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Dienstag, 23.07.2024 - Jahrgang 16 - www.daz-augsburg.de

Das Leben des schwulen Eduards

In der ungarischen Produktion wurde Brecht aktuell wie selten

Von Frank Heindl

Wer weiß, dass ungarische Theaterleute heutzutage von Abgesandten ihrer Regierung überwacht werden, wenn sie im Ausland spielen, der musste mit doppeltem Interesse verfolgen, wie das Ensemble des Katona Jószef Theaters Bertolt Brechts „Leben Eduards des Zweiten von England“ zeigen würde. Und in der Tat: Die Ungarn gingen offensiv mit dem Thema um – der Bearbeitung eines Drama von Christopher Marlowe, in der die Gegner des Königs England in den Bürgerkrieg treiben und dafür Eduards Homosexualität als Vorwand benutzen.

Eines der schönsten Theatergebäude in Ungarn steht in Kecskemét – das Katona-József-Theater gastierte nun im Großen Haus des Theater Augsburg mit einer Brecht-Inszenierung.


Wenn die Kirche mit Moral und Verboten kommt, stecken oftmals Macht und Klerus unter einer Decke – das ist im heutigen Ungarn, im gegenwärtigen Russland nicht anders als es wohl im England des 13. Jahrhunderts war, selbst wenn Eduards Homosexualität nicht als erwiesen gilt und Marlowes/Brechts Plot natürlich seine eigenen, nicht an der historischen Wahrheit orientierten Ziele verfolgt. Die Ungarn machen das auf der Bühne des großen Hauses sehr schnell deutlich: Der „Erzabt“ ist bei ihnen auch nur ein Vertreter der machtgeilen Obrigkeit, ein Beamter: Unterm Talar trägt er Anzug und Krawatte – und entsprechend verächtlich wird er vom König behandelt.

Regisseur Sándor Zsótér hat es in seiner Inszenierung ganz auf die Homosexualität des Eduard angelegt. Und er vertieft dabei das Bild eines schwulen Mannes, der liebt und an seiner Liebe gehindert wird. Wie zwei vernarrte Jugendliche stürzen sich Eduard und Gaveston aufeinander, als der Geliebte – gegen den Willen des englischen Adels – aus dem Exil zurückkehrt. Eduard überreicht dem Freund stilvoll eine Rose – und dann turteln sie, küssen und streicheln sich und – was Wunder – Gavestones Hose rutscht gleich weit herunter. Expliziter wird es auf der Bühne nicht, im Gegenteil: Wenn das erste Wiedersehen vorüber ist, demonstrieren die beiden eine ergreifende Feinheit im Umgang, zeigt sich ihre Liebe in kleinen Gesten und vor allem in zärtlichen Blicken. Doch die Provokationen von außen bleiben nicht aus – das ist Alltag der schwulen Beziehung im homophoben Umfeld. Die Verachtung der Priester und des Adels bekommt das Liebespaar nur allzu schnell zu spüren – Gaveston soll das Land wieder verlassen, lautet die Forderung. Und Eduard und Gaveston reagieren aggressiv und unerbittlich – Eduard interessiert sich nicht im Geringsten fürs Geschäft der Macht, sondern zuallererst für seinen Gaveston.

Aus der verhinderten Liebe entsteht ein Bürgerkrieg

Das vorläufige Ergebnis ist Bürgerkrieg, es folgt die Ermordung Gavestons und ein weiterer sinnloser, verzweifelter und verlustreicher Krieg, an dessen Ende der König in einer Kloake gefangen gehalten und schließlich heimlich erwürgt wird. Dass es dabei aus Eduards Sicht immer nur um die Liebe geht, zeigen die Ungarn, indem sie Gaveston auf der Bühne lassen. Immer ist der Geliebte anwesend, wenn Ränke geschmiedet werden, auch nach seinem Tod noch – und schließlich wird Eduards Mörder wieder vom Schauspieler des Gaveston dargestellt, sodass, geniale Finte der Inszenierung, Eduards Tod ihn wieder mit dem Geliebten zusammenbringt, der, ihn erstickend, auf ihm liegt.

Natürlich hat Brechts Stück neben der schwulen Liebesgeschichte weitere Ebenen, natürlich kommen auch diese in Zsótérs Inszenierung zum Vorschein. Verdienstvoll, geradezu ergreifend ist das Stück in dieser ungarischen Fassung aber vor allem dank seiner Konzentration auf eine Liebesgeschichte, die, trotz aller Toleranz hierzulande, befremdlich erscheint und gerade daher berührt. Unterdrückung erzeugt Gegenreaktion, manchmal Provokation – mit der Inszenierung dieses Stück zeigen die Ungarn mit dem Finger auch auf ihr eigenes Land, in dem derzeit Toleranz und Freiheit höchst bedroht sind von offenem Faschismus, von Einschränkung der Demokratie und der Menschenrechte. Ungarn galt lange als liberaler Hort homosexuellen Lebens. Das ist nicht mehr so. Die Truppe aus Kecskemét hatte am Sonntagvormittag nicht an der „Theater Extra“-Podiumsdiskussion im Foyer teilgenommen. Vorgeblich, weil noch geprobt werden musste. Hinter den Kulissen wurde gemunkelt, die Protagonisten hätten Angst, sich öffentlich zu äußern – die Spitzel der ungarischen Regierung seien überall. Wie bei Brecht, wie bei Marlowe, wie im 13. Jahrhundert.

So wurde ein Nachmittag der tieferen Erkenntnisse aus diesem Gastspiel – und trotz des sehr dürftig besuchten Großens Hauses inhaltlich ein grandioser Erfolg der Intendantin Juliane Votteler, das Festival zu internationalisieren, herauszufinden, wie und wo und unter welchen Bedingungen Brecht heutzutage in anderen Ländern gespielt wird.