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Donnerstag, 25.04.2024 - Jahrgang 16 - www.daz-augsburg.de

Impressionen aus dem Nachbarland Frankreich

Über Fußball-Leid, Partymeilen und Wahlmüdigkeit

Von Udo Legner

Wer, wie DAZ-Autor Udo Legner, das Glück hat, Paris sein zweites Zuhause zu nennen und zudem die Zeit findet, sein Zelt abwechselnd an der Seine- und am Lech aufzuschlagen, kommt nicht umhin bei der Lektüre der morgendlichen Schlagzeilen den Blick auf die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den beiden Nachbarländer zu richten.

Paris, Frankreich

Terrasse des Cafés Le Carillon, Tatort eines Terroranschlags im November 2015 – Foto: Udo Legner

Dass gerade Müller und Mbappé in  der Schlussphase der Achtelfinale und fast im Gleichschritt einen Schulterschluss vollzogen, der zum Ausscheiden ihrer Teams führte und erst den französischen und dann den deutschen Fans jegliche Sektlaune verdarb, gab dieser EM einen besondere Note. 

Selbst nach der Auftaktniederlage von Jogis Elf gegen die Équipe Tricolore bemühten die französischen TV Reporter bis zum Abpfiff der Partie gegen England aus Hochachtung gegenüber der einstigen Fußball Großmacht Allemagne das für sie fast unaussprechliche Wort „Nationalmannschaft“.

Dass von solcher Wertschätzung weder im deutschen Blätterwald noch in Fernsehkommentaren selbst vor Turnierbeginn nur wenig die Rede war, lag an der Flickschusterei der DFB-Granden, die trotz des unaufhaltsamen Niedergangs der Nationalmannschaft an Bundestrainer Jogi-Löw und seinem/ihrem Laissez-faire-Führungsstil festhielten und den Neubeginn mit Hansi Flick als neuem Hans im Glück auf die Zeit nach der EM  terminierten.

Wurde das Scheitern der Franzosen gegen die Schweiz als Sensation eingestuft, so war das erneute frühe Ausscheiden der deutschen Elf nur Wasser auf die Mühlen der Löw-Kritiker, die jetzt darauf hoffen können, dass die Folgen des Klimawandels unter seinem Nachfolger noch rechtzeitig zur WM in Katar sichtbar werden.

Maximilianstraße vs. Place de la Republique

Deutlich mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten  als beim Fußball sind bei dem Thema Folgen des Corona-Lockdowns zu verzeichnen. Während die ersten Lockerungen nach dem Lockdown in Augsburg wiederholt zu wüsten Auswüchsen in der Maximilianstraße sowie den bekannten unliebsamen Begleiterscheinungen in der gesamten Augsburger Innenstadt führten, war davon in Paris wenig zu spüren.

Vorbildliche In- und Output Vorkehrungen

Schon frühzeitig wurde in Paris nämlich das Ende der Corona-Restriktionen mit massivem Ausbau der Außenbewirtung der Gastronomie eingeläutet, die mit drastischer Reduktion und dem Rückbau des Autoverkehrs einherging.

Öffentliche Toilette in Toulouse – Foto: U. Legner

Die vielen öffentlichen Toiletten, die es inzwischen in ganz Frankreich gibt und deren Benutzung natürlich gratis ist, leisten nicht nur wertvolle Dienste, sondern informieren auch über die deftigen Bußgelder für Wildpinkler. Während man in Augsburg dafür 35 Euro abkassiert, kostet das gleiche Vergehen in Paris 450 Euro.

Zwangsläufig hinkt der Vergleich zwischen Augsburg und der Millionenstadt Paris, nicht zuletzt weil sich die Sehenswürdigkeiten und die coolen Orte der Seinemetropole auf viele Viertel verteilen. Für gewöhnlich strömen die Touristen in das Künstlerviertel Montmartre, das Quartier Latin und ins Marais und haben natürlich auch die Champs Elysees und den Eiffelturm auf ihrer „To-See-Liste“ stehen. Das neue Abhäng-Viertel für die jungen Leute in Paris ist inzwischen nicht mehr das Quartier Latin, sondern der Canal St. Martin im gentrifizierten 10. Arrondissement, das bis zum Place de la République reicht, der nach wie vor Versammlungsort und Ausgangspunkt bei Kundgebungen und Demonstrationen, aber auch beliebter Schauplatz von Kulturspektakeln ist.

Wie in der Augsburger Innenstadt wurde während der Corona-Pandemie der Alkoholkonsum am Canal St. Martin drastisch eingeschränkt bzw. auf die ausgeweitete Außenbewirtung der anliegenden Cafés und Restaurants verlagert. Anders als in Augsburg ließen es die zahlreich vorhandenen und über die ganze Stadt verstreuten Angebote allerdings erst gar nicht zum Überborden der Kanalufer kommen, geschweige denn zu Ausschreitungen und Gewaltausbrüchen gegen die Polizei.

Wahlmüdigkeit landauf, landab

Was für ebenso viele Schlagzeilen wie das Ausscheiden der Equipe Tricolore bei der Fußball-EM sorgte, war die große Wahlmüdigkeit, die sich in der gesamten Republik breit machte. Auch bei der zweiten Runde der französischen Regionalwahlen betrug die Wahlbeteiligung lediglich 35 Prozent, nachdem am vorhergehenden Sonntag gar nur rund 33 Prozent der Wahlberechtigten den Weg zu den Urnen gefunden hatten, was einen historischen Tiefstand bedeutet.

