Meinung
Das Versagen der Politik – Kommentar zum Augsburger Infektionsgeschehen
Die kommende Woche ist die Woche der Wahrheit. Im Kampf gegen COVID-19 scheint ein zweiter Lockdown in Deutschland unvermeidlich. Dass es so weit kommen konnte, hat mit dem Versagen der Politik zu tun.
Kommentar von Siegfried Zagler
Augsburg galt nach dem langen Lockdown im Frühjahr als “Insel der Glückseligen”. Die Zahl der Neuinfektionen sank rapide, während die Zahl der Genesenen mit gleicher Geschwindigkeit stieg und mit ihr das Laissez-faire in der Stadt wie in der Region. Im Juli und August kam der Sommer und mit ihm die gute Laune. An den Badeseen wurde auf Abstand kaum noch geachtet und in den stets gut besuchten Biergärten waren immer wieder Kellner*innen zu sehen, deren Masken nur den Mund bedeckten. An den großen Tischen saßen bis zu zehn Personen, da das damals erlaubt war. Und natürlich war nächtens an den Wochenenden auf der Maxstraße große Party, die mindestens zweimal ungezügelt jenseits aller Infektionsschutzregeln über die Bühne ging.
Die Inzidenzwerte liefen auf die Null zu und selbst die Veranstaltungen der Corona-Leugner verliefen in Augsburg im Vergleich zu Berlin und München in “gesitteten Bahnen”. Das Gespenst der Pandemie schien kein Interesse an Augsburg zu haben. Und Augsburg kein Interesse an der Gefahr: Während die Stadt weiter eifrig nach Parksündern suchte, wurde das Einhalten der jeweils aktuell geltenden Infektionsschutzverordnungen kaum kontrolliert.
Selbst im Stadtrat, als die Inzidenzwerte in Augsburg bereits leicht steigende Tendenz hatten, war eine gewisse Sorglosigkeit zu beobachten. Im Septemberstadtrat gab es eine “Maskenpflicht”, es wurde immer wieder stoßgelüftet und die meisten Stadträte hielten sich an die Regeln, allerdings nicht durchgehend. Max Weinkamm ging zum Beispiel gemütlichen Schritts ohne Maske durch Sitzungssaal, um seine Unterlagen im Alucontainer zu entsorgen, Lisa McQueen und Meggie Heinrich tuschelten hin und wieder mit 20 Zentimeter Abstand – ohne Masken. Sie waren nicht die einzigen Stadträte, die gegen die gängigen Regeln verstießen. Nichts davon wurde von der Sitzungsleiterin Eva Weber beanstandet, niemand ermahnte die Gedankenlosigkeit der Sorglosen, denn im Rathaus gab es damals noch keine Hausordnung in Sachen Masken, was erst seit wenigen Tagen der Fall ist.
OB Eva Weber wurde zurecht “Aktionismus” vorgeworfen, als sie einen Coronabeirat ins Leben rief. Aktionistisch auch die Maßnahme, den Stadtrat am kommenden Donnerstag erst komplett antreten zu lassen, um den Nachtragshaushalt zu beschließen. Anschließend soll der Stadtrat jedoch von 60 Stadträten auf 14 reduziert werden, weil, so Weber sinngemäß, über die Länge der Sitzungsdauer die Infektionsgefahr zunehme. Das klingt logisch und ist dennoch absurd, da gleichzeitig daran festgehalten wird, Kitas und Schulschließungen hinauszuzögern. In einer Video-Botschaft auf ihrer Facebook-Seite erklärt Augsburgs Oberbürgermeisterin in direkter Ansprache im Stile der Bundeskanzlerin (“Liebe Augsburgerinnen und Augsburger”) den Ernst der Lage und wirbt vorauseilend entschuldigend für möglicherweise kommende Einschränkungen.
Aus der CSU-Fraktion ist mit sarkastischem Unterton zu vernehmen, dass es in der Fraktion nur noch um die Rettung der Gastronomie zu gehen scheint. Das Augsburger Gesundheitsamt wirkt heillos überfordert, das Infektionsgeschehen ist längst diffus, man könne sich überall infizieren, so OB Weber in ihrer Facebookansprache “zur ernsten Lage in Augsburg”. Wirkungsvolle Infektionsschutzpolitik sieht anders aus.
Von den Auswertungen der Testungen wissen wir, dass zahlreiche private Kontakte, Superspreading-Ereignisse sowie Reiserückkehrer das Infektionsgeschehen in Europa, in Deutschland und wohl auch in Augsburg mit voller Kraft zurück brachten.
Dass man in der Brecht-Stadt von quasi Grün im August auf Dunkelrot im Oktober umschalten musste, dass sich das Infektionsgeschehen seit zehn Tagen in Augsburg exponentiell ausbreitet, dass Augsburg zu den ersten 10 Orten der bundesdeutschen Tabelle der Inzidenzwerte zählt, sollte man nicht mit Zufall erklären, doch von den lokalen politischen Akteuren ist keine Fehleranalyse zu erwarten. Beginnen könnte man zum Beispiel mit der schlichten Frage, warum es in den Straßenbahnen und Bussen der swa keine Spender mit Desinfektionsmittel gibt.
Alles, was jetzt passiert, ist prognostiziert worden. Die Regierenden auf Bundes-, Landes- wie auf regionaler Ebene wussten, dass die Disziplin der Menschen nachlassen würde, sie wussten, dass das Virus in der kalten Jahreszeit zurückkommt, wenn sich die Menschen vermehrt in Räumen aufhalten, sie wussten, dass sich das Virus zuerst nahezu unbemerkt in den Kohorten der 20 bis 30-jährigen verbreiten wird, bevor es dann über soziale Kontakte in die Risikogruppen “wandert”.
Die bundesdeutschen Regierungen hatten fast ein halbes Jahr Zeit, sich auf allen Ebenen darauf vorzubereiten. Doch außer Appellen an die Eigenverantwortung und außer kaum kontrollierten Hygiene-Maßnahmen unterschiedlicher Prägung im Stile der Kleinstaaterei ist nach dem ersten Lockdown wenig geschehen. Die überlasteten Gesundheitsämter leiden immer noch unter Personalmangel und noch zum Zeitpunkt als die Bundeskanzlerin via Ansprache die deutsche Bevölkerung aufforderte zu Hause zu bleiben, versuchten die Kommunen das öffentliche Leben zu beleben, versuchten in der Gastronomie, in der Kultur so viel zuzulassen wie möglich.
Was versäumt wurde, ist die Entlastung der überforderten Kommunalpolitik mit überall geltenden Handlungskonzepten für Betriebe, Schulen, den Pflegebereich und für kulturelle Veranstaltungen. Was ebenfalls versäumt wurde, sind überall geltende Gesetze zur Maskenpflicht und Abstandsregelung, die konsequent umzusetzen sind.
Damit wäre bereits viel gewonnen, denn überall dort, wo es diese gelebten Gesetze gibt, also in fast allen asiatischen Ländern, gibt es keine zweite Welle. In Europa, in Deutschland, in Augsburg, so könnte man meinen, ist noch nicht genug gestorben worden.
Artikel vom 26.10.2020 | Autor: sz
Rubrik: Der Kommentar, Gesellschaft, Gesundheit