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Freitag, 22.03.2024 - Jahrgang 16 - www.daz-augsburg.de

„Alles, was die Welt bewegt“

Von Siegfried Zagler

Es gibt kaum eine Paraphrasierung der Superlative, die für das filmische Schaffen des amerikanischen Kinogurus James Cameron nicht zutreffen würde. In seinem neuen Meisterwerk „Avatar“ „streift er alles“, so die Feuilletonistin Susan Vahabzadeh in der Süddeutschen Zeitung, „was die Welt bewegt“.

„Avatar“ ist ein hinduistischer Begriff, damit ist Inkarnation eines Gottes in einem menschlichen Körper gemeint. Geläufig ist dieses Wissen in den Spielplattformen der Cyberwelt, deren „Bewohner“ ein zweites Bewusstsein in ein anderes Ich hinein fantasieren. In Camerons neuestem Spektakel „Avatar – Aufbruch nach Pandora“, dem wieder mal aufwändigsten Film der Kinogeschichte, wird menschliches Bewusstsein in außerirdische Körper befördert, um auf „Pandora“, einem Lichtjahre entfernten Planeten, Forschung und militärische Spionage betreiben zu können. Übergeordnetes Ziel der zunächst scheinbar auf Konsens angelegten Kolonialisierungsbemühungen ist ein Rohstoff, der die Energieprobleme der verwüsteten Erde lösen soll. Die Handlung spielt in einer nicht allzu fernen Zukunft. Diesen schlichten Fantasy-Schritt muss der konservative Cineast mitmachen, der Rest ist cinematografischer Realismus, wie es ihn noch nie gegeben hat.

David Fincher, Steven Spielberg und Ridley Scott sollen, wenn man Cameron Glauben schenken will, hin und wieder mal am Set vorbeigeschneit sein, weil sie nicht verstehen konnten, was in den Fachmagazinen während der knapp fünf Jahre andauernden Herstellungsphase zu Avatar berichtet wurde. Sie müssen Bauklötze gestaunt haben. Cameron hat die technischen Voraussetzungen, die für den realistischen Bildersturm notwendig waren, erst erfinden müssen. Er hat den alten Erzählraum ins Kino zurückgeholt und dennoch etwas Neuartiges erschaffen, und er war dabei klug genug, nicht auf das alte Garn, das jede gute Geschichte zusammen hält, zu verzichten. Camerons neu entwickeltes Aufnahmesystem öffnet neue Türen im Sujet des großen Actionfilms. „Virtuelle Kamera“ nennt sich die neue Magie. Avatar saugt den Zuschauer unbarmherzig in eine von der „virtuellen Kamera“ miterfundene archaische Welt. Eine außerirdische Welt, die von Einstellung zu Einstellung, von Szene zu Szene realistischer wirkt und nach zirka einer Stunde Filmzeit die Kinobesucher beinahe in die gleiche Situation versetzt, die der Protagonist des Films zeitgleich zu meistern hat: Ist das, was sich vor unseren Augen im Kinosaal abspielt, der Traum oder die uns „tatsächlich“ umgebende Wirklichkeit?

Der konventionelle, technische Begriff der „Kamerafahrt“ schien mit zunehmender Perfektionierung der computergenerierten Bilder seit einigen Jahren nur noch für das „kleine“ europäische Kino verwendbar zu sein, und nun scheint auch der Begriff des „computergenerierten Bildes“ für die Größen aus Hollywood pulversiert. Spielberg und Adepten mussten ihre Visionen erst immer den Spezialisten erklären, die ihre Kamerafahrten und Bilder dann nachträglich um die in einem weißen Raum agierenden Schauspieler animierten. Diese „Computermalerei“ war und ist ein steriles Handwerk, dessen Schöpfungsprozess nur noch von einer Hand voll Spezialisten aus der Programmiererbranche nachzuvollziehen war und ist. Die Verluste der Authentizität, die für die Cineasten schwerer wiegen als die digital nachgereichte Aufrüstung der computergenerierten Spezialeffekte wurden angesichts der Kassenerfolge von den großen Studios nur marginal zur Kenntnis genommen. Schließlich sind diese Filme für die jeweilige finanzstarke Spielkonsolen-Generation der minderjährigen Internetuser gemacht. Ein Klientel, das ihre cineastischen Realitätsansprüche mit der virtuellen Ästhetik der Computerspiele abgleicht.

