Uli Hoeneß: Seit Jahrhunderten auf der Bühne
Warum die Debatte über die Öffnung des Theaters in eine falsche Richtung zielt
Von Siegfried Zagler
Noch nie kam ein Intendant ans Augsburger Stadttheater, der vorher an einem anderen Haus Intendant war. Noch nie kam ein Schauspieler oder ein Dirigent nach Augsburg, der vorher in einem anderen Haus etwas Außergewöhnliches leistete. Noch nie hat sich ein Kulturausschuss in Augsburg Gedanken darüber gemacht, was das Augsburger Stadttheater im Sinne einer zivilisatorischen Weiterentwicklung der Stadt leisten könnte. Den Fliegenden Holländer so gut wie möglich machen, den Zerbrochnen Krug so nah wie möglich an die Qualität der Kammerspiele heran führen, einen Nathan wieder mal ins Programm nehmen, weil lang nicht mehr gespielt: diese Programm- und Qualitätsvorstellungen waren bisher der unausgesprochene kulturpolitische Auftrag der Stadt Augsburg an die Intendanz ihres Stadttheaters. Das Augsburger Stadttheater unterschied sich somit viele Jahrzehnte (auch in seinem Bürgerschreck-Klimbim) nicht von dem Programm-Kanon anderer Stadt- und Staatstheater, ohne dabei besonders mit Qualität aufzufallen. Gibt es Ranglisten in der deutschen Theaterlandschaft? Natürlich! Es gibt überall Tabellen. Das Augsburger Stadttheater spielt in diesen seit Jahr und Tag keine ernst zu nehmende Rolle.
Die Champions League der Hochkultur spielt anderswo
Das Augsburger Stadttheater kann sich etablierte und somit anerkannt gute Künstler nicht leisten, sondern muss darauf hoffen, dass talentierte Künstler in Augsburg zu richtig guten Künstlern werden, um dann in ein Theater zu wechseln, das mehr Ruhm und Münze verspricht. So könnte man zum Beispiel anhand der „Lohntabellen“ der verschiedenen Häuser erkennen, in welchen Theatern die besten ihrer Zunft beschäftigt sind. Im Augsburger Stadttheater findet „Hochkultur“ demnach nur auf dem Papier als Hypothese statt, und als als Hypothese auch nur deshalb, weil es sich – wie alle Repräsentationsbühnen – dem europäischen Kulturkanon verpflichtet fühlt. „Kunstmäßig“ spielt die Champions League des Theaters in Hamburg, Berlin, München, Köln und nicht selten in Stuttgart.
Man muss in Augsburg nicht ins Theater gehen
Wem dieses Raster zu billig daherkommt, der hätte sich vergangenen Sommer mit einer 900-Euro-Schwarzmarktkarte für den Fliegenden Holländer nach Bayreuth begeben können, um zwei Tage später dem Augsburger Philharmonischen Orchester bei der Umsetzung der gleichen Oper zu lauschen. Wer am eigenen Leib erfahren will, was das Wort „Kulturschock“ tatsächlich bedeutet, hätte diese Erfahrung mit der Achse Augsburg-Bayreuth in seiner grausamsten Ausformung organisieren können. Die Stadt hätte den Kulturausschuss mit dieser Reise durch zwei Galaxien beauftragen müssen, um hinterher die Frage zu stellen, ob es überhaupt Sinn mache, in Augsburg Wagner zu spielen – und dazu noch auf der Freilichtbühne. Ähnlich hätte man vor zwei Jahren mit dem Zerbrochnen Krug (Regie: Markus Trabusch) verfahren können. So gesehen ist wohl die Schwellenangst der Bildungsbürgerschicht, die sich in Augsburg ohnehin zu einer bedeutungslosen gesellschaftlichen Randerscheinung entwickelt hat, bezüglich eines Theaterbesuches größer als jene Schwellenängste, die den so genannten bildungsfernen Bürgern nachgesagt werden.
Die Differenz zwischen Kultur und Kunst darf nicht zu groß werden
Man muss in Augsburg nicht ins Theater gehen. Das gilt für alle sozialen Schichten. Dort wird nichts von Relevanz verhandelt. Wäre es anders, könnte man zum Beispiel auch ernsthaft darüber lamentieren, warum weder die Augsburger Muslime noch die so genannten Bildungsbürger kaum Interesse für das Augsburger Stadttheater zeigen. Auch wenn sich diese Relevanzlücke langsam durch eine beachtliche Programmarbeit der aktuellen Intendantin zu verkleinern beginnt, ist in diesem Zusammenhang festzuhalten, dass die Repräsentationsbühnen im deutschen Theaterparadies immer Gestaltungsdruck auszuhalten hatten. Druck seitens der Politik, seitens der Kritik und seitens des Publikums. Und das ist auch notwendig, denn sonst würde sich der Hang zur Selbstreferenz in der Theaterkunst ins Uferlose entwickeln.
