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Dienstag, 23.07.2024 - Jahrgang 16 - www.daz-augsburg.de

Coronakrise

„Eine Wirtschaft kann wiederbelebt werden, ein verlorenes Menschenleben nicht“ – Argentinien hat geringe Fallzahlen und bleibt bei einem harten Lockdown

Wie geht es den Menschen in anderen Teilen der Welt, während in Deutschland Demonstrationen stattfinden, deren Teilnehmer irrwitzige Forderungen formulieren? Was unterscheidet Hongkong von New York? Wie erleben Europäer gerade ihren Alltag in Rio, in Moskau oder in Buenos Aires? Die DAZ versucht mit individuellen Reportagen ein Stimmungsbild darüber zu zeichnen, wie andere Regierungen in anderen Ländern die Coronapandemie bekämpfen. Aus Buenos Aires berichtet heute eine Augsburger Studentin, die dort vom Virus in Haft genommen wurde.

In Argentinien wird an Lockerungen der strikten Ausgangssperre nicht gedacht. Anders als in Deutschland gibt es darüber kein Gemurre, obwohl das Land in der Krise mit ganz anderen Sorgen zu kämpfen hat als Deutschland.

Von Annika Kögel

Staatliche Aufklärung in den Straßen von Buenos Aires © DAZ

Als ich mich am 05. März für mein Auslandssemester in Richtung Argentinien verabschiedete, ahnte ich nicht, dass ich mich fünf Tage später in meiner neuen Heimat aufgrund des Corona Virus in strikter Ausgangssperre wiederfinden würde – und diese bis heute keine Aussicht auf ein Ende hat. Eine Rückkehr ist nun bis September nicht mehr möglich.

Das Coronavirus war zum Zeitpunkt meiner Abreise in Lateinamerika kaum ein Thema. Anders als in Deutschland hat sich das jedoch in Argentinien von einem auf den anderen Tag radikal verändert: Nach meinem ersten – und bislang einzigen – Tag an der Universität von Buenos Aires konnte ich noch mit meinen neuen Kommilitoninnen eine friedliche Demonstration anlässlich des Weltfrauentags besuchen. Zehntausende Frauen, dicht aneinander gedrängt und noch kein Gedanke an COVID-19. Argentinien hatte zu diesem Zeitpunkt lediglich 17 Infizierte.

Bereits zwei Tage später teilte der argentinische Staatspräsident Alberto Fernández mit, dass sich alle aus von Corona betroffenen Ländern in Quarantäne begeben müssen. Und weitere zwei Tage später wurde bei landesweit 34 (!) Infizierten der Flughafen geschlossen. Natürlich kam mir der Gedanke, nach Deutschland zurückzukehren, ich wollte im Notfall nicht in einem argentinischen Krankenhaus landen.

Tatsächlich hatte ich hier zwei Tage mit einer anderen deutschen Studentin verbracht, die gerade aus Italien wiederkam und mir danach sagte, dass sie seitdem Corona-Symptome habe. Ich entschied mich jedoch trotz allem, hier zu bleiben und ging davon aus, dass sich alles schnell normalisieren wird.

Meine einheimischen Freunde, die ich aus früheren Aufenthalten kenne, meinten zu diesem Zeitpunkt auch noch, dass es hier keinen „Lockdown“ geben wird – das Land steht kurz vor der Staatspleite, die Inflation ist hoch und man kann sich das wirtschaftlich auf keinen Fall leisten. Der politisch mitte-links aufgestellte Präsident Fernández wurde vergangenen Oktober erst in sein Amt gewählt, und hatte vermutlich damit gerechnet, dass die von seinem Vorgänger übernommenen Schulden und wirtschaftlichen Probleme seine größte Herausforderung sein würden.

Nun wird jedoch durch Corona mit einem weiteren Rückgang der Wirtschaftskraft von 7 Prozent gerechnet und gesundheitliche Entscheidungen zur Eindämmung der Pandemie mussten schnell getroffen werden.

Am 19. März wurde bei nun 128 Infizierten eine landesweite strikte Ausgangssperre verhängt: Das Haus darf nur noch zum Einkaufen oder für Arztbesuche verlassen werden, das Treffen von Personen, die nicht im eigenen Haushalt leben ist streng verboten. Für die Hauptstadt Buenos Aires wurde die Beschränkung nun bereits vier Mal verlängert – vor Juni soll hier nichts gelockert werden. Alberto Fernández berichtete zwar am 26. April, dass nun jeder berechtigt sei, 500 Meter von seinem Haus entfernt eine Stunde pro Tag spazieren zu gehen.

Gouverneure aus verschiedenen Provinzen haben jedoch Einwände erhoben, und die Beschränkung wird in Buenos Aires fortgesetzt. “Die Bedingungen werden von jedem Distrikt festgelegt”, so der Präsident. Horacio Rodríguez Larreta, Regierungschef der Stadt Buenos Aires, und Gesundheitsminister Fernán Quirós bestätigten, dass die “unregelmäßige Kurve” der Fälle in der Stadt keinen “Luxus” wie Spaziergänge zulässt – eine neue Ausnahme gilt für Kinder, die am Wochenende in Begleitung ihrer Eltern spazieren gehen dürfen.

Fußball ist im fußballverrückten Land kein Thema

Die Regierung betont immer wieder, dass das Leben und die Gesundheit der Bevölkerung an erster Stelle steht, knapp 45 Millionen Menschen leben in Argentinien. – „Eine Wirtschaft kann wiederbelebt werden, ein verlorenes Menschenleben nicht“ so Präsident Fernández. Während außerhalb der Hauptstadt Buenos Aires nun jedoch einige Wirtschaftssektoren wieder eröffnet wurden, wird an Dinge wie eine Rückkehr der Fußballsaison nicht einmal gedacht. Die Spielsaison wurde abrupt beendet.

