Von Gundremmingen bis nach Neapel und Kinshasa
„Lust auf Wirklichkeit“ – Filmtage contra Traumfabrik
Von Frank Heindl
Sich einlullen lassen von den – zugegeben: oftmals phantastischen, atemberaubenden, schönen – Ideen der Filmindustrie, das ist die eine Seite des Mediums Film, die eine Möglichkeit des Kulturorts Kino. Es ist auch die profitablere Seite, die mit den meisten Zuschauern, es ist die Sparte, die den Platz auf den Zeitungsseiten für Filmbesprechungen füllt. Aber es gibt noch eine andere Art Kino. „Lust auf Wirklichkeit“ nennen die Tage des Unabhängigen Films Augsburg den Teil des Programms, der sich mit den Widrigkeiten, Absurditäten, Banalitäten, mit dem Hässlichen, Abseitigen, aber auch mit dem Einzigartigen, dem Schönen, dem Echten befasst, mit unserem Alltag, mit der Realität.
Realität macht nicht immer Spaß, dafür ist sie aber auch nie einseitig, hat viele Aspekte, bietet immer Stoff zum Nachdenken, zum Lernen. Und der Spaß des Zuschauers findet seinen Ursprung nicht nur in Bildern, sondern auch in der intellektuellen Auseinandersetzung mit ihren Sujets. Die Befürchtung, man müsse sich hier auf dröge Schwarz-Weiß-Dokumentationen einstellen, entbehrt allerdings bei den 16 Filmen, die das Filmfest unter dem Motto „Lust auf Wirklichkeit“ vorstellt, jeder Grundlage. Da ist zum Beispiel die Musik. Sie spielt etwa in John Turturros „Passione“ eine große Rolle. Es geht um Neapel – eine Stadt, in der laut Turturro Pop und Klassik zu einem italienischen „Buena Vista Social Club“ verschmelzen. Eine ganz andere Rolle spielt die Musik in „Benda Bilili“ aus der Republik Kongo. Für die Straßenkinder, die in der Hauptstadt Kinshasa Musik machen, ist das nicht nur Broterwerb, sondern Flucht und Befreiung aus einer tristen Welt voller Armut und Zerstörung. Sie spielen auf uralten oder selbstgebauten Instrumenten. Mag uns Turturros Neapel schon als fremdartige südliche Metropole vorkommen – Kinshasa, seine Musik und seine Kinder sind im europäischen Kontext kaum denk- und vorstellbar. „Lust auf Wirklichkeit“ bedeutet hier auch Neugier auf fremde Welten, die trotz Globalisierung und Informationsgesellschaft unendlich weit von der unsrigen entfernt scheinen.
Künstler und Koma, Atomkraft und Glücksversprechen
Auch die Welten von Künstlern und Schriftstellern sind der unseren fremd, wenn nicht gar entgegengesetzt. Ein Typ wie Tom Kummer spielt da eine besondere Rolle – er hat der Medienwelt nicht nur den Spiegel vorgehalten, sondern sie auch schlichtweg betrogen. Kummer belieferte jahrelang die deutsche Presse mit tollen Reportagen und Interviews. Die Redaktionen erhielten, was sie sich wünschten, die Leser bekamen zu lesen, was sie hören wollten. Der Haken daran: Kummers Texte waren genial – erfunden. Klar, dass das ein Skandal war, klar, dass Kummer in der Medienwelt verfemt war, als dann alles aufgeflogen war. Gut, dass das Thema in Miklós Gimes‘ nun im Kino auftaucht – denn auch hier geht es ja um „nachempfundene“ Wirklichkeit, um den schmalen Grat zwischen Wahrheit und Illusion, zwischen Lüge und Erkenntnis. Der Regisseur von „Bad Boy Kummer“ wird in Augsburg selbst über seinen Film Auskunft geben. Ebenso wie Christoph Rüterl, der Regisseur einer Filmcollage über den Dichter, Filmemacher und Schriftsteller Thomas Brasch, die vor kurzem auf der Berlinale uraufgeführt wurde. „Brasch – das Wünschen und das Fürchten“ heißt der Film.
Lust auf Wirklichkeit? Larissa Trueby kümmert sich um die Lust aufs Glück im ausufernden Markt der Ratgeberliteratur. „Glücksformeln“ sei „ein kluger Film über kleine und große Weisheiten“, behauptet das Programmheft. Vielleicht geht es hier ja auch um einen gewissen Gegensatz zwischen Glücksstreben und Wirklichkeit. Alle Filme des Programms „Lust auf Wirklichkeit“ aufzuzählen, ginge zu weit. Thematisch sind sie weit gestreut: Um Atomkraft geht es in „Unter Kontrolle“, gedreht unter anderem im AKW Gundremmingen und erschreckend aktuell – ein Thema, bei dem einem womöglich die Lust auf die Realität verloren gehen könnte. „Verborgen in Schnuttenbach“ widmet sich der Kriegsvergangenheit in einem kleinen schwäbischen Dorf, dessen Bewohner sich an ein Lager für Zwangsarbeiter erinnern. Dass Wirklichkeit trotz aller Authentizitätsansprüche ein subjektives Kriterium ist, kann man schließlich in „Zwischen Welten“ erfahren. Regisseur Marc Haenecke – auch er zu Gast auf dem Filmfest – hat im Klinikum Augsburg und im Therapiezentrum Burgau gedreht und Menschen beobachtet, die aus dem künstlichen Koma erwachten. Sie haben einen speziellen Blick darauf, wo die Wirklichkeit anfängt, aufhört, weitergeht. Ein intensiver Blick in eine unbekannte Welt – vielleicht schon ein wenig jenseits unserer „Wirklichkeit“, sicher aber hochspannend für offene Augen mit Lust am Sehen.