„Kultur wird gelebt, Kunst wird gemacht“, so Augsburgs Theaterleiterin Juliane Votteler, die damit auch zum Ausdruck bringen will, dass die Kunst geschützt werden müsse. Nur sollte man hinzufügen, dass die Differenz zwischen Welt (Kultur) und deren Abbildung auf der Bühne (Kunst) nicht zu groß werden darf, sonst verliert das Theater seine gesellschaftliche Relevanz. Ist das Theater wiederum „zu nah dran“ an der Welt, verschwindet die Differenz zwischen Kultur und Kunst und das Theater würde sich zu einer sozialpädagogischen Einrichtung verwandeln, also zu einem „Alles-und Nichts-Ort“, zu einem Marktplatz der Trends, wo die Kunst, wie wir sie kennen, bestenfalls Beiwerk wäre.
“Ich kenne den Faust”
Über die Krise des Theaters im Allgemeinen ist viel geschrieben worden. Selbstverständlich gäbe es in Sachen Stadttheater vieles zu überdenken, nur eins nicht, nämlich dass man von ihm verlangt, seine über Jahrzehnte austarierte Balance aufzugeben, um sich verstärkt einem bestimmten Publikum mit einem bestimmten Migrationshintergrund hinzuwenden. Was Shermin Langhoff mit dem Ballhaus geleistet hat, geht in Kreuzberg und vielleicht sogar noch in Neukölln, aber schon sicher nicht mehr in Charlottenburg. Wer will, dass sich das Augsburger Stadttheater interkulturell öffnet, sagt nichts anderes, als dass es bisher in dieser Hinsicht verschlossen war. Dahinter wiederum steht der Subtext, dass das Augsburger Stadttheater ein Störfaktor in Sachen Integration ist. Dieser Vorwurf wird dann deutlich, wenn zum Beispiel „Kulturmanager“ Düzgün Polat (wie am vergangenen Donnerstag auf einer Podiumsdiskussion von Pro Augsburg geschehen) ins Feld führt, dass man überlegen könnte, wie man zum Beispiel die Zauberflöte aus der Sicht „eines Migranten“ inszenieren könnte, oder eben Faust. Wenn man in Augsburg und anderswo von „Migranten“ spricht, meint man natürlich zuerst die Augsburger Bürger mit muslimischen Hintergrund, weil man dort die größten Integrationsdefizite vermutet. „Ich kenne den Faust“, so Polat. Nun gut, wenn das so ist, dann hätte man ihn fragen sollen, ob er es ausschließen könne, dass man zum Beispiel, würde der „Prolog im Himmel“ nicht von Gott und Teufel, sondern von Allah und Schaitin gespielt, die Regisseure und Schauspieler nicht lebenslang in ein staatliches Schutzprogramm aufnehmen müsste.
Die Debatte muss sich vom Diktat der interkulturellen Öffnung lösen
Natürlich wäre eine Faust-Inszenierung aus „der Sicht eines Migranten“ im Kontext des Islams eine gesellschaftliche Provokation, ein künstlerisches Wagnis undsoweiter. Aber es wäre kein Beitrag zur Integration, da man davon ausgehen darf, dass kein „Migrant“ mehr ins Theater geht, weil dort „sein“ Faust um Fatima wirbt. Wenn man „unsere Migranten“ (auch ein verräterisches Wort) in „unser Theater“ bringen will, dann muss man möglicherweise neben dem Ballett, der Oper und dem Schauspiel eine vierte Sparte entwickeln, für diese Sparte einen eigenen „Direktor“ und eigene Dramaturgen einstellen. Dann müsste man allerdings von einer interkulturellen Erweiterung des Theaters sprechen. Die aktuelle Debatte über die Öffnung des Theaters muss sich von dem Diktat der „interkulturellen Öffnung“ lösen. Es darf in dieser Debatte nicht darum gehen, wie man ein bestimmtes Klientel ins Theater locken könnte, sondern darum, wie ein Theater für alle soziale Schichten aussehen würde. Bildungsdefizite sind nicht als „Migranten-Probleme“, sondern als Milieu-Probleme zu begreifen. Ein Theater, wie wir es kennen, hat nicht die Defizite einer jahrzehntelang schlecht geführten Integrationspolitik zu moderieren oder einzuebnen, sondern aus radikaler subjektiver Sicht eines Textes heraus die Wunden und die Schmerzen dieser Politik zu dramatisieren.
„Was die Welt im innersten zusammenhält“, hat sich im Kern seit Shakespeare nicht verändert. Gustl Mollath und Uli Hoeneß sind in der deutschen Theaterlandschaft seit Jahrhunderten auf der Bühne, sie heißen dort nur anders. Dennoch fehlt in vielen Häusern dafür der politische Spirit, der Zorn und die Flexibilität, unsere Abgründe außerhalb der durchschlagenden Wirkungslosigkeit eines Klassikers auf die Bühne zu stellen. Es steht außer Frage, dass das Augsburger Stadttheater per Definition ein Ort sein sollte, wo Themen von Bürgern aus allen sozialen Schichten verhandelt werden – und wenn es sein muss, schmerzvoll verhandelt werden. Denn sonst könnte man sich ein Stadttheater sparen.