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Mittwoch, 02.10.2024 - Jahrgang 16 - www.daz-augsburg.de

Vom Schöpfen aus der Projektion der Wirklichkeit: „Drei“, der neue Film von Tom Tykwer

Gestern wurde von Michael Graeter in der Münchner “Abendzeitung” das gewöhnlich gut gehütete Geheimnis um die wichtigsten Preisträger des Bayerischen Filmpreises gelüftet. Laut Graeter geht am morgigen Freitag der Preis für die beste Regie an Tom Tykwer für “Drei”, dessen Hauptdarstellerin Sophie Rois als beste Darstellerin ausgezeichnet werden soll. Jede andere Entscheidung in diesen beiden Kategorien wäre ohnehin ein Skandal. “Drei” ist ein Film über Liebe, Moral und Abschiednehmen im vernarbten Berlin der Post-68er Genearation. Hanna und Simon, beide Mitte 40, sind seit 20 Jahren ein Paar und ohne das Wissen des jeweils anderen verlieben sich beide in den gleichen Mann. Am Ende steht ein möglicherweise funktionierendes Dreiecksverhältnis ins Haus, doch auf den Plot kommt es in Wirklichkeit nicht an.

Von Siegfried Zagler

„Der Film umkreist die Sehnsüchte, Hoffnungen, Rätsel und Widersprüche von drei Menschen, die sich in der ungefähren Mitte ihres Lebens mit fundamentalen Fragen des Zusammenseins und des ‘richtigen’ Lebensentwurfs konfrontiert sehen“, so Regisseur und Drehbuchautor Tom Tykwer auf seiner Homepage. Um es vorweg zu sagen: Tykwer ist mit „Drei“ ein irritierendes Stück Kino im großen Format gelungen, und zwar auch deshalb, weil er sich wieder zurück in den schwierigen Berliner Mief der wirklich wichtigen Fragen gewagt hat, und dabei mit der nicht weniger schwierigen Grammatik der Komödie die ironischste aller wichtigen Fragen umkreist: Gibt es ein Leben vor dem Tod? Eine Frage, die nicht mit der rigorosen Wucht wie bei Fassbinders Biberkopf aufschlägt, aber immerhin auf Augenhöhe den Erzählton der melancholischen Komödie bestimmt.

„Wer die ganze Wahrheit sagen möchte, muss lügen“

Drei Filmplakat

Filmplakat


Prolog: Die Kamera zeigt in Fahrt von unten eine Überlandleitung, zwei parallel verlaufende Drähte, die sich mal von einander entfernen, dann wieder aufeinander zurasen, wie eine dem Film vorauseilende Tonspur, die mit der Stimme aus dem Off Fragmente einer Liebe erzählt und somit andeutet, was den Zuschauer erwartet. Mit „Drei“ ist Tykwer nach den internationalen Großprojekten „Das Parfum“ und „The Internationals“ nach Berlin-Mitte zurückkehrt, das er nach „Lola rennt“ vor zwölf Jahren verlassen hat. Es wäre zu kurz gesprungen, Tykwers melancholische Komödie als Dreiecksgeschichte verstehen zu wollen, obwohl es am Ende natürlich darauf hinausläuft, und es wäre auch falsch, Tykwers Berlin als urbane Versprechung menschlichen Glücks zu sehen, obwohl es ähnlich – wie in etwa Manhattan für die Figuren Woody Allens – als einzig denkbarer Ort für die Lebensformen und Entwicklung der Protagonisten in Frage zu kommen scheint. Die Splitscreen-Montagen kennt man aus Almodóvars grellen Beziehungsdramen, doch in dieser Komplexität gab es diese Erzähltechnik noch nicht auf einer Leinwand zu sehen. Mit allerhand Tempo zeigt Tykwer Simons Hodenoperation und den Tod seiner Mutter, um ihn mit den magischen Zahlen Drei und Neun zu verknüpfen. In diesen Sequenzen erreicht „Drei“ erzähltechnisch eine meisterliche Form der ironischen Distanz, die sich unangestrengt mit den großen Lokomotiven des europäischen Autorenkinos messen lässt. Mit Rainer Werner Fassbinder zum Beispiel, oder Pedro Almodóvar, die mit ihrem gesellschaftskritischen Tabubrecher-Kino neue ästhetische Maßstäbe setzten, oder womöglich mit Jean-Luc Godard, dessen Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen mit der Suche nach einer differenzierteren Filmsprache verknüpft war.

