichtberechtigte, die nur mittels Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen durchgesetzt werden konnte. Derartige Maßnahmen stellten zu Beginn des 16. Jahrhunderts jedoch einen Widerspruch zur mittelalterlichen Idee der Caritas dar, in der die Zuwendung nicht dem Kollektiv, sondern – ohne Ansehen der Person – dem Einzelfall galt. Wenn ein Reicher einen Armen mit Almosen versorgte, hatte die Grundlage eine freie und aufrichtige Herzensregung zu sein, was keine rationalistische, sozialpolitische Unterscheidung zuließ. Jakob Fuggers Diskriminationsanstalt wäre daher als Jobcenter der Renaissance weit treffender bezeichnet, denn als „Inspiration für die ganze Welt“ (Fuggersche Stiftungen). Die Entwicklungen der Sozialdisziplinierung und der Institutionalisierung des Armenwesens stehen markant am Übergang vom sogenannten Mittelalter in die sogenannte Neuzeit. Im Allgemeinen. Nicht ausschließlich dort, wo zufällig Fugger wohnten und wohnen.

… Jakob Fugger, wie er von Jörg Breu d. Ä. porträtiert wurde – und wohl auch ausgesehen hat
Und doch ist es eben möglicherweise gerade deshalb kein Zufall, dass eine Fuggerei genau dort entstand, wo der Reichste der Reichen dieser Zeit zu Hause war. Für den Götzen der neuen Zeit wurden neue Riten und neue Tempel gebraucht. Jakob Fugger baute mit seiner Disziplinaranstalt das Taufbecken für eine Wirtschaftsform, die den Menschen und seine Spiritualität vollständig verwertbar macht. Für sich und seinesgleichen ließ er mit der Kapelle in St. Anna den dazugehörigen Altar errichten.
Käufliche Menschenwürde
Die heutigen Fugger deuten die Beweggründe ihres Vorfahren anders. Für eine „minimale spirituelle und monetäre Gegenleistung“ würde die Fuggerei Bedürftige „ermächtigen“, „ein selbstbestimmtes Leben in Würde zu führen“. Damit stünde sie in der Tradition des Jakob Fugger, der die Hilfe für Arme „besser, wirkungsvoller und nachhaltiger“ gestaltet und deshalb „ein völlig anderes Konzept“ erfunden habe. Nämlich die „Hilfe zur Selbsthilfe“. Dies sei der Kerngedanke der Fuggerei, so die Fugger über Fugger und die Fuggerei. Davon abgesehen, dass die Fuggerschen Stiftungen hier allen Ernstes die Menschenwürde zum einkaufbaren Gegenstand erklären, ist das ahistorischer Unsinn.
Die Begrifflichkeit der Hilfe zur Selbsthilfe gab es im 16. Jahrhundert in der heutigen Form nicht. Die Firma Fugger beansprucht hier als Alleinstellungsmerkmal eine Idee, die nur scheinbar wertvoll und wegweisend klingt. „Hilfe zur Selbsthilfe“: Der Begriff sagt, dass die betroffenen Menschen unfähig seien, sich selbst zu helfen und hat vor allem anti-emanzipatorische Wirkung. Heute, wie im 16. Jahrhundert, ist die soziale Frage vorrangig eine Frage nach der Gerechtigkeit des Wirtschaftssystems und nicht nach der angeblichen Ehrbarkeit der Menschen am Abgrund dieses Systems. Hilfe zur Selbsthilfe – demokratisch verstanden, nicht paternalistisch – wirkt zunächst auf die Schaffung von Möglichkeiten zur Einflussnahme auf die Produktionsbedingungen, zur gesellschaftlichen Teilhabe und insbesondere politischen Mitgestaltung hin, bevor sie Körper und Geist der Abhängigen moralisiert und die Betroffenen zur blindgläubigen Übernahme unhinterfragter ökonomischer Verhältnisse anhält.
Die Fuggerei als Menschen-Fabrik
„Unsere Bewohner sind Jakob Fugger dankbar, dass er ihnen im Heute die Sicherheit einer Wohnung gibt.“ Dieser Satz stammt von Wolf-Dietrich Graf von Hundt, Verwalter der Fuggerschen Stiftungen und Geschäftsführer der „Die Fugger GmbH“. Worte, die von Jakob Fugger wie von einer lebendigen Gottheit sprechen. Die Fuggerschen Stiftungen stellen laut eigener Aussage „seit einigen Jahren“ eine „steigende Tendenz“ bei der Nachfrage nach Wohnungen in der Fuggerei fest und einen Zusammenhang mit der aktuellen Wohnungsnot her. Diese oberflächliche Schlussfolgerung ist wahrscheinlich richtig.

Kunst in der Fuggerei Foto © DAZ
Doch die Schlussfolgerung aus der Schlussfolgerung geht dann eben auch so: Menschen, die heute in die Fuggerei ziehen, brauchen zuallererst eine Wohnung. Die Fuggerschen Stiftungen leisten sich dabei den Luxus, aus der Menge an Bewerbungen die Wunschbewohner für ihren touristischen Menschenzoo auszuwählen und zugleich die frühneuzeitliche Schamgrenze zu konservieren. Ganz im Sinne des Familiengötzen, der (so Verwalter Graf von Hundt) mit der Fuggerei einen Teil der Hausarmen von der „Sorge um ein Dach über dem Kopf befreit“ habe. Und nicht nur das! Viele hätten durch diese Sorgenfreiheit wieder arbeiten können. Die „für damalige Verhältnisse recht großen“ Wohnungen in der Fuggerei seien laut Graf von Hundt nämlich besonders geeignet gewesen, um darin ein Gewerbe zu betreiben – etwa als Weber im sogenannten Verlagssystem. Eine damals übliche Form der lohnabhängigen Heimarbeit. Neuartig war allerdings die im großen Maßstab konzipierte Konzentration einer Vielzahl von Heimarbeitern in einer dem Erwerbsfleiß und der fügsamen Lohnarbeit gewidmeten, geradlinigen, überwachten und ummauerten Siedlung. Jakob Fugger hat sich mit seiner Fuggerei eine eigene Fabrik bauen lassen. Seine Menschen-Fabrik.
Bevormundung und Herabwürdigung
Fügsame Menschen sollten im Laufe der Jahrhunderte durch noch fügsamere Maschinen ersetzt werden. Doch die Fuggerei blieb bestehen. Diese erstaunliche Beständigkeit liegt – zumindest, wenn man den Fuggerschen Stiftungen folgen will – am „Fuggerei-Code.“ Die bisherige Vorsitzende des fuggerschen Familienseniorats Maria Elisabeth Gräfin Thun-Fugger spricht auch von der „DNA der Fuggerei“, deren „Essenz“ zukünftig „Grundlage für soziale Innovationen auf der ganzen Welt“ sein solle. Gemeint ist der Plan, Fuggereien in Sierra Leone und Litauen zu installieren.
Die vierfache Tautologie aus Code, DNA, Essenz und Grundlage täuscht derweil göttliches Design dort vor, wo, wie bereits erwähnt, ein paar wenige Kausalitäten, viel Zufall und umso mehr Härte aus dem Nachkommen eines talentierten Landwebers einen ehrgeizigen Oligarchen werden ließen, dessen Erinnerungskultur in Form seines Grabmals einen blasphemischen Anspruch auf Ewigkeit erhob.
Hybris, die sich auch in der von den Fuggerschen Stiftungen erklärten Absicht niederschlägt, den heutigen Fuggerei-Bewohnern klarzumachen, was diese „zu einem gelingenden Leben“ bräuchten. Um in den (den Herren der Herrengasse selbstverständlich geläufigen) Genuss eines gelingenden Lebens zu gelangen, sollen die Fuggereibewohner „sich selbst reflektieren“ und „Spiritualität entwickeln“. Dieser Schritt sei jedoch „eine höchstpersönliche Entscheidung der Bewohner“ und könne „weder eingefordert noch kontrolliert werden“, wie es auf einer Schautafel in der Fuggerei heißt.
Größer könnte die moralökonomische Demütigung kaum sein, als materielle Mittellosigkeit kategorisch mit spiritueller Armut zu verknüpfen, die solchermaßen Armen für den Ausweg aus diesem erbarmungslosen Konstrukt radikal verantwortlich zu machen und dabei zugleich vollständig zu entmündigen. Diese Logik, die im Umkehrschluss Reichtum und Herrschaft mit göttlicher Auserwähltheit gleichsetzt, dient vor allem der ewigen Legitimation ihres Stifters, der wie seine Stiftung voller unvereinbarer Widersprüche steckt. Die Fuggerei ist zu einer Festung von Legenden geworden, zu einer dialektischen Festung. Zeit einen Ausweg zu finden.
Artikel vom
09.05.2022
| Autor: sz
Rubrik: Gesellschaft, Der Kommentar
Im Fugger und Welser Erlebnismuseum könne man Sklavenhandel „zum Anfassen“ erleben, so der verantwortliche Regio-Chef Götz Beck in einer Stellungnahme. Das unter Becks Leitung konzipierte und 2014 eröffnete „Erlebnismuseum“ steht derzeit im Fokus der Rassismus-Kritik.
Von Siegfried Zagler

© DAZ
Der Vorwurf lautet, dass das Museum die Handelsimperien der Fugger und Welser sowie ihre Art des Wirtschaftens, ihre politische Einflussnahmen glorifiziere und in diesem Zusammenhang in dieser „goldenen Augsburger Zeit“ Kinderarbeit und Sklavenhandel plausibilisiere. Das Augsburger Museum reagiert nun auf die von der DAZ veröffentlichten Rassismus- und Glorifizierungskritik, indem es das bisherige Konzept verteidigt, Zugeständnisse macht und Nachschärfungen verspricht.
Nach eigenen Recherchen zeigt sich Götz Beck, Tourismusdirektor der Regio Augsburg Tourismus GmbH, überrascht: „Es gibt fast kein Museum in Deutschland, dass sich annähernd umfassend wie das Fugger und Welser Erlebnismuseum mit dem Sklavenhandel auseinandersetzt.“ – Thematisiert werde Sklaverei zwar auch im Missionsmuseum Sankt Ottilien, im Museum Soul of Africa in Essen oder auch im Schifffahrtsmuseum Flensburg – aber kaum irgendwo derart massiv wie im Augsburger Wieselhaus: 18 Manillen – Armreife aus Bronze oder Messing – würden als Exponate eine Museumswand dominieren. Anfassen sei erlaubt, und auch die Geschichte dieser Artefakte, die als Primitivgeld Zahlungsmittel beim Sklavenhandel in Westafrika waren, werde im Museum erklärt. Das dafür benötigte Kupfer stamme nicht selten aus Fugger‘schen Bergwerken in Tirol oder in der heutigen Slowakei.
Auch die Rolle der Welsergesellschaft in den Frühzeiten der Globalisierung werde nicht geschönt. Beck verweist in diesem Zusammenhang auf ein Zitat aus dem Text einer Museumsstele: „Wie in allen spanischen Nachbarprovinzen wurden gefangene Ureinwohner verkauft, um Beutezüge zu finanzieren. Indianer wurden ermordet, gefoltert und beraubt. Selbst getaufte Indianer wurden als Träger versklavt, wenige überlebten.“ Dass das Welser’sche Conquista-Unternehmen mit der Einfuhr versklavter Afrikaner finanziert wurde, werde im Museum ebenfalls „deutlichst formuliert“.
Der Kulturwissenschaftler Dr. Mark Terkessidis beschreibt in seinem Buch „Wessen Erinnerung zählt? Koloniale Vergangenheit und Rassismus heute“ (Hoffmann und Campe) das glorifizierende und verharmlosende Narrativ des Museums.
„Götz Beck, Chef der Regio Augsburg Tourismus GmbH, ist durchaus nicht in jedem Punkt der Kritik einverstanden, doch er nimmt sie durchaus ernst“, wie es in der Stellungnahme der Regio heißt. Die Notwendigkeit eines Paradigmenwechsel sei aber nicht notwendig, da das Fugger und Welser Erlebnismuseum nicht nur die Vergangenheit durchaus kritisch beleuchte, sondern sogar die globale Wirtschaft von heute und ihre negativen Folgen hinterfrage.
„Nachschärfen“, so Beck, wird das Museum in den kommenden Monaten dennoch. Die Rolle der Fugger und Welser bei den Schattenseiten der beginnenden Globalisierung soll markanter herausgearbeitet werden. „Wir werden deutlich machen, dass immer irgendwer für den Reichtum Weniger bezahlen muss – und wer das jeweils war“, so Beck.

„Sie grüßen nicht freudig, sondern sie drohen mit Keule und Bogen“: Drei nackte „Indianer“ als Wandgemälde im Welserzimmer © DAZ
„Kritisiert wird auch“, so Beck, „eine Darstellung von Indianern an der Küste Venezuelas im Museum, zu der Mark Terkessidis schreibt“: „Nackt winkten sie ihren ,Entdeckern‘ freudig zu.“ Dabei habe der Autor übersehen, dass diese Indianer nicht freudig grüßen, sondern mit Keulen und Bogen drohen. Eventuell werde deshalb künftig eine Texttafel das umstrittene Motiv beschreiben.
„Jeder Raum und jedes Motiv wird geprüft“, so Beck. „Missverständliche Museumsinhalte werden wir in Zukunft einfach besser erklären müssen, das ein oder andere werden wir neu installieren“. Dabei wird die Zusammenarbeit mit Kritikern gesucht werden. Auch bei der Neugestaltung einer zuletzt umstrittenen Museums-App zum Thema Sklaverei will Beck diese Kritiker und andere Experten einbinden. Beck sieht die Kritik aber auch als Chance: „Dadurch, dass wir uns mit dieser Thematik befassen, wird das Museum nur noch besser.“
Artikel vom
19.08.2020
| Autor: sz
Rubrik: Gesellschaft, Museen
Nach dem gewaltsamen Tod von George Floyd brechen durch die Black Lives Matter-Bewegung Dämme, die für die Ewigkeit gebaut schienen. Selbst das erst 2014 eröffnete Fugger und Welser Erlebnismuseum muss einen “Schlag in die Magengrube” verarbeiten.
Von Siegfried Zagler

Rassistisch gestalteter Welser-Raum im Fugger Welser Erlebnismuseum © DAZ
Im Augsburger Fugger und Welser Erlebnismuseum lässt sich in Erfahrung bringen, wie der sagenhafte Reichtum der Augsburger Kaufmannfamilien zustande kam. Dabei wird nicht unter den Teppich gekehrt, dass, als den Welsern das heutige Venezuela unterstellt war, eben dort in den 28 Jahren ihrer Lehensherrschaft gemordet, gefoltert und mit Menschen gehandelt wurde. Und dennoch ist der Tonfall des “Erzählmuseums” voller Respekt und Bewunderung für die Genialität und Risikobereitschaft der Welser und der Fugger.
Dass die Fugger am Ablasshandel mitverdienten, Fürsten “schmierten”, Kinder in den Stollen ihren Bergwerken schuften ließen, die Niederschlagung der Bauernaufstände mitfinanzierten wird selbstverständlich angeführt. Und dennoch besteht kein Zweifel daran, dass das Fugger Welser Erlebnismuseum die Geschichte “Augsburgs goldener Zeit”, wie es im Eingangsbereich heißt, aus der Perspektive des Staunen und Bewunderns erzählt. In der Zeit, die im geistigen Sinn von der Renaissance und der Reformation geprägt war, waren 99 Prozent der Menschen bitterarm. Das Wirken der Fugger und der Welser hat daran nichts verändert.
In Tonalität und Dramaturgie von oben nach unten erzählt
Die Erfolgsgeschichte der Fugger wird im Augsburger Fugger und Welser Erlebnismuseum in einer Tonalität und einer Dramaturgie erzählt, als gäbe es nur Quellen aus den Erinnerungsfedern der Erzählmächtigen der europäischen Geschichte: Der Handel mit Textilien und Gewürzen, der Kunst – und auch der viel beschriebene Ablasshandel waren lediglich „Begleitgeräusche“ des kometenhaften Aufstiegs der Augsburger Fugger. Ihren schwer zu fassenden Reichtum erwirkten die Fugger durch Bergbau, Hüttenwerke und Montanhandel. Und auch die legendären Bankgeschäfte der Fugger waren mit der Montanwirtschaft in den Alpen und in den Karpaten verbunden. Vor allem Kupfer und Silber, Blei und Quecksilber machten die Fugger reich. Aber auch Gold, Zinn und Eisen gehörten zu den Metallen, die im Montankonzern der Fugger eine Rolle spielten. Standorte des fuggerischen Montanimperiums – Erzgruben, Hüttenwerke und Faktoreien – lagen in Deutschland, Österreich, Italien, Spanien, Polen, Tschechien und der Slowakei.
Das Metall der Fugger wurde auf Schiffen der Hanse und der Venezianer, der Spanier und vor allem der Portugiesen über Europa hinaus bis nach Afrika, Ostindien sowie nach Mittel- und Südamerika transportiert. Zentrale Umschlagplätze für die Metalle waren Venedig, Nürnberg und seit der Entdeckung der Seeroute um Afrika nach Indien vor allem Antwerpen. Das alles lässt sich mittels übersichtlicher Erzählblöcke in Erfahrung bringen.
Den Quecksilbergruben der Fugger und Welser wurden Sklaven zugeteilt
Die Monopolstellung und unglaubliche Kapitalanhäufung der Fugger wurden bereits von Zeitgenossen (erfolglos) angegriffen; Luther wetterte jedenfalls deutlich gegen die “verdammte Fuckerei”, die an der alten Kirche festhielt. “Man forderte diese Unternehmen zu zerschlagen, ihr Kapital und die Zahl ihrer Faktoreien zu beschränken sowie Kapitaleinlagen gegen Zins (Depositen) zu verbieten”, wie es im Museum im Wieselhaus heißt.
„In Südeuropa und in den Kolonien waren nichtchristliche Sklaven üblich. Sklaven arbeiteten in der Zuckermühle der Welser in Santo Domingo ebenso wie in ihrer Seifenproduktion in Sevilla. Den von den Fuggern und Welsern gepachteten Quecksilber- und Zinnobergruben von Almadén wurden Sklaven, Morisken und Häftlinge (…) zugeteilt.” Auch das ist im Museum zu lesen, doch im Gesamtkontext der Dauerausstellung wirkt das nebensächlich.
Im Gewölbekeller des Fugger und Welser Erlebnismuseums ist eine animierte Bergwerkskarte zu sehen: Die Karte zeigt in dieser Form erstmals zeitlich abgestuft und vor allem vernetzt die europaweite Verflechtung fuggerischer Erzgruben, Hüttenwerke und Transportwege einschließlich der Transportmittel – Saumpferde und Flößerei, Transporte auf der Achse zu Lande und per Schifffahrt über das Mittelmeer, über die Ost- und Nordsee und den Atlantik. Zeitlich gestaffelt werden dabei die Anfänge der Fugger im Goldbergbau im Salzburger Land um 1490, der Aufstieg des Konzerns durch die Kupfererzgruben in der Slowakei und in Tirol sowie die Dominanz des Augsburger Imperiums im europäischen Kupfermarkt dargestellt.
Mit interaktiver Erzähltechnik zeigt der „Indien-Tisch“ im Fugger und Welser Erlebnismuseum den Weg des Kupfers aus der heutigen Slowakei über die Ost- und Nordsee nach Antwerpen und via Lissabon nach Indien. Das Fuggerkupfer wurde in Antwerpen an portugiesische Seefahrer übergeben, damit waren die Geschäfte des Augsburger Unternehmens dort im Grunde abgeschlossen. Doch dass Kupferbarren mit der Handelsmarke der Fugger von den Portugiesen bis nach Afrika und Indien vertrieben wurden, hat viel zum Nimbus der Augsburger Familie beigetragen – auch wenn sie nach der ersten und einzigen Handelsfahrt in den Jahren 1505/06 vom König von Portugal aus dem Indiengeschäft gedrängt wurde und „nur“ noch unersetzlicher Zulieferer war. Der „Indien-Tisch“ – bei dem Museumsbesucher mit den Augsburger Fuggern und Welsern auf „Merfart“ gehen können – wurde durch die Landesstelle für nichtstaatliche Museen in Bayern gefördert.
In den Unternehmensberatersprech von heute transformiert

In den Unternehmensberatersprech von heute transformiert © DAZ
Mithilfe allerlei digitalem Schnickschnack erfährt man auf kurzweilige Art und Weise über die Strukturen der Augsburger Handelsimperien, erhält verdichtete Information, die in dieser Dichte überraschend schnell ermüdet. Festzuhalten ist an dieser Stelle, dass sich das Museum redlich Mühe gibt, das gesamte Bild der ersten deutschen Weltwirtschaftsverflechtungen zu zeichnen, und sich dabei nicht selten im Banalen verläuft, wenn zum Beispiel im 2. Stock die Fähigkeiten und Entwicklungen der ersten Superkapitalisten in den Unternehmensberatersprech von heute transformiert und an die Wand geworfen werden: Eine zeitgenössische Form der politischen Kommunikation, die Bestechung, Rechtsbruch und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ausblendet.
„In dem Raum, in dem es im Museum um die “Welser in Venezuela“ geht, kann von einer Aufarbeitung der Kolonialgeschichte nicht die Rede sein. Der Raum wird dominiert von einer Schiffsinstallation, von Frachttonnen und nautischen Geräten. Den Gästen wird die Perspektive des modernen reisenden Menschen angeboten. Demgegenüber sind die “Eingeborenen” von der Reeling des Schiffes aus als naiv gezeichnetes Wandbild zu sehen: Nackt winken sie ihren “Entdeckern” freudig zu.“ – So beschreibt nicht ohne Sarkasmus der “Über die Banalität des Rassismus” promovierte Kulturwissenschaftler Mark Terkessidis den rassistisch gestalteten Welser-Raum im Fugger Welser Erlebnismuseum (Wessen Erinnerung zählt? – Hoffmann und Campe).
Von diesem Museum könne man vielleicht keinen reflektierteren Umgang bezüglich der Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte erwarten, so Terkessidis, der in seiner sicher zutreffenden Bewertung “vielleicht” nicht berücksichtigt, dass die Aufarbeitung des Kolonialismus in der Fuggerstadt Augsburg nicht der konzeptionelle Anspruch ist, der von den Museumsmachern ursprünglich verfolgt wurde.
Regio-Chef Beck will “nachschärfen”
Unabhängig davon reagierte der in der Verantwortung stehende Götz Beck, der als Chef der Regio, die das Museum entwickelte und betreibt, auf die konkret formulierte Rassismus-Kritik sensibel und nahm umgehend die zuerst von der DAZ kritisierte “Perico-App” aus dem Portfolio. Diese App möchte Beck nun zusammen mit den Kritikern Ina Hagen-Jeske, Philipp Bernhard und Claas Henschel neu entwickeln. “Falls sie kein Interesse daran haben sollten, verschwindet die App eben komplett”, so Götz Beck im Gespräch mit der DAZ.
Auch in Sachen Dauerausstellung werde man “nachschärfen”, so Regio-Chef Beck, der sich am heutigen Dienstag mit dem Museumsteam darüber berät, was an der Dauerausstellung zu verändern sei. Möglicherweise wird die glorifizierende Sprache dort entrümpelt, wo es unumgänglich erscheint und dort die Kritik sprachlich verschärft, wo sie bisher zu beiläufig-flach daherkam. Denkbar sei auch, dass zusätzliche Stelen aufgestellt werden, die die Verbrechen des Kolonialismus verstärkt herausarbeiten. Möglich sei zusätzlich, dass die Globalisierungstransformation herausgenommen wird und das primitive Bild im Welserzimmer verschwindet. Außerdem sollen Vortragsreihen stattfinden, die die Kolonialisierungsunternehmungen aus dem Blickwinkel der Opfer thematisieren. Man denkt auch daran, eine digitale Bibliothek einzubauen, wie Texter Martin Kluger in einem Gespräch mit der DAZ verriet.
Für uns ist die Kritik “wie ein Schlag in die Magengrube”, so Regio-Mitarbeiterin und mitverantwortliche Museumsleiterin Katharina Dehner, da man sich im Kuratorenstreit durchgesetzt habe und über Dinge informiere, die sonst nirgendwo in Bayern thematisiert würden. „Aber wir nehmen die Kritik ernst, wir befinden uns in einem Work-in-Progress-Prozess und sind dabei, das Konzept umzuarbeiten.“
Artikel vom
18.08.2020
| Autor: sz
Rubrik: Gesellschaft, Museen