Gregor Gysi: Demokratie muss wieder attraktiv werden
Gregor Gysis Theaterpredigt über Kunst, Religion und die Grenzen des Kapitalismus
Von Halrun Reinholz
Die „Theaterpredigt“, die seit dem Beginn dieser Spielzeit zu jeder Premiere eine prominente und kompetente Person des öffentlichen Lebens auf die Kanzel von St. Anna oder St. Moritz holt, hat die Aufgabe, Kunst und Religion zusammenzuführen, in ihren Wechselwirkungen auszuloten und damit auch die gesellschaftliche Relevanz von Kunstwerken, wie sie auf der Bühne dargeboten werden, zu thematisieren. Aus Anlass des Brechtfestivals und der Premiere des Brecht-Stücks „Der Untergang des Egoisten Johann Fatzer“ gab es eine besonders hochkarätig besetzte Theaterpredigt: Gregor Gysi war der angekündigte „Prediger“. Er sorgte dafür, dass die Annakirche schon weit vor Beginn der Veranstaltung bis auf den letzten Platz besetzt war.
Die aktuelle Augsburger Fatzer-Inszenierung hatte Gysi nicht gesehen, er erinnerte sich lediglich an die Inszenierung aus den 70ern von Heiner Müller im Berliner Ensemble. Deshalb ging er auch nicht weiter auf Einzelheiten von Fatzer ein, sondern baute seine Ausführungen auf die Kernfrage des Brechtfestivals, das Verhältnis von Egoismus und Solidarität in der Gesellschaft und die Rolle, die Brecht dabei spielt. Wenn er auch damit kokettierte, dass „Politiker immer von Dingen reden, von denen sie nichts verstehen“, zeigte sich den Zuhörern doch erwartungsgemäß ein Gregor Gysi, der – wie es sich für einen DDR-Sozialisierten gehört – sich bei der Beurteilung der gesellschaftlichen Relevanz von Brecht durchaus auf vertrautem Terrain befindet.
In diesen Zeiten, befand er, sei Brecht wieder „sehr modern geworden“, genau wie Marx, mit dessen Ideen man sich ungeachtet der real existierenden Traumata in Osteuropa zu Recht wieder auseinandersetzt. Auch Brecht erlebte die Desillusionierung der marxistischen Realität in der Sowjetunion und den Ländern des Ostblocks und bezeichnete Stalin mit der ihm eigenen Ironie als „verdienten Mörder des Volkes“. Umso mehr experimentierte er mit den utopischen Zügen des Marxismus, der damit wiederum Anklänge an das Religiöse hatte.
Die Auflösung des Dilemmas der Vermittlung sozialer Widersprüche glaubte Brecht im epischen Theater gefunden zu haben, wo der Zuschauer eine aktive Rolle spielte, statt sich mit idealen Figuren zu identifizieren. Er appelliert damit an die menschliche Vernunft, die die Balance zwischen Egoismus und Solidarität herzustellen imstande sein muss. Doch Gysi zweifelt daran, dass dieses marxistische Grundvertrauen in die menschliche Vernunft die Probleme der Welt zu lösen imstande ist. Die Widersprüche und Diskrepanzen sieht er in der heutigen globalisierten Welt sichtbarer denn je und die Typen, wie sie im Fatzer vorkommen, sind immer noch dieselben: Die Schwäche des Egoisten Fatzer lässt seinen Gegenspieler Koch hochkommen. Ein zunächst „heiliger“ Zweck bedürfe unheiliger Mittel, um „heilig“ zu sein und verliert dadurch seine Legitimation. Gysi schlägt den Bogen zur gesellschaftlichen Realität des Kapitalismus, der einiges leisten kann, etwa eine florierende Wirtschaft garantieren oder Kunst und Forschung fördern. Was Kapitalismus seiner Ansicht nach nicht kann, ist: Kriege verhindern, soziale Gerechtigkeit sichern oder für ökologische Nachhaltigkeit sorgen. Hier versagen die Mechanismen, die auf Verkauf und Gewinn programmiert sind. Auch Demokratie ist aus der Perspektive des Kommerziellen unattraktiv, der ideelle Wert, den sie in repressiven politischen Systemen noch hatte, droht bei den nur über den Kapitalismus sozialisierten Generationen verloren zu gehen.
Als Fazit seiner Predigt mahnte Gysi, dass Demokratie wieder als Wert attraktiv werden müsse. Im übrigen stelle sich in der heutigen Zeit die Kernfrage, wie man vom Kapitalismus das übernehmen kann, was er für eine funktionierende Gesellschaft zu leisten imstande ist, ohne die Nachteile dessen, was er nicht kann. Gastgeberin Susanne Kasch, Stadtdekanin von St. Anna, hakte da ein und bekannte, dass genau dieser Spagat eines der wichtigsten Anliegen der kirchlichen Sozialarbeit sei.
Flankiert wurde die Gastpredigt auch diesmal wieder mit passenden künstlerischen Darbietungen. Diesmal natürlich Brecht. Ensemble-Mitglied Anatol Käbisch, der auch im „Fatzer“ mitspielt, hatte zwei der bekannten sozialkritischen Brecht-Songs im Gepäck: „Die Ballade vom Wasserrad“ und den „Kälbermarsch“, die er mit Begleitung des Pianisten Piotr Kaczmarczyk interpretierte. “Freilich dreht das Rad sich immer weiter, dass, was oben ist, nicht oben bleibt.“