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Dienstag, 23.07.2024 - Jahrgang 16 - www.daz-augsburg.de

Kommentar zur Kommunalwahl: Warum die Unwählbaren unwählbar sind

Die Entdeckung der Unwählbarkeit – Anmerkungen zu einem politischen Gespenst, das in der zweiten Stadtratsperiode unter Oberbürgermeister Gribl entstand 

Kommentar von Siegfried Zagler

Im aktuellen Augsburger Stadtrat sitzen neun Stadträte, die, nachdem sie für eine bestimmten Liste/Partei in den Stadtrat eingezogen waren, zu einer anderen politischen Gruppierung wechselten. 15 Prozent der aktuellen Stadträte darf man somit “mutmaßliche Wählerbetrüger” nennen. Sie haben nämlich Wähler betrogen, die aus weltanschaulichen Gründen, nicht sie als Persönlichkeit, sondern ihre Liste wählten.

Dass sich Stadträte irreparabel mit ihrer Partei verwerfen, ist nichts Besonderes, führt aber nie zu der Lösung, dass diese Stadträte aus dem Rat ausscheiden, um einem Nachrücker die Möglichkeit zu geben, sich weiter für die Inhalte und Ziele der Partei zu engagieren. Stattdessen verstärken von ihrer Gruppierung menschlich enttäuschte Stadträte meist die politische Konkurrenz, also möglicherweise genau die Gruppierung(en) gegen die sich indirekt ihre Wähler aussprachen.

“Wählerbetrug” ist ein klares und hartes Urteil. Ein Urteil, das leicht zu verstehen ist, aber nicht für alle zu anderen Fraktionen gewechselten Stadträte eindeutig zutrifft. Zum einen ist eine Stadtratswahl auch immer eine Persönlichkeitswahl, zum anderen ist, wie bereits in der Frühgeschichte der Demokratie kolportiert wurde, “alles fließend” (panta rhei). Wer will denn wissen, wie sich der Wähler nach seiner Stimmabgabe weiterentwickelt hat? Möglicherweise liegt er mit “seiner” Partei ebenso über Kreuz wie der Stadtrat, der das Lager gewechselt hat.

Mit dem Begriff des Wählerwillens lässt es sich ohnehin gut Schindluder treiben, doch selten ist dieser “demokratische Brauch” nach einer Wahl so auf die Spitze getrieben worden, wie 2014 von Augsburgs Oberbürgermeister Kurt Gribl, der die von ihm vorangetriebene Entpolitisierung des Augsburger Stadtrats als höchstmöglichen Ausdruck des Wählerwillens bezeichnete. Das Resultat lässt sich benennen: Keine der beteiligten Regierungsparteien (CSU, SPD; Grüne) konnte in diesem Bündnis bei ihrem traditionellen Wählerklientel punkten. Die Unzufriedenheit der Stadtgesellschaft lässt sich mit den Händen greifen und die einstige Staatspartei CSU muss zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte damit rechnen, dass ihre OB-Kandidatin in Augsburg unter 30 Prozent liegt und es möglicherweise nicht in die Stichwahl schafft. Sechs Bürgerbegehren, fünf neue Gruppierungen, die für den Stadtrat kandidieren, sprechen eine deutliche Sprache.

Wer die Opposition in einem Parlament auf ein marginales Minimum reduziert, muss sich nicht wundern, wenn sich Oppositionen an anderen Stellen (z.B. auf der Straße) formieren. Neben der AfD, die mit ihrem völkischen Geschwätz die identitäre Nationalbezogenheit fördert und somit nach den Geistern der Vergangenheit ruft, gehören in Augsburg drei neue politische Gruppierungen zur einer neuen politischen Kategorie, zur Kategorie der Unwählbaren: WSA, Die Partei und Generation Aux. Allesamt Gruppierungen, die im Augsburger Oppositionsvakuum der vergangenen Jahre geboren wurden.

Die Partei: Wer Satire machen will, sollte das Parlament nicht als Bühne missbrauchen

Wer Satire machen will, soll sich dafür andere Orte suchen als die Parlamente. Politik ist die Kunst, das Machbare zu machen. Der politische Alltag ist eine schwierige Kunst, eine arbeitsintensive Kunst, die oft stundenlange Aktenarbeit verlangt, jede Menge Sitzfleisch, Analysefähigkeit, Diskursfähigkeit, Toleranz und Kompromissfähigkeit voraussetzt und von den Akteuren nicht selten schwierige Entscheidungsprozesse abverlangt. Auf der Liste der DIE PARTEI sind entsprechende Persönlichkeitsprofile nicht vorhanden. Einen politischen Kompass anzusetzen, wäre bei dieser Gruppierung sinnlos. Stadtrat zu sein, bedeutet einen langen Marsch durch die Mühen der Ebenen, bedeutet viel Arbeit und wenig Anerkennung.

