Coronavirus in Brasilien: „Wenn die Regierung unfähig ist, das Problem zu lösen, tut es das organisierte Verbrechen“
Mit über 1.000 Todesfällen innerhalb von 24 Stunden gehört Brasilien neben den USA und Russland zu den am stärksten von der Corona-Pandemie betroffenen Ländern. Der brasilianische Präsident, der das Virus als „Grippchen“ bezeichnete, stellt sich jedoch weiterhin gegen Quarantänemaßnahmen, die deshalb von Drogengangs zum Schutz vor einer Ausbreitung des Virus angeordnet wurden.
Von Annika Kögel
Gerade erst verzeichnete Brasilien über 20.000 Neuinfektionen binnen eines Tages – womit die Zahl der insgesamt Infizierten auf 320.000 kletterte. Experten zufolge liegt die Dunkelziffer der tatsächlich erkrankten Personen jedoch bis zu 16-fach höher, da nur wenig getestet wird und viele Personen gar nicht erst in die überfüllten Krankenhäuser gehen oder schlichtweg zu weit weg wohnen. In Sao Paulo haben die öffentlichen Krankenhäuser bereits 90 Prozent ihrer Kapazität erreicht, in Rio de Janeiro gibt es kaum mehr Intensivbetten und im Staat Amazonas ist das Gesundheitssystem bereits zusammengebrochen. Der Höhepunkt der Krise kommt erst noch.
Während Gouverneure verschiedener Bundesstaaten strenge Beschränkungen fordern und Ausgangsbeschränkungen verhängten, lehnt Brasiliens rechtsextremer Präsident Jair Bolsonaro, dessen politischer Stil mit dem von Donald Trump vergleichbar ist, diese nach wie vor ab und spricht von einer Hysterie, die unnötig der Wirtschaft schade: „Arbeitslosigkeit und Hunger werden die Zukunft derjenigen sein, die die Tyrannei der Isolation unterstützen“, schrieb er auf Twitter.
Bereits zwei Gesundheitsminister haben während der Pandemie die brasilianische Regierung verlassen, beide aufgrund von Unstimmigkeiten mit dem Präsidenten im Umgang mit Covid-19. Bolsonaro, der selbst eine militärische Laufbahn absolviert hat, und seine Söhne mit Namen für militärische Geheimoperationen anspricht, lässt das Amt nun einen Armee-General ausüben. Inzwischen haben Oppositionsparteien einen Antrag auf Amtsenthebung gegen Bolsonaro eingereicht, der laut der Tageszeitung „Estado de São Paulo“ eine Ausbreitung der Pandemie gefördert und Menschenleben riskiert habe.
Karoline Sander Farinha ist 22 Jahre alt und lebt im Süden Basiliens, wo die Situation unter Kontrolle zu sein scheint. „Die Gouverneure in meiner Region handelten sehr schnell und ordneten Ausgangsbeschränkungen an, ohne auf den Präsidenten zu hören. Daher gibt es nicht viele Fälle und auch nicht viele Tote. Ein weiterer Grund könnte sein, dass es hier weniger Armut gibt“, erzählt sie. In den anderen Regionen sei die Situation jedoch außer Kontrolle geraten.
Die Bevölkerung Brasiliens, von der sich nur ungefähr 50 Prozent an die Ausgangsbeschränkungen hält, ist verunsichert: Die Gouverneure und Bürgermeister beknien die Menschen, man solle nicht auf Bolsonaro hören und sich an die Ausgangsbeschränkungen halten, Bolsonaro beschimpft diese wiederum als „Mistkerle“ und sabotiert jegliche Anstrengungen, das Virus zu bekämpfen: „Es ist unverantwortlich, was manche Gouverneure tun. Der Preis wird Arbeitslosigkeit und Elend sein.“
Für Bolsonaro wird der wirtschaftliche Schaden des ohnehin schon seit 2013 in der Krise steckenden Landes die schlimmeren Folgen haben, als das Virus. Laut Bolsonaro müssen die Menschen wieder arbeiten gehen und statt Social Distancing sollen brasilianische Ärzte nun bereits bei ersten Corona-Symptomen Malaria-Medikamente mit gefährlichen Nebenwirkungen verschreiben – die Patienten müssen dafür eine Einverständniserklärung unterschreiben, dass sie über mögliche Herz- und Lungenprobleme sowie Schäden der Netzhaut informiert wurden. Eine Garantie für ein positives Behandlungsergebnis gibt das Gesundheitsministerium – das nun weitgehend mit Militärs besetzt wurde – nicht, sondern erklärt beifügend, dass es zu schwerwiegenden Organversagen bis zum Tod kommen könne. „Die Menschen hier glauben auch gar nicht daran, dass dieses Medikament wirkt“, sagt Karoline.
Wie in ganz Lateinamerika trifft es auch in Brasilien die armen Bevölkerungsschichten am härtesten. Neben 13 Millionen Arbeitslosen und Schwarzarbeitern sind mindestens 10 Millionen Brasilianer ohne Arbeitsvertrag als Straßenverkäufer oder Müllsammler tätig. Durch das Erliegen des Wirtschaftslebens bricht den Armen selbst das Minimum für den Broterwerb weg.
Zuhause bleiben bedeutet Hunger für die Familie. Viele dieser Menschen wohnen in Favelas, den Elendsvierteln in den großen Städten Brasiliens. Hier leben bis zu 50.000 Menschen auf einem Quadratkilometer, Großfamilien unter einem Dach, eine Kanalisation oder fließendes Wasser gibt es oft nicht. Abstand halten ist hier unmöglich, genauso wie regelmäßiges Händewaschen. In diesen Vierteln haben Drogengangs bereits zu Beginn der Infektionswelle Ausgangssperren verhängt, deren Nichteinhaltung drastisch bestraft wird.
Drogen werden dort nun mit Mundschutz und Handschuhen verkauft, Touristen dürfen die Favelas nicht mehr betreten. Teilweise wurden Schulen in Behelfskrankenhäuser umgewandelt, um Erkrankte zu isolieren. Auf Social Media erklärte eine Favela aus Rio de Janeiro, „sie wolle das Beste für die Bevölkerung“ und „wenn die Regierung unfähig ist, das Problem zu lösen, tut es das organisierte Verbrechen“.