Magier der virtuellen Kamera: James Cameron (mit Ehefrau Suzy Amis)

Magier der virtuellen Kamera: James Cameron (mit Ehefrau Suzy Amis)


Die neue Generation der Kinobesucher lächelt heute über das ungläubige Staunen, das die ersten computeranimierten Bilder der Saurier in Spielbergs „Jurassic Park“ beim Publikum zu Beginn der 90er auslöste. Oder über den Schrecken, den das motorisierte Plastikungetüm „Der weiße Hai“ in den 70ern verbreitete. Bei Spielbergs frühen Schock-Effekten war Hitchcocks Dramaturgie des Nichtgezeigten noch spürbar. Später vertraute die Illusionsmaschine Hollywood dem „fliegenden Auge“ der allwissenden und alles zeigenden Kamera. „Titanic“ und „Gladiator“ scheiterten zumindest stilistisch an den übermotivierten Ambitionen von Cameron und Scott. Beim epischen Kino schien das dramaturgische Crossover von traditionellem Kino und computergenerierten Bildern nicht zueinander zu finden. Ähnliches lässt sich auch bei „Herr der Ringe“ feststellen. Allerdings „realisierte“ das filmische Epos den Mythos einer als unverfilmbar geltenden literarischen Fantasy-Vorlage, weshalb man sich im Kinosaal nicht über Realitätsdefizite beschweren konnte.

James Cameron wollte 12 Jahre nach Titanic, die mit 1,8 Milliarden eingespielten Dollar als Maßstab für erfolgreiches Crossover gilt und Kinogeschichte schrieb, dennoch nicht zurück in den weißen Raum. Mit seiner „virtuellen Kamera“ konnte er in Avatar wieder selbst steuern, synchron mit dem Spiel der Schauspieler. Alles was bei Avatar von der Kamera aufgezeichnet wurde, geschah in Echtzeit, wie auf einem traditionellen Filmset. Mit seinem neuen Werk ist Cameron ein Film wie aus einem Guss ohne Bruch- und Nahtstellen gelungen. Trotz der realistischen „Kulisse“ eines fremdartigen Urwalds mit fliegenden Bergen, Dinos und Flugdrachen ist in Avatar die Geschichte der Star. Nicht der Realismus des Unwirklichen, sondern die Emotionalität und der Bewusstseinsfortschritt des traumatisierten Soldaten „vom Stamme der Ledernacken“ ist das Ereignis des Films. Wer sich von dem rauschhaften Gedöns des 3-D-Formats dennoch zu sehr abgelenkt wähnt, dem sei das Normalformat empfohlen. Cameron hat dem Genre des Actionfilms seine lesbare Handschrift zurückgebracht.

„Es ist merkwürdig, das Leben ist in Farbe, aber Schwarz-Weiß wirkt realistischer“, lässt Wim Wenders einen der Filmschaffenden in „Stand der Dinge“ (1982) sagen.

Und damit bringt er das grandiose und aufregende Paradoxon der neuen digitalen Hypertechnisierung auf den Punkt – sie ermöglicht wieder das handwerkliche Filmemachen wie zur Zeit der Novelle Vague. Vielleicht hat James Cameron mit seinem neuen filmischen Zauberinstrumenten den Begriff der „Spezialeffekte“ abgeschafft, vielleicht leitet Avatar ein neues Zeitalter des 3-D-Films ein; ein Format, das bereits als alberner Zwischengag in der Mottenkiste der Filmgeschichte verschwunden schien. Vorstellbar ist es. Sicher ist jedenfalls nur, dass der Soldat Jake Sully in Avatar eine Metamorphose vollzieht, die ihn zu einem anderen Wesen macht. Sully (Sam Worthington) öffnet und schließt in den 162 Minuten Filmzeit sehr oft seine Augen und ist sich zwischendrin, wie alle Langzeit-Reisenden, nicht mehr sicher, wo er hingehört. Als er seine Augen zum Schluss das letzte Mal öffnet, ist er schließlich dort, wohin sich viele sehnen, aber noch niemand war. Jake Sullys Erzählstimme kommt wie bei Apokalypse Now (1979) zu Beginn aus dem Off. Vom Schicksal gezeichnet legt der querschnittsgelähmte „Krieger vom Stamme der Ledernacken“ das monetäre Motiv seines Abenteuers offen. Er möchte neue Beine, die er sich aber von der Soldatenrente nicht leisten könne. Desillusioniert legt er das scheinbar Kommende fest und begibt sich ahnungslos auf eine Reise ohne Wiederkehr.

