DAZ - Unabhängige Internetzeitung für Politik und Kultur
Dienstag, 23.07.2024 - Jahrgang 16 - www.daz-augsburg.de

Sprühende Ideen von der Bohrmaschine bis zur Dichterlesung

Das „Weiße Album“ im Großen Haus: Musik bestens, Inszenierung klasse

Von Frank Heindl

Wir Skeptiker waren in der Überzahl gewesen in den letzten Tagen: Das „Weiße Album“ der Beatles auf die Bühne zu bringen – musikalisch ein Ding der Unmöglichkeit, fanden wir. Und inszenatorisch ein ebensolches Unding: Wie denn soll man bitteschön ein musikalisches Werk aus 31 grundverschiedenen Songs, die schon auf Platte einfach nicht zusammenpassen, unter einen Regiehut kriegen? Und dann auch noch auf Deutsch? Geht gar nicht! Glücklicherweise lagen wir Skeptiker mal wieder grundfalsch: Die Regisseure Wiebke Puls und Tom Stromberg hatten einfach alles richtig gemacht und eine furiose Show auf die Bühne gestellt, die sich viele Freiheiten nahm und dabei alle Hürden riss.

Im Topf rühren, Zeitung umblättern, bohren: Auch das ergibt einen exzellenten Beatles-Soundtrack.

Im Topf rühren, Zeitung umblättern, bohren: Auch das ergibt einen exzellenten Beatles-Soundtrack.


Und zwar von Anfang an: Die sperrige „Revolution 9“, im Original eine achteinhalbminütige enervierende Klangcollage von musikhistorischer Bedeutung, stellt die wagemutige Inszenierung frech gleich an den Anfang. Und zwar zu Recht: Später hätte „Nummer 9“ den Ablauf gebremst, zu Anfang sorgte das Stück für atemlose Spannung. Ein schwarzgekleidetes Ensemble wartete da erstarrt auf seinen Einsatz und lieferte, als es endlich losging, jene Schleifen aus sinnlos aneinandergereihtem sinnlosem Material, mit dem die Liverpool Boys sich anno 1968 als avantgardistische Neutöner in Szene setzten. Doch die Inszenierung zeigte schon in diesem ersten, schwierigsten Stück, dass sie nicht vorhatte, sich karaokemäßig an Beatles-Imitationen zu versuchen, die immer scheitern müssen. Stattdessen andere Sounds, andere Ideen: ein seinen Kopf periodisch in ein Wasserbecken tauchender Klaus Müller, eine hysterisch herumschreiende und Schuhe werfende Olga Nasfeter, eine Klavierphrase aus „Martha, my dear“, ein regelmäßig wiederkehrender Seufzer, eine Bohrmaschine, ein Würstchengrill und weiß der Himmel was noch alles – ein strikt geordnetes Tohuwabohu, das, je länger die todernste Darbietung anhielt, umso fröhlicher stimmte. Hier wären die ersten Bravos fällig gewesen, doch auch dabei hielt sich die Inszenierung an die Geschäftsbedingungen des Pop-Genres: Die Nummern müssen so schnell aufeinanderfolgen, dass zum Nachdenken keine und für Applaus nur wenig Zeit bleibt – das klappte fast so gut wie auf dem Weißen Album, wo die Stücke oft nahtlos ineinander übergehen.

Beatles auf Deutsch: geht doch!

Anschließend wurden wir Skeptiker erneut eines Besseren belehrt: Beatles-Texte auf Deutsch gehen eben doch. Roland Schimmelpfennig hat mal einfühlsam, mal albern, mal nah am Original und mal in aller Freiheit nachgedichtet und dabei meistens ins Volle getroffen. „Schrei, Baby, schrei“ – so dumm hörte sich das gar nicht an. Tschulia heißt im Deutschen eben Julia, und wenn das albern klingt, dann tut es das ja vielleicht auch im Englischen. „Half of what I say is meaningless“ mit „Die Hälfte meiner Wörter sind nur Quatsch“ zu übersetzen ist vielleicht mehr neues deutsches Songwriting als späte 60er – macht aber gar nichts!