Eine dramatische Matrixstörung samt Neustart

Mit „Drei“ hat sich Tykwer endgültig in der Spitzengruppe der ersten Liga des europäischen Films festgesetzt. Der Film strebt – Tempoverschärfungen hin, kontemplative Beharrlichkeit her und trotz selbstverliebter Zitierlust – nicht auf einen Plot zu, nicht wirklich, sollte man vielleicht hinzufügen, denn die ménage à trois als Ausgang aus der „lähmenden Gewöhnung“, wie es Hermann Hesse es in seinem Gedicht „Stufen“ sagt, kann kein ernstgemeintes Plädoyer sein, sondern vielmehr eine provokante Metapher dafür, was in einem Leben möglich sein könnte, wenn man in der Lage wäre, sich von einem allzu fest gegossenen Selbstverständnis zu lösen. Um mehr als ein Butterbrot zu bekommen, müsste man, wie Tykwer sagt, die Existenz nicht von der Geburt weg leben, sondern auf den Tod hin. Sich von etwas verabschieden, das man beim „Ich-Sagen“ ein halbes Leben lang geschärft und ausgehalten hat, ist keine leichte Übung, die im Vorbeigehen zu leisten ist. Die eigene Übereinkunft mit sich selbst, die die anderen in hohem Maße „mitverfasst haben“, wie wiederum Max Frisch sagt, lässt sich nicht mittels Einsicht wegschwatzen, dazu braucht es mehr, nämlich einen bedrohlichen Eingriff, eine dramatische Matrixstörung samt Neustart: Schicksalsverdichtung, Zufall, Glück, und davon habe die Wirklichkeit mehr zu bieten, als das Kino sich abzubilden traue, weshalb „Drei“ nicht als Plotmaschine auf ein fiktives Ende hinstrebe, sondern sich Zeit nehme, um aus dem Fluss der Wirklichkeit zu schöpfen. So, oder so ähnlich, äußert sich Tykwer nicht selten, wenn es um Rezeptionsfragen zu „Drei“ geht. Die Wirklichkeit ist auch in Berlin-Mitte nichts anderes als Projektion, möchte man hinzufügen, um dem 45jährigen Autodidakten die Vorstellung zu nehmen, dass er als Künstler quasi mit göttlicher Kelle aus dem heiligen Gral der Wirklichkeit schöpfen könne. Wer der Wirklichkeit näher treten will, muss bei der Fiktion bleiben. „Wer die ganze Wahrheit sagen möchte, muss lügen“, um es mit Nicholas Ray zu sagen.

Man kann nicht außerhalb der Kategorien der Anerkennung sein

"Da das Publikum in Augsburg gut ist" - Tom Tykwer mit Franz Fischer im Thalia

"Da das Publikum in Augsburg gut ist" - Tom Tykwer mit Franz Fischer im Thalia


“Du behandelst das Leben nicht als Gestalt, sondern als bloße Addition, daher kein Verhältnis zur Zeit, weil kein Verhältnis zum Tod“, sagt eine gewisse Hanna Piper in Max Frischs „Homo Faber“. Die erste Frau im Widerstand gegen die Erschließung der Welt mittels Technik. Hanna Piper empfindet Technik als “Kniff”, die Welt als Widerstand aus der Welt zu schaffen, zum Beispiel durch Tempo zu verdünnen, um die Welt nicht erleben zu müssen. Angesprochen ist Ingenieur Walter Faber. Das war 1957. Walter Faber heißt bei Tykwer Dr. Adam Born und ist Ingenieur im höheren Sinn, nämlich Stammzellerforscher und somit mehr als ein halbes Jahrhundert nach Homo Faber in einer ähnlich erhöhten Position wie seinerzeit Faber, der bei Frisch seinem Schicksal so unabänderlich ausgeliefert scheint wie die Dinge der Schwerkraft. Born agiert auf den ersten Blick ähnlich omnipotent und weltbeschlagen, aber empfindsamer und zerbrechlicher als der rationale Ingenieur in der Hochphase der industriellen Ära. Tykwers Adam Born ist wie Homo Faber mehr Projektionsfläche denn plausible Erzähl-Gestalt. Bei Tykwer spielt der Stammzellenforscher mit leichter Hand die Klaviatur einer weit gefächerten Identität. Born ist Hobbyfußballer mit Eisern-Union-Fan-Familie, Motorradfahrer (MZ), Chorsänger, Karatekämpfer, Schwimmer, Segler mit eigenem Kutter auf der Ostsee, Wochenend-Vater, Ex-Frau-Versteher, bisexueller Sex-Athlet und natürlich einsam. Devid Striesow spielt diese tief in Berlin verankerte Figur mit der Aura eines menschgewordenen Engels aus „Himmel über Berlin“, also großartig.

