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Samstag, 17.08.2024 - Jahrgang 16 - www.daz-augsburg.de

Untergänge sind als Auswege aus der Hölle zu begreifen

“Götterdämmerung, Sonntag, 13. August, 16 Uhr, Festspielhaus Bayreuth. Parkett links, Reihe 19, Platz 24. Ticket 260 Euro. Nach eineinhalb Stunden des ersten Akts hätte ich jedem 2000 Euro bezahlt, um mich aus dieser Hölle zu befreien.” (Franz Josef Wagner)

Von Siegfried Zagler

Was für ein wunderbares Statement, was für ein Auftakt zu einem Artikel in der heutigen Bild, die ihren Kolumnisten Franz Josef Wagner zusammen mit dem Augsburger Fotografen Daniel Biskup ins Festspielhaus von Bayreuth schickte, um herauszufinden, welchem Geist das Publikum huldigt, wenn es auf den Grünen Hügel zu Bayreuth pilgert. “Was sind das für Menschen?”, fragt Franz Josef Wagner und versucht zusammen mit Biskup eines der größten Rätsel der deutschen Hochkultur zu entschlüsseln: den Wagner-Kult.

Natürlich ist es die Liebe zu dieser entrückten Musik, die Menschen aller Kulturen in ihren Bann zieht, weshalb es kaum eine Rolle spielt, wer aktuell in Bayreuth den Ring bebildert. In vergangenen Jahren war es kein geringerer als Frank Castorf, der die Welt der Nibelungen zwischen der Nomenklatura der DDR und der New Yorker Börse ansiedelte und somit einen gewagten Sprung vom Untergang des Sowjet-Reiches hin zum Untergang des real existierenden Kapitalismus schlug. Am 28. August ist damit Schluss. Mit der letzten “Götterdämmerung” endet der Castorf-Ring.

Wer sich für einen Glücksritter hält und bereit ist, die Hölle auf Erden zu ertragen, sollte sich auf die Socken machen. Mit viel Glück bekommt man zurückgegebene Tickets von den seit Jahren ausverkauften Vorstellungen an den Abendkassen.

Möglicherweise hätten sich Wagner und Biskup die real existierende Hölle im Bayreuther Festspielhaus ersparen können, hätten sie nur ein wenig bei Wikipedia nachgelesen. Dort findet man eine einleuchtende Beschreibung, die das Narrativ der Macht zum Faszinosum der Nibelungen erhebt. Es geht um den sogenannten “Jahrhundertring” im Jahre 1976, als Patrice Chéreau die Perversion der Macht ins Spiel brachte. Die zentrale Botschaft des Rings, so Chéreau, sei für ihn die Analyse der politischen Macht. „Der Ring ist eine Beschreibung der schrecklichen Perversion der Gesellschaft, die sich in dieser Erhaltung der Macht begründet, der Mechanismen eines starken Staates und der Opposition.“ So wird Patrice Chéreau von Nora Eckert zitiert.*

Wagner als musikalischer Erzähler, dessen Werk als Untergangsszenario einer Klasse zu betrachten ist, die zwar herrscht und herrschen will, dafür aber weder die Legitimation noch die Kraft und am allerwenigsten die Kompetenz besitzt?!

Das hat damals alle beeindruckt – und hätte heute noch das Zeug, um den Ring besser zu verstehen – und natürlich die Menschen besser zu verstehen, die sich Jahr für Jahr in zirka 30 Vorstellungen dem schwer erträglichen Klang der Ewigkeit aussetzen, um die anstrengende Hölle ihres Alltags nach dem relativ kurzen Aufenthalt in der wahren Hölle als etwas Schönes zu begreifen. Ein Untergang hat immer auch etwas Befreiendes, da ein wahrer Untergang immer den Beginn von etwas Neuem in sich trägt. Untergänge sind also immer anziehend und spannend. Im Bayreuther Festspielhaus setzt man sich mit ungeheurer Intensität der Ästhetik des Untergangs aus, mit Begeisterung und risikofrei (wenn man von Rückenschmerzen absieht) und mit etwas Glück zusammen mit Angela Merkel, die, wenn man den Prognosen Glauben schenken will, in ihre vierte Amtszeit als Bundeskanzlerin geht.

Bundeskanzlerin Merkel scheint auf dem Grünen Hügel nämlich zu lernen, was zu tun und zu vermeiden ist, wenn es darum geht, Angriffe auf die Macht abzuwehren. Für Franz Josef Wagner und seine Leser mag das zu weit hergeholt sein. Ist es vermutlich auch. Doch wie soll man sonst die Stärke der deutschen Bundeskanzlerin erklären? Mit dem Untergang der deutschen Sozialdemokratie? Mit Gerhard Schröder und Martin Schulz? Dieses eher langweilige Melodram sollte man Historikern überlassen – und Journalisten. Schließlich handelt dieser Untergang in der Wirklichkeit – bedauerlicherweise, denn dafür scheint sich heute kaum noch jemand zu interessieren.

* Nora Eckert : Der Ring des Nibelungen und seine Inszenierungen von 1876 bis 2001. Europäische Verlagsanstalt/Rotbuch Verlag, Hamburg 2001 – S. 266