Wer sich nicht an die Vorschriften hält, muss mit Haft und hohen Geldstrafen rechnen

Die Polizei ist bereits seit Beginn der Ausgangssperre auf der Straße äußerst präsent und kontrolliert auf Sondergenehmigungen – Autos werden meist angehalten, Fußgänger gelegentlich. Wer sich nicht an die Quarantäne hält, muss mit Haft und hohen Geldstrafen rechnen. Das Tragen einer Atemschutzmaske ist überall Pflicht und einige Supermärkte sprühen den Kunden am Eingang die Hände mit Desinfektionsmittel ein. Generell bilden sich vor den Supermärkten lange Schlangen mit weitem Sicherheitsabstand, da die Einlasszahl beschränkt ist.

Die Schulen werden wieder im August geöffnet

Während in Deutschland der Unterricht jetzt teilweise wieder beginnt, werden die Schulen hier voraussichtlich erst im August wieder geöffnet. Die öffentlichen Verkehrsmittel sollen so leer wie möglich bleiben. Ich habe meine Vorlesungen an der Uni online. Da ich komplett alleine wohne, ist die Situation nicht leicht zu nehmen. Und das Wissen, dass es keine Möglichkeit gibt, der Einsamkeit zu entrinnen, lässt manchmal dunkle Wolken aufziehen. Der Höhepunkt der Infektionskurve wird auf Juni geschätzt. Wann ich wieder Freunde treffen kann, weiß ich nicht.

Demonstration am 9. März zum Weltfrauentag in den Straßen von Buenos Aires – Kurz darauf kam der Lockdown © DAZ

Mir ist allerdings bewusst geworden, wie gut es uns in Deutschland geht – auch in Zeiten der Einschränkung durch die Pandemie. Von meinen Freunden in Deutschland sehe ich regelmäßig Fotos und Videos, wie während der Coronakrise in Deutschland der Frühling genossen wird.

Die Argentinier halten sich an die Vorgaben und sehen die Notwendigkeit dahinter 

In Buenos Aires existiert kein soziales Leben mehr. Die Argentinier halten sich weitgehend an die Vorgaben und sehen die Notwendigkeit dahinter. Die große Sorge der Menschen hier ist, dass durch die Quarantäne für viele die Einkommensquellen wegfallen: Ein argentinischer Freund erzählte, er habe sein Gehalt nicht bekommen. Als ich ihn fragte, wie viel Geld er noch übrig hat, antwortete er: „Gar keins, ich habe noch Essen für zwei Tage“.

Mein argentinischer Freund hat sein Gehalt am nächsten Tag erhalten – die 35 Prozent der Argentinier, die schon vor Corona in Armut und von Tagelöhnern oder Schwarzarbeit lebten, können jetzt ihre Familien nicht mehr ernähren. Hier verteilen nun die Armee und soziale Einrichtungen in den Armenvierteln warme Mahlzeiten. Dies reicht jedoch nicht aus: „Wenn wir nicht an Corona sterben, dann sterben wir am Hunger“ hört man häufig. In den Slums gibt es teilweise nicht einmal fließendes Wasser und drei Generationen leben zusammen in einem Raum. Eine Ausbreitung des Virus kann hier trotz „Lockdown“ kaum verhindert werden. Und die Krankenwagen fahren in diese Viertel gar nicht erst rein.

Amnestie in den Hausarrest

Während um 21 Uhr jeden Abend aus den Fenstern heraus für die Ärzte und Krankenpfleger geklatscht und gejubelt wird, demonstrierten die Menschen am 30. April auf ihren Balkonen gegen diese Maßnahme: Aus den überfüllten argentinischen Gefängnissen wurden auf Empfehlung des obersten Staatsgerichtshofs tausende Häftlinge in den „Hausarrest“ in ihre Wohnungen entlassen. Die hygienischen Verhältnisse in den Gefängniszellen sind katastrophal und eine unvermeidbare Ausbreitung würde das Gesundheitssystem sprengen. In der Bevölkerung löst die Freilassung der Kriminellen jedoch große Besorgnis aus.

Flugverkehr komplett ausgesetzt

Außerdem hat Argentinien momentan neben Corona noch mit der Tropenkrankheit Dengue-Fieber zu kämpfen. Mit 40.000 Infizierten hat der Zustand epidemische Ausmaße erreicht, Buenos Aires hatte allein in der vergangenen Woche 1000 neue Dengue-Fälle. Und hier beginnt mit dem nahenden Winter auch die Grippewelle, die Häuser sind kaum isoliert und richtige Heizungen gibt es nicht.

Bis Dezember gibt es keine Flüge nach und aus Argentinien heraus. Es gibt keine Möglichkeit mehr, im Notfall nach Deutschland zurückzukehren und ich fühle mich weiter weg von zu Hause als je zuvor. Dennoch bereue ich nicht, dass ich hier geblieben bin.

So haben alle hier mit unterschiedlichen schwierigen Situationen zu kämpfen, eines jedoch ist wohl bei allen gleich: Alle warten sehnsüchtig auf den Tag, an dem man sich endlich wieder mit dem in Lateinamerika üblichen Küsschen auf die Backe begrüßen darf und in den Straßen wieder Tango getanzt wird.

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Zur Autorin:

Annika Kögel studiert Interkulturelle Sprachwissenschaften an der Uni Augsburg und befindet sich aktuell an der Universität in Buenos Aires. Ihr Abitur hat sie an der BOS nachgeholt und davor eine Ausbildung zur Rechtsanwaltsfachangestellten gemacht und in diesem Berufsbereich drei Jahre gearbeitet.