Doch Tykwers neuer Film hat noch mehr zu bieten: Sophie Rois. Die Figur Hanna Blum glänzt durchgehend mit ihrem komischen Tonfall der Verwunderung, dabei staunt Rois meist über sich selbst, wenn sie Adam Born in eine Parallelwelt führt, nach der sie sich mehr sehnt als sie ahnt. Hanna Blum arbeitet als Moderatorin und Journalistin und hat sich trotz zwanzigjähriger Beziehung und beruflicher Karriere jene jugendliche Schnoddrigkeit bewahrt, die nötig ist, um die Distanz zum angestrengt daherschwatzenden Kultur-Establishment von Berlin-Mitte herzustellen.

Die Tür ist offen – und draußen warten Ungeheuer und Engel

Später Sprung ins Zweigleisige: Devid Striesow und Sebastian Schipper

Später Sprung ins Zweigleisige: Devid Striesow und Sebastian Schipper


„Man kann nicht außerhalb der Kategorie der Anerkennung sein. Jetzt wird’s kompliziert“, sagt jemand in Hanna Blums Talkrunde und man sieht Hanna Blum in eine Parallelwelt davon gleiten. Drin sein, ohne dazu zu gehören, so kommt Rois in die Geschichte, die ohne die Doppelbödigkeit von Rois nicht funktionieren würde. „Hast du das Bild hier aufgehängt?“, fragt Hanna Blum ihren Lebensgefährten Simon aus der Küche über drei Zimmer hinweg. „Nein, das warst du, hängt da schon ewig“, schreit Simon zurück. Hanna glaubt ihm nicht, weil sie das Bild offensichtlich zum ersten Mal sieht. Als Hanna eine Bild-Ecke von der Wand abzieht, bestätigt der Farbunterschied, dass Simon Recht hat. In diesem Moment realisiert Hanna, dass sie etwas in ihrer Küche viele Jahre nicht mehr wahrgenommen hatte. Und in diesem Erschrecken öffnet sich bei Hanna die Schleuse für eine andere Welt. Eine Tür, die ohne die Angst vor der lähmenden Gewöhnung verschlossen bliebe. Voraussetzung dafür ist das Entsetzen über den Weltverlust im eigenen Leben, womit das Weitermachen im Grau des Vertrauten als unaufhaltbares Versinken, als trostloses Dahinwelken erkannt und empfunden wird. Die Tür ist offen – und draußen warten Ungeheuer und Engel.

Obwohl er mehr zu ertragen hat als die anderen und aus diesem Grund die stärkste Entwicklung vollzieht, fällt für Sebastian Schipper in seiner Rolle des Simon im Vergleich zu Rois und Striesow weniger Glanz ab. Vom Tod der Mutter und der eigenen Krebserkrankung traumatisiert, hält Simon mit seiner Traurigkeit und seinem tapferen Abschiednehmen die Gender-Screwball-Comedy in der Plausibilitätsbalance. Schipper thematisiert unaufgeregt den späten Sprung aus seinem „deterministischen Biologieverständnis“ der Heterosexualität ins Zweigleisige als überraschenden, aber eben möglichen Ausgang aus der unverschuldeten Tristesse der Gewöhnung an jemanden, den man liebt.

Tom Tykwers „Drei“ ist in Deutschland am 23. Dezember in 130 deutschen Kinos angelaufen. Eines davon ist das Thalia, Saal 1 in Augsburg am Obstmarkt. Unter den 130 Kinos hält sich das Thalia seit drei Wochen unter den ersten 20 bezüglich der Besucherzahlen. Ein für Kleinstädte unüblicher Spitzenwert, der deshalb erwähnenswert ist, weil der tabubesetzte Großstadt-Film in Augsburg von allen Schichten angenommen wird, wie Kinoleiter Franz Fischer anmerkt, da „das Publikum in Augsburg gut ist, man muss es nur ständig daran erinnern“.

„Drei“, D 2010 – Regie und Buch: Tom Tykwer. Kamera: Frank Griebe. Schnitt: Mathilde Bonnefoy. Mit Sophie Rois, Sebastian Schipper, Devid Striesow, Annedore Kleist. X-Verleih, 119 Minuten.



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