Wer sich zum juvenilen Proleteriat zählt, das der Augsburger Stadtjugendring offenbar betreut (“Bringst du´s Frau Weber?”). Wer sich sich also der Politik zuwendet, ohne Gemeinwohl-Forderungen zu formulieren, ohne etwas zu wollen, sollte lieber bei DIE PARTEI ein Kreuz machen, bevor er aus weltabgewandter Ahnungslosigkeit der AfD seine Stimme gibt.

WSA: Wer links und rechts nicht unterscheiden will, hat im Stadtrat nichts verloren

Die WSA hat sich gebildet, nachdem Peter Grab nach seiner öffentlich gemachten Sexaffäre bei Pro Augsburg nicht mehr erwünscht war. Bei der Kommunalwahl 2014 reduzierte Pro Augsburgs OB-Kandidat Peter Grab die PA-Sitze von 6 auf 3. Grab war damals amtierender Bürgermeister und Kulturreferent. Pro Augsburg war und ist eine Liste, deren politischer Kompass wohl rechts von der FDP ausschlagen würde, würde man es darauf anlegen. Bei “Wir sind Augsburg” (WSA) gibt es keinen politischen Kompass. Diese Liste setzt sich bis auf einige Ausnahmen aus Persönlichkeiten mit erkennbarer Bildungsferne und merkwürdig unklaren Biografien zusammen. Ein Ex-Pokerweltmeister ist dabei, der als “Projektmanager” firmiert, ein “Sänger”, ein “Hypnose-Coach”, ein “Automobilverkäufer”, ein “Medienschaffender”, Lagerarbeiter, Bauarbeiter, Hausmeister, drei Friseurinnen, ein “Sicherheitsmitarbeiter”, ein “Trauerredner”, auf Platz 4 eine “Trauerberaterin”. Peter Grab selbst firmiert als “wissenschaftlicher Mitarbeiter”. Kurzum: Eine Liste, die aus einem frühen Fassbinderfilm entsprungen scheint.

Wie Peter Grab selbst kürzlich in A-tv sagte, sei dort ein breites Spektrum an Meinungen vertreten, nur nicht links- oder rechtsradikal. Damit will Grab wohl zum Ausdruck bringen, dass alle politischen Strömungen auf der WSA-Liste anzutreffen sind, bis auf die politischen Ränder. Also stehen auf dieser Liste, wenn man Grab glauben will, Personen, die linke wie rechte Weltbilder pflegen.

Doch wie will er das wissen? Sind die türkischstämmigen Listenmitglieder Kurden, Gülen-Anhänger, Graue Wölfe und/oder Anhänger eines Despoten namens Erdogan? Ernstzunehmende Wähler dieser Liste sollten das selbstverständlich wissen. Wofür steht eine Anita Ponzio (Platz 4), die auf Facebook die Aufregung über die erste Thüringer Ministerpräsidentenwahl nicht verstehen wollte, da es sich um einen korrekten demokratischen Vorgang gehandelt habe. Wofür steht ein Guido Fiedler (“Sportlehrer”), dem ein Verfahren wegen Körperverletzung anhängt, in dessen Kampfsportstudio über einen längeren Zeitraum die Reichskriegsflagge hing, in dessen Studio nachweislich Rechtsextreme trainierten? Dass Peter Grab kein Gefühl, keinen Kompass dafür hat, wo rechts aufhört und rechtsradikal anfängt, hat er belegt, indem er in der vergangenen Stadtratsperiode kurzfristig mit der Augsburger AfD eine Ausschussgemeinschaft bildete.

Auf der WSA-Homepage werden 24 Stichpunkte als Wahlprogramm verkauft. Einige Punkte sind längst auf der Agenda anderer Gruppierungen oder längst beschlossen und in Planung, wie zum Beispiel das Umweltbildungszentrum, der Masterplan Bäder, oder liegen in der Verwaltung bereit, wie das Römische Museum, um dann realisiert zu werden, wenn dafür Mittel vorhanden sind. Alleinstellung hat WSA bei zwei verkehrspolitischen Forderungen: Tunnel vom Leonhartsberg bis zum Kennedyplatz plus Fuggergarage. Projekte, die man leicht fordern kann, ohne die Kosten zu benennen, da sie politisch ohnehin undurchsetzbar sind. Ein “Wahlprogramm” ohne erkennbare Geisteshaltung, wenn man davon absieht, dass Oberflächlichkeit auch eine Haltung ist. Eine Diskussion über Inhalte, die Grab oft und gerne einfordert, wäre demnach in wenigen Minuten erledigt.

Die Frage lautet also, wie viele Wähler so dumm sind, eine Liste zu wählen, auf der Personen stehen, die ihrer politischen Weltanschauung zu 100 Prozent entgegenstehen? Ein Sachverhalt, der der Fall sein muss, wenn Wähler bürgerlich konservativ, oder bürgerlich links wählen wollen. Unterstellt man Peter Grab und Anna Tabak eine gewisse Gerissenheit, dann spekulieren sie darauf, dass sie auf das bildungsferne Prekariat erreichen, das in der Regel eher zur großen Gruppe der Nichtwähler zählt. Tabak und Grab haben mit dieser Liste einen Tiefpunkt in der politischen Stadt formuliert, eine neue Dialektik des Nichts erfunden: Eine Liste, die jenseits von Gut und Böse steht. Peter Grab hat nach 12 Jahren Stadtrat nichts dazugelernt. Er ist und bleibt der politisch unbegabte Narzisst, der seinen Narzissmus in der politischen Arena bespiegelt, und dies auf einem erbärmlichen Niveau. Grab und Tabak haben eine Liste zusammengestellt, die nur einem Zweck dient, nämlich Tabak und Grab in den Stadtrat zu bringen.

