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Dienstag, 23.07.2024 - Jahrgang 16 - www.daz-augsburg.de

Hollywood im Theater: Platonow ist großes Kino

Gastregisseur Christian Weise, der in der letzten Spielzeit die Heilige Johanna der Schlachthöfe höchst originell in Szene setzte, präsentiert dem Augsburger Publikum nun einen außergewöhnlichen Tschechow.

Von Halrun Reinholz

Zentrale Gestalt: der Dorfschullehrer Platonow, hervorragend gegeben von Christoph Bornmüller, hier mit der gutgläubig-naiven Sascha (Lea Sophie Salfeld)

Zentrale Gestalt: der Dorfschullehrer Platonow, hervorragend gegeben von Christoph Bornmüller, hier mit seiner gutgläubig-naiven Ehefrau Sascha (Lea Sophie Salfeld) - Foto: A.T. Schaefer


Das Theater kann auch Kino. Zumindest kommt es dem Zuschauer zu Beginn des Stücks so vor, als säße er da. Zwar dreht sich die Drehbühne und gibt den Blick frei auf üppige Dekoration, doch eine Etage drüber hängt die Leinwand und beansprucht zunächst eine ganze Weile die Aufmerksamkeit des Zuschauers für sich. Wie der Regisseur die Medien wechselt, Bühne und Leinwand verbindet, das allein schon macht den Reiz der Inszenierung aus. Dreieinhalb Stunden Tschechow – das kann ganz schön anöden, hat sich wohl so mancher Theaterbesucher im Vorfeld gedacht und es vorgezogen, der Premiere fernzubleiben.

Zu Unrecht, wie sich herausstellte. Denn von der bei Tschechow üblichen Eintönigkeit des Lebens in der russischen Provinz war in dieser Inszenierung nichts zu merken. Stattdessen macht er aus den Figuren des Stückes Karikaturen ihrer selbst, die durch Großes Spiel und Überzeichnung die Absurdität des Lebens in der russischen Einöde mit der surrealen Traumwelt eines Hollywood-Films verquicken. „Bezaubernde Leute, die nichts zustande bringen“, so charakterisiert Vladimir Nabokov das Personal in Tschechows Stücken. Und er betont dabei, dass diese Leute so bezaubernd sind, weil sie nichts zustande bringen. Anna Petrowna Woinizewa (Ute Fiedler) ist gerade dabei, ihr Gut zu verlieren. Noch versammeln sich hier jedoch die skurrilsten Gestalten und zelebrieren die Ausweglosigkeit einer untergehenden Welt.

Die Dekoration ist wie im konventionellen Theater üppig, zeitgerecht und detailfreudig, ebenso die Kostüme. Zentrale Gestalt ist der Dorfschullehrer Platonow (hervorragend: Christoph Bornmüller), ein Zyniker, der kein Blatt vor den Mund nimmt und der Gesellschaft der Grundbesitzer und Nichtstuer den Spiegel vorhält. Er verachtet sie, ist aber ein Teil von ihr und seine Kritik zerrinnt im Nebel von Suff und Dekadenz. Er ist mit der gutgläubig-naiven Sascha (großartig: Lea Sophie Salfeld) verheiratet, aber alle anderen Frauen des Stückes versuchen, ihn zu verführen: Gutsbesitzerin Anna Petrowna ebenso wie die Frau ihres Stiefsohns Sofja oder die junge Maja. Stoff genug für einen Hollywoodschinken, bei dem die Akteure ihre Lust am Spiel zelebrieren können. Tabus kennt Regisseur Weise dabei keine. Jedes Klischee wird bedient, jeder Kalauer ausgekostet und keine Klamotte ausgelassen. Das nervt zuweilen schon, wird aber durch ungewöhnliche Ideen immer wieder aufgelockert. So taucht die Souffleuse wiederholt auf der Bühne auf, mit Stirnlampe, hat sogar einmal eine Solo-Arie in petto. Anspielungen auf andere Tschechow-Stücke („Willst du den Kirschgarten kaufen?“) fehlen ebensowenig wie platte Witze. Wie bei Johanna der Schlachthöfe hat Christian Weise auch diesmal Musik eingebaut. Der Multi-Instrumentalist Jens Dohle ist Teil der Inszenierung, er kriegt ein virtuoses Solo am Keyboard, taucht aber auch als Fabrikarbeiter auf. Mit fortschreitendem Spiel verschwimmen die Grenzen von Spiel und Realität immer mehr.

Im zweiten Teil wächst die Kinoleinwand auf Bühnengröße, das Geschehen wird tatsächlich zum Kitsch-Film. Der Selbstmord Sachas, die sich im flammenden Abendrot vor den Zug wirft, ist Hollywood pur. Gleichzeitig wird das Emotionale immer wieder gebrochen durch Abgleiten in die Realität – die Realität des Filmens, etwa. Da läuft der Kameramann über die Bühne, Szenen spielen sich in der Künstlergarderobe ab. Am Ende ist die üppige Dekoration verschwunden, aller Kostüme entblößt spielen die Akteure sich selbst. Und der Zuschauer blickt verwirrt und weiß nicht, was er von dem allen halten soll. Doch letztlich ist alles ein gutes Spiel, hervorragend ausgeführt von allen Darstellern. Ein Abend, der zeigt, wie lustvoll Theater sein kann. Auch dreieinhalb Stunden Tschechow, die die Ödnis des Landlebens zeigen, können voller Anspielungen und guter Einfälle sein und einfach Spaß machen.