Dasselbe gilt für die Musik: Die Band um den musikalischen Leiter Adrian Sieber nahm sich alle nötigen Freiheiten und vermied so einen spießigen „Beatles-Revival“-Abend. Stattdessen Mother Nature’s Son auf Bierflaschen geflötet, Cry Baby cry nur von gezupftem Bass und leiser Snare-Drum begleitet, Honey Pie (zu Deutsch: Zuckermaus) auf vier Kazoos intoniert: Das hatte alles Pepp und Witz und Originalität und blieb trotzdem Beatles-Musik – die mitunter in ganz neuem Glanz erstrahlte, weil sie aus dem gewohnten Hörkonzept herausgerissen wurde.

Vogelkäfige, Dichterlesung, Westernsaloon

Kunst von Roy Lichtenstein als Background der Sixties, davor gut gelaunte Beatles-Girls – für das Bühnenbild sorgte Volker Hintermeier.

Kunst von Roy Lichtenstein als Background der Sixties, davor gut gelaunte Beatles-Girls – für das Bühnenbild sorgte Volker Hintermeier.


So unmöglich es uns Skeptikern auch vorher erschienen war: Die Inszenierung wurde nicht von den Songs in den Hintergrund verwiesen, sondern blieb den Kompositionen der Fab Four gewachsen, sprühte Funken noch und noch. In einem wunderschönen Bild zu „Blackbird“ schwebten beleuchtete Vogelkäfig von der Decke, bei „Bungalow Frank“ (!!!) durfte sich das Gesangsensemble wie eine wildgewordene Kinderschar gebärden (Kenner dürfen raten, was sie bei „Everybody’s got something to hide“ darstellten), Rocky Roccoon kam in nuschelnder Westernmanier daher, und – ganz großartig: „Back in the USSR“ wurde als Dichterlesung gegeben, in einer herrlichen Parodie auf den Übersetzer Schimmelpfennig, hypernervös, hypersensibel und hyperintellektuell. Dass man auf die Harmonien von „Happiness is a warm gun“ auch „So lonely“ von Police ebenso singen kann wie Whitney Houstons „One moment in time“, war manchem Musiker schon vorher klar. Dass aber auch Kirchenlieder, der Pumuckl-Song oder so etwas Furchtbares wie „Im Wagen vor mir sitzt ein junges Mädchen“ durchaus dazu passen, war dann doch überraschend. Offen blieb allein die Frage, wem das nun mehr Spaß machte: dem Publikum oder den Darstellern und Musikern.

Alle 31 Songs – und eine falsche Telefonnummer

Gemein: Ulrich Rechenbach buhlte ums weibliche Publikum – doch die Mobilnummer war falsch! (Fotos: A.T. Schaefer)

Gemein: Ulrich Rechenbach buhlte ums weibliche Publikum – doch die Mobilnummer war falsch! (Fotos: A.T. Schaefer)


Man könnte zu jedem der 31 Songs – ja doch, es wurden alle 31 gespielt! – etwas aus dieser Inszenierung erzählen, aber dafür ist nicht mal in der DAZ genug Platz. Zum Schluss riskierte die Inszenierung nochmal viel, denn wenn wir Skeptiker skeptisch geblieben wären, dann hätte das mit dem Mitsingen nicht so schön spontan geklappt – wir brauchten aber nicht mal aufgefordert zu werden und hätten auch auf Chinesisch verstanden, was Myung-Hwa Wiede von uns erwartete. Als letztes Stück konnte dann nur noch „Good night“ folgen, und wenn wir jetzt sagen, dass da beim A-Capella-Gesang ein weiteres Viertelstündchen Feilen nicht von Schaden wäre, so darf das nach all dem Lob keinesfalls überbewertet werden. Schließlich sind wir als Skeptiker hingegangen und waren auf dem Nachhauseweg so gut gelaunt, wie schon lange nicht mehr. Und zwar, obwohl unsere Zugabe-Rufe