Generation Aux: Wer keine Inhalte, kein Programm und keine politische Geschichte hat, erwartet von der Wählerschaft einen Vertrauensvorschuss …

Generation Aux und WSA haben etwas gemeinsam, das sie zugleich messerscharf trennt: Auf beiden Listen sitzen zu viele Milieu-Vertreter. Bei Aux sind das jüngere Persönlichkeiten aus dem kreativen Performer-Milieu, die bereits viel erreicht haben, aber offensichtlich an dem Unbehagen zu leiden hatten, dass sie politisch nicht engagiert sind. Jungunternehmer, Unternehmer, Geschäftsführer, Performer, Künstler usw. mit beachtlichen beruflichen Biografien und Karriereerfahrungen, die sie nun mit projektbezogenen Ideen in die politische Stadt einbringen wollen. Dass Projektpolitik bzw. Milieu-Vertreter-Listen zum Scheitern verurteilt sind, ist eine Binsenweisheit, die man nicht weiter vertiefen muss.

… den man besser unterlassen sollte

Es ist nicht so, dass eine Unternehmerliste, die Interessen der Unternehmer politisch besser vertreten kann, als eine Liste, in der kein einziger Unternehmer vorkommt. Eine Schwulenliste, die Interessen der Schwulen besser vertreten kann, als eine Hetero-Liste, eine Frauenliste, die Interessen der Frauen besser vertreten kann, eine Seniorenliste, die Interessen der Senioren, eine Migrantenliste die Interessen der Migraten, eine Behindertenliste … usw. – Listen, die spezielle Milieus und Stände vertreten, sind Lobby-Vereinigungen, die schnell am Ende sind, wenn der Wahlkampf vorbei ist und die Mühen des parlamentarischen Alltags beginnen. Ein grundsätzlicher Webfehler von sogenannten “Bürgerlisten” ist darüber hinaus die Annahme, dass man das Handwerk der Politik schnell erlernen kann, da man a) weiß, wie schlecht unsere Politiker sind und b) sich sicher ist, das Ganze viel besser machen zu können.

Aux-Frontmann Raphael Brandmiller ist die einzige Persönlichkeit auf der Aux-Liste, die eine politische Vita hat. Der Rest, also 59 Personen, sind in der politischen Stadt unbekannt. Deshalb wäre es klug gewesen, einen personenbezogenen Wahlkampf zu machen. Schließlich verlangt Generation Aux von seinen potentiellen Wählern eine große Portion Vertrauensvorschuss. Kein Wahlprogramm vorstellen, aber mit Inhalten und Ideen glänzen wollen, ist nur dann kein Widerspruch, wenn man den Personen der Liste ihre besonderen Talente, ihre Kreativität abnimmt. Kalendersprüche auf Plakaten und Pressemitteilungen mit zwei-drei vorgestellten Ideen reichen dafür nicht aus.

Ein weiteres No-Go bezeugt Brandmiller selbst, indem er nicht müde wird hervorzuheben, dass die meisten Listenmitglieder sich bisher nicht für Politik interessierten. Desinteresse kommt nicht von Ungefähr, es ist gut möglich, dass sich diese “Eigenschaft” nach einem kurzem Strohfeuer wieder einstellt. Politisch ungeschulte Geister sind im Betrieb der Politik ohnehin gefährlich wie eine losgerissene Kanone unter Deck: Man weiß nie, wo sie hinrollt, weiß nicht, wann sie losgeht und man muss immer damit rechnen, dass sie das eigene Schiff versenkt.

Igor Dordevic (Platz 6) ist eine losgerissene Kanone unter Deck. Der aktuelle Zwist bei Generation Aux ist pars pro toto ein wunderbares Beispiel dafür, was passieren könnte, sollte die Liste in Fraktionsstärke in den Stadtrat einziehen. “Es ist so, als würde jemand bei den Grünen kandidieren, der plötzlich für Atomstrom plädiert”, sagte Brandmiller zur DAZ auf die Frage, wie er denn die Causa Dordevic bewerte. Die Dordevic-Geschichte ist kein Unfall, sondern ein Systemfehler, der jederzeit wieder passieren kann. Das Gleiche gilt natürlich für die WSA-Liste, die von Marcella Reinhardt versenkt werden könnte.

Beide Listen haben ihre Briefwähler bereits in die Irre geführt, bevor die eigentliche Wahl beginnt. Unberechenbarkeit ist in der Politik keine Option.