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Freitag, 14.02.2025 - Jahrgang 17 - www.daz-augsburg.de

Ein ganz normales Mädchen

„Das Tagebuch der Anne Frank“ im Hoffmannkeller

Von Frank Heindl

Es war sicherlich gewagt, die Darstellung der Anne Frank so stark auf das pubertär-mädchenhafte der heranwachsenden 14-Jährigen zu konzentrieren, wie das die Inszenierung von Ramin Anaraki tut. Und doch ging der Plan auf: Zum Einen wegen der glänzenden Schauspielerin Karoline Reineke, zum Anderen wegen des Hoffmannkellers, der in dieser Inszenierung ganz naturalistisch und ohne äußeres Zutun ein Gefängnis darstellte.

Zunächst ist es ein Spiel mit Koffern ...

Zunächst ist es ein Spiel mit Koffern ...


Bei der Premiere von „Das Tagebuch der Anne Frank“ am Sonntag musste man zunächst ein bisschen bangen, ob das Konzept wirklich hinhauen würde. Karoline Reineke, ganz weißgekleidete Unschuld, gab nämlich eine ganze Weile „nur“ einen ganz normalen Teenager. Schmollschnute, wütendes Schuhe-in-die-Ecke-werfen, ungelenke Bewegungen, sich selbstironisch charakterisierend als „das Nervenbündel vom Hinterhaus“. Einige Gäste fanden das zum Lachen, lachten auch noch, als die Schauspielerin sich empört mit gelben Judensternen beklebte: Einer kam ins Haar und sollten den Ärger darüber ausdrücken, dass ein jüdisches Mädchen im Amsterdam der 40er-Jahre sich nur noch von jüdischen Friseuren die Haare machen lassen soll.

Klaustrophobische Enge im alten Gemäuer

Man darf annehmen, dass Publikumsgelächter nicht unbedingt einkalkuliert war, muss aber zugestehen, dass es so falsch womöglich auch nicht war. Denn gerade darauf liefen Textauswahl und Reinekes Spiel hinaus: Wir Leser, wir routinierten Konsumenten all der Gruselgeschichten rund um den Holocaust, haben uns womöglich viel zu sehr daran gewöhnt, die Opfer der nationalsozialistischen Judenverfolgung immer und immer als Opfer zu sehen, sie mit Mitleid zu überschütten und dabei ihr schlichtes Menschsein zu übersehen. Das Mädchen Anne Frank lebte mit seiner Familie und weiteren Bekannten vom Juli 1942 an für gut zwei Jahre in einem Hinterhaus-Versteck, bis die acht Flüchtlinge entdeckt wurden – außer Annes Vater kamen alle in den Konzentrationslagern um, Anne in Bergen-Belsen, nicht einmal 16 Jahre alt. Nach dem Krieg veröffentlichte ihr Vater das Tagebuch.

... am Schluss ist es der schmale Weg in den Tod. Karoline Reineke als "Anne Frank" im Hoffmannkeller

... am Schluss ist es der schmale Weg in den Tod. Karoline Reineke als "Anne Frank" im Hoffmannkeller


Schnell stellt sich im engen Hoffmannkeller eine klaustrophobische Enge ein, wie sie im holländischen Versteck womöglich gar nicht geherrscht hat. Und doch kann man Ausweglosigkeit, den Mangel an Luft und Bewegung, kaum besser darstellen als durch dieses alte Gemäuer. Und kaum besser, als Karoline Reineke es tat, kann man diese dicken Mauern in Gegensatz stellen zum aufmüpfigen Tatendrang einer 14-, später 15-Jährigen. Die anderen Bewohner träumen von Torten, von der Verlobten, haben konkrete Vorstellung von einem „Leben danach“ – Anne selbst aber ist so überbordend von Drang nach Leben, sie „wüsste vor lauter Seligkeit nicht, wo beginnen“, dürfte sie wieder einmal hinaus. Sie möchte einkaufen gehen, sie möchte sich verlieben, sie möchte Mensch, möchte jung, möchte Mädchen sein, umarmt, geküsst werden – doch da draußen wartet nur der Tod auf sie, „der englische Sender spricht von Vergasungen.“

„May you stay forever young“

Karoline Reineke macht uns mit wunderbarem Einfühlungsvermögen – und doch in aller Schärfe – klar, dass Anne Frank eben nicht nur „schreien möchte vor Wut“ auf die Nazis, sondern auch vor Sehnsucht nach einem normalen Leben, das Tag für Tag ohne sie verrinnt, nach Jahren, die auch dann verloren gewesen wären, wenn sie überlebt hätte. Bob Dylan erklingt vom Band: „May you stay forever young“, und der Song macht deutlich, wie grausam der uralte Wunsch sich erfüllt hat an diesem Mädchen und an Millionen anderen, die für immer jung bleiben mussten, weil man sie nicht alt werden ließ.

Ein Dutzend Koffer sind die einzigen Requisiten auf der kargen Bühne, und sie weisen stets auf das Kommende hin: Auf die Gebirge ärmlicher Habseligkeiten, die am Schluss in Auschwitz und anderswo von den Millionen Ermordeten blieben. Anne nimmt sich einen, knallrot ist er – sie hat die Hoffnung auch dann noch nicht aufgegeben, als sie sich in die Schlange der dahin ziehenden Juden einreiht, deren Gipsfiguren den Bühnenrand bevölkern. „Ich bin nun soweit, dass es mir nichts ausmacht, ob ich sterbe oder am Leben bleibe“, sagt sie – und auch das ist der Satz einer 15jährigen, die gerne erwachsen wäre und es doch nicht ist. Reinekes Spiel, 80 Minuten lang hoch konzentriert und von enormer Präsenz, lässt keinen Zweifel daran, dass Anne Frank nicht gerne gestorben ist. Langer, verdienter Applaus.