Francis Ford Coppola hat sich in „Apocalypse Now“ an der literarischen Vorlage von Joseph Conrad orientiert. Benjamin L. Willards Reise ins „Herz der Finsternis“ ist eine Reise in die Abgründe der menschlichen Seele ohne Hoffnung und Aussicht auf menschliches Glück. Bei Joseph Conrad ist die Natur dunkel und still, eine tödliche Folterkammer. Genau dort beginnt Avatar. Camerons Pandora ist aus der Sicht der „Eroberungssöldner“ eine atavistische Version der Verdammnis, da der Garten Eden nicht für sie gemacht zu sein scheint. Das digitale Paradies ist für die menschliche Spezies eine verschlossene Ungeheuerlichkeit und von Gefahren durchdrungene höllische Welt. Der aus der Natur herausgeworfene Mensch hat sein inneres Gleichgewicht verloren und versucht nun das Fremdgewordene mittels wissenschaftlicher Forschung zu verstehen oder es sich mit Gewalt wieder zu unterwerfen und anzueignen. Das Unverstehbare ist bei Cameron eine synaptisch verbundene Vielfalt von unbekanntem vielfarbigem Gewächs und Echsenmonstern, ein komplexeres System als das menschliche Gehirn, ein kommunikatives System, das sich in höchster Bedrohung gegen seine potenziellen Zerstörer erhebt und auf Bitten von Jake Sully mit den Einwohnern von Pandora in die Schlacht zieht.

„Krieger vom Stamme der Ledernacken“: Sam Worthington als Jake Sully

Neu ist der Plot mit der Öko-Botschaft nicht. John Bormann hatte die Idee der mobilisierten Natur bereits 1985 in „Smaragdwald“ verarbeitet. Ein wundervolles „kleines“ filmisches Meisterwerk mit beinahe wissenschaftlich anmutender ethnologischer Genauigkeit. Bormann verwebt Mythen und Mysterien eines „unsichtbaren Volkes“ im brasilianischen Regenwald mit einer Liebesgeschichte, die schließlich dazu beiträgt, dass sich die bedrohten Einwohner des Waldes mit Hilfe der Natur erfolgreich gegen den zivilisatorischen „Fortschritt“ wehren. Ein Fortschritt, der keiner ist, sondern „der Erde die Haut abzieht“.

Frank Schätzing lieferte mit seiner wissenschaftlich unterfütterten Fiktion der intelligent aufbegehrenden Natur gegen das weltweit zerstörerische Wirken der menschlichen Emporkömmlinge reichhaltigen Humus für Camerons finales Schlachtenszenario. Die Evolution organisiert bei Schätzing einen finalen Ausrottungsfeldzug für eine notwendige Korrektur. Ein zellulärer Zusammenschluss von Einzellern in der Tiefsee verfügt über Kollektivbewusstsein und Kollektivintelligenz und steuert im Bestseller „Der Schwarm“ (2004) einen Verteidigungskrieg der Natur gegen die menschliche Zivilisation. In diesen beiden Werken gibt es ein Happy End, so auch in Avatar, und zwar nach konventioneller Hollywooddramaturgie. Nichts wurde ausgelassen: Verfolgungsjagden, die Geschichte vorantreibende Dialoge, Boy meets Girl und am Ende stehen sich der Gute und der Böse in einem klassischen Show down gegenüber.

„Ich sehe dich“, sagen die Liebenden des Na´vi-Volkes in Pandora zueinander. Während des Films erfährt man beiläufig, was das bedeutet oder bedeuten könnte. Es gibt nichts Tieferes, nicht hier oder an einem anderem Ort in diesem Universum. Man wird in dieser Stadt und anderswo derzeit nichts Aufregenderes finden als die verlorene Welt, die uns James Cameron gestochen scharf und eindringlich in Erinnerung ruft.

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AVATAR, USA 2009 – Regie, Buch und Schnitt: James Cameron. Kamera: Mauro Fiore. Produktionsdesign: Rick Carter, Rob Stromberg. Musik: James Horner. Mit: Sam Worthington, Zoe Saldana, Sigourney Weaver, Giovanni Ribisi, Stephen Lang, Michelle Rodriguez. Fox, 162 Minuten. In Augsburg im CinemaxX und im Cinestar.