Massive Rückschläge for Macron und Marie Le Pen

Von einem „demokratischem Alarm“ sprach der französische Regierungssprecher Gabriel Attal schon nach der ersten Wahlrunde, die sowohl der Partei des amtierenden Präsidenten Emmanuel Macron, La République en Marche (LRM), als auch der radikalen Rechten unter Marie Le PEN, Rassemblement National (RN), herbe Verluste bescherte.  Anstatt – wie noch in den Umfragen vorhergesagt – mehrere Regionen in Nord- oder Südfrankreich zu erobern, fielen die Lepenisten im ersten Wahlgang auf insgesamt 19 Prozent zurück, wofür wohl zwei Gründe ausschlaggebend gewesen sein dürften. Zum einen die mit 31 Prozent historisch niedrige Wahlbeteiligung, zum anderen – was besonders für die RN- Wähler galt – das Gefühl, vom politischen System ausgegrenzt zu werden. Dass sich auch Macrons Partei LRM beim ersten Durchgang dieser Zwischenwahl mit mickrigen 11 Prozent bescheiden musste, macht deutlich, dass der Staatschef auch nach fünf Regierungsjahren noch über keine lokale Verwurzelung verfügt.

Schwache Wahlbeteiligung in Frankreich

Hoffnungen auf höhere Wahlbeteiligung beim zweiten Wahlgang waren vergeblich. Was fast noch alarmierender als das Wahlergebnis war, waren die Wahlanalysen: Neben den sozialschwachen Milieus waren es vornehmlich die jungen Leute, die sich der Wahl enthielten. Die Gründe für diese Wahlverdrossenheit dürften maßgeblich am Ex-Cathedra-Regieren im vergangenem Pandemiejahr liegen. Was Frankreichs Präsident verordnet und verordnete, das gilt und galt landauf und landab, ganz gleich, ob es die strengen Ausgangs- und Reisebeschränkungen waren oder – trotz regional hoher Corona-Inzidenzzahlen – das Festhalten am Präsenzunterricht in allen Schulformen – allein die französischen Universitäten liefen wie in Deutschland im digitalen Distanzunterricht-Modus.

Das Wahlergebnis des zweiten Durchgangs der Regionalwahlen war für das Gros der angetretenen Parteien ein erneutes Waterloo. Le Pens Partei hatte sich nach dem ersten Durchgang noch Hoffnungen gemacht, wenigstens die Region Provence-Alpes-Côte-d’Azur mit den Großstädten Marseille und Nizza zu erobern, doch ihr Kandidat Thierry Mariani kam letztendlich auf lediglich auf 42,7 Prozent. Dass diese Schlappe für Marie Le Pen nicht zuletzt auf das Wahlverhalten der Erst- und Jungwähler*innen zurückzuführen ist – bei den 18- bis 24-Jährigen schaffte der Rassemblement National gerade Mal zehn Prozent, während er bei den Präsidentschaftswahlen 2017 noch an zweiter Stelle lag – verdient im Hinblick auf das Wahljahr 2022 besondere Beachtung.

Wie Marie Le Pens RN zählen auch die kommunistische Partei Lutte ouvrière und Macrons La République en Marche zu den unbeliebtesten Parteien unter jungen Französ*innen. Die Grünen dagegen kommen mit mehr als 20 Prozent Vorsprung gegenüber allen anderen Parteien auf den ersten Platz in dieser Altersgruppe – eine Premiere für Frankreich.

Alles neu macht der Mai?

Was die Kandidatenkür für die im Mai 2022 anstehenden Präsidentschaftswahlen anbelangt, dürfen sich neben den Wahlverlierern Marie Le Pen und Emmanuel Macron – von links nach rechts – Jean-Luc Mélanchon, Anne Hidalgo (amtierende Bürgermeisterin von Paris) und Xavier Bertrand (rechtsbürgerlicher Spitzenkandidat und aktueller Wahlgewinner in der nordfranzösischen Wahlheimat von Marie Le Pen) die besten Chancen ausrechnen. Die französischen Grünen entscheiden – basisdemokratisch comme il faut – erst bei den Primaires über ihren Kandidaten, wobei Yannick Jadot als Favorit ins Rennen geht.

Auch die durch die Corona-Pandemie verstärkte Stadtflucht – die durch Homeoffice Angebote und Miet- und Immoblienpreis-Entwicklung in den Großstädten verstärkt wurde – könnte Auswirkungen auf das Wahlverhalten der Franzosen im nächsten Jahr haben. Was die Autorin Juli Zeh im Hinblick auf das wachsende Stadt-Land Gefälle in Deutschland so treffend formulierte, gilt sicherlich auch für das Nachbarland Frankreich: „Mir erscheint heute die geografische Trennung zwischen Zentrum und Peripherie als die neue Demarkationslinie, die früher zwischen den Klassen verlief. Der Tag, an dem zwischen diesen beiden Kreisen Feindschaft entsteht, ist der Tag, an dem der gesellschaftliche Frieden bröckelt.“