Viel mehr als „eine Ehegeschichte“
Premiere im Hoffmannkeller: „Gift“ von Lot Vekemans
Von Frank Heindl
In einer Friedhofshalle kommt keine Freude auf. Die Örtlichkeit allein ist schon ein Vorgeschmack darauf, was uns in den kommenden 90 Minuten an Tristesse bevorsteht. Und im Hoffmannkeller braucht’s nicht viel, um die gruftige Atmosphäre von Feuchtigkeit, Moderluft und Todesgedanken aufkommen zu lassen: willkommen bei Lot Vekemans‘ Einakter „Gift“.
Mit „eine Ehegeschichte“ hat die 50jährige Autorin aus den Niederlanden ihr Werk untertitelt. In der Tat wird im Zwei-Personen-Stück zum guten Teil verhandelt, was man, wenn nicht aus der eigenen Beziehung, dann zumindest aus den Ehekrisen von Freunden, Bekannten oder aus dem Fernsehen zu Genüge kennt. Vekemans hat ein gnadenlos-grandioses Talent, jene „Gespräche“ genannten Dialoge wiederzugeben, die von Verständnislosigkeit und Verständnisunwillen geprägt sind, die in subtilen Unterstellungen, sublimen Fehlerwartungen und absichtsvollem Missverstehen dem Außenstehenden immer nur eines verraten: Die haben sich eigentlich nichts mehr zu sagen. „So habe ich das nicht gemeint“ ist beispielsweise eine der Standardfragen, die der namenlos „Er“ in „Gift“ nur allzu oft wiederholt. Wenn man nicht antworten mag, fragt man zurück: „Was willst du dass ich sage?“ – und unterstellt die von vorneherein unehrliche Absicht des Fragers, nur bestimmte Antworten gelten lassen zu wollen. Die klassische Antwort beginnt also mit: „Du willst hören, dass …“ Schrecklich, das mitanhören zu müssen, diese allzu normale, diese alltägliche „Ehegeschichte“.
Doch bei diesem Paar ist das noch ein bisschen anders. Denn als „Er“ „Sie“ verlassen hat vor neun oder zehn Jahren, da war dann doch viel mehr passiert, als normale Beziehungen verkraften müssen. Anlass des Treffens nach so langer Zeit ist die Tatsache, dass das Grab von Jakob umgebettet werden muss – und erst allmählich schält sich heraus, dass dieser Jakob das Kind der beiden Hauptpersonen war und damit womöglich die eigentliche Hauptperson des Stücks ist. Jakob ist bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen, der Vater hat mittlerweile einen Neuanfang mit neuer Frau und neuer Schwangerschaft gewagt, während „Sie“, die Mutter, über den Verlust nicht hinwegkommt.
Bravourös ist, wie Jessica Higgins diese „Sie“ gibt – als verstört-selbstbewusste Frau, die laut schreien und im nahezu selben Moment tief in sich zusammensacken kann, die aufrecht ihre Schwäche leugnet und wenig später mit hängenden Schultern in nervösem Waschzwang sich selbst fremd zu werden scheint. Eine solche Kammerspiel-Leistung hatte man von Higgins trotz „heiliger Johanna“ und Margaret in der „Katze auf dem heißen Blechdach“ nicht erwartet. Ebenfalls glanzvoll neben Higgins: Gregor Trakis, der die deutlich selbstbewusstere Rolle spielt. Zunächst erscheint er als der „typische“ Mann, der auch dramatische Situationen „bewältigt“, indem er nach Regeln und Stereotypen handelt. Dass auch hinter dessen Biographie Abgründe lauern, lässt Trakis nur allmählich zum Vorschein kommen – bis zum Schluss bleibt er schwer zu durchschauen, scheinen sein Selbstbewusstsein wie sein Humor doppelbödig.
Maria Viktoria Linke als Regisseurin hat dem Stück mit einem musikalischen Kunstgriff eine weitere Ebene eingezogen: Schon zu Beginn hören die Zuschauer aus dem über dem Hoffmannkeller liegenden Stockwerk eine schwermütige Musik: Christian Döring von den Augsburger Philharmonikern spielt dort auf der Bratsche die Chaconne aus einer Solo-Partite von Bach. Deren Klang dringt immer wieder in den Keller wie eine unterbewusste Erinnerung an den nicht zu verdrängenden Tod Jakobs. Als der Mann nach heftiger Streit-Eskalation für eine Weile den Handlungsort verlässt, gesellt sich dieser „Geiger des Todes“ zur Jessica Higgins, die in seiner Gegenwart einen mehrminütigen Zusammenbruch erleiden muss in einem einsamen Ballett der Verzweiflung, einem Kampf zwischen Weglaufen und Hierbleiben, zwischen Aushalten und Zugrundegehen, geschüttelt von hysterischen Krämpfen, am Boden zuckend, mit Schmutz um sich werfend, eine Verkörperung von Angst und Alleinsein. Danach ist sie noch kleiner, noch mehr in sich zusammengesunken.
Vielleicht ein wenig unglaubwürdig und vielleicht eine Schwäche an Vekemans‘ Stück: dass es geradezu versöhnlich endet, wenngleich die Abschiedsworte des ehemaligen Paares möglicherweise auch wieder nur die Konflikte verdeckende Phrasen sind, wenngleich noch klarer ist als zuvor, dass die Wunde durch den Tod des gemeinsamen Kindes nie verheilen wird. Als Zuschauer von „Gift“ aber hat man viel mehr erlebt als „eine Ehegeschichte“.