Ein Gefangener mit Reue – oder doch im Wahnsinn?
Kann ein Inhaftierter durch die Auseinandersetzung mit der eigenen Tat einen Identitätswandel vollziehen? Und wird dann ein Freispruch erforderlich? Über diese Frage darf das Publikum als Jury in dem Stück „Schuld und Bühne“ des Theaterensembles „Bluespots Productions“ selbst entscheiden.
Von Sophia Winiger
Eine Anlehnung an Dostojewskis berühmten Roman zeigt sich nicht nur im Titel. Der zeitgenössische Raskolnikoff ist in Leonie Pichlers Stück „Herr Ach“ (Guido Drell), der beteuert, die mehrjährige Haft habe ihn zu einem neuen Menschen gemacht. Der Einsamkeit ausgeliefert habe er Trost und Vergebung in Gott erfahren, sodass sein altes Ich erloschen sei – mitsamt des Vornamens. Statt Thomas heiße er nun Salomon. Die Autorin und Regisseurin Leonie Pichler lädt den Zuschauer in einen Gerichtssaal des Alten Justizpalastes ein. Angelockt vom Tanz zweier Polizistinnen (die Balletttänzerinnen Milena Thaller und Saskia Kratzer) um die Sicherheitsschleuse, begibt er sich in die Verhandlungsrunde und beobachtet, wie sich die Parteien in einer Mischung aus philosophischer Überzeugung, Paragraphen-Treue und Machtspielchen ineinander verkeilen.
Da ist die spitzfindige Staatsanwältin (Claudia Kainberger), die sich über mögliche Psychosen von Ach ereifert, und dabei versucht, den eher besonnenen Anwalt (Leif Eric Young) im Stil einer Gouvernante um den Finger zu wickeln. Der Kunstlauf beider auf den Verhandlungstischen erinnert abwechselnd an Zauberduelle aus den „Harry Potter“-Filmen und an einen Laufsteg. Als Zeugen der Verhandlung treten unter anderen ein verschmitzter russischer Mithäftling (Cansever), die verzweifelte Exfrau und der Psychologe von Ach auf. Die Diskussionen handeln von der Etikettierung des Menschen über die Zuschreibung psychischer Erkrankungen, von der Entmündigung, die eine Gefängnisstrafe mit sich bringt, vom Wahrheitsanspruch des Rechtssystems. Und über all dem steht die Frage, wer Opfer und wer Täter in diesem Spiel ist – oder ob letztendlich alle nur kleine Zahnräder im gesichtslosen Getriebe der Gesellschaft sind.
In der Inszenierung misslingt an einigen Stellen der Spagat zwischen dem erkennbaren Anspruch, die psychologische Vielschichtigkeit dramaturgisch abzuarbeiten und der Flapsigkeit der Darstellung. Die Dialoge schöpfen nicht die Tiefe aus, die die Thematik birgt. Eine Infragestellung des Rechtssystems erscheint unglaubwürdig, betrachtet man die Herangehensweise, die auf Show und Witz abzielt: Die attraktiven Tänzerinnen, die Rap-Einlage der Gruppe Capo di Capi, das Format des Flyers als mit Ironie gespickte Prozessakte. Ganz so, als ginge es darum, Provokation als Unterhaltungsformat einzuführen.
Die Charaktere sind facettenreich gezeichnet. In der Darstellung überzeugen vor allem Anwalt (Young) und Zellengenosse (Cansever) mit ironisch gebrochener Authentizität. Zeitweise gelingt es Regisseurin Pichler, den Zuschauer zu verwirren: Nimmt man eine Haltung aus moralischer Überzeugung ein – oder wegen der abstoßenden oder sympathischen Wirkung der Personen auf der Bühne?
Verurteilt die Staatsanwältin den Gefangenen zu Recht als Psychopathen, oder verteidigt sie durch ihr Gefuchtel nur ihre beschränkte Weltsicht? Die Dynamik des Stückes verliert sich mit der Zeit in der Zähigkeit der Diskussionen und der Vielzahl an Zeugenauftritten. Ein Wiederanstoß durch Musik und Tanz gelingt, erzeugt aber zugleich den Charakter eines Musicals, der im Zusammenhang befremdlich wirkt.
Das Publikum in seiner Rolle als „die Geschworenen“ ist klar in seinem Urteil: Ach bleibt Thomas Ach. Eine Veränderung der Identität gibt es nicht. Unter Aufsicht des Psychologen soll er weiter inhaftiert bleiben. Dieses Meinungsbild zeigt, dass die Intention des Stückes, die Gefängnisstrafe grundsätzlich zu hinterfragen, nicht vollends zur Geltung kommt. Auch wenn das ambitionierte Unternehmen an seinem Anspruch scheitert, das System „Verbrechen und Strafe“ in Frage zu stellen, lohnt ein Besuch allein der Spannung halber, die dem Format und der Schauspielkunst geschuldet ist. Die letzten Vorstellungen finden am 28. und 29. November im Justizpalast (19.30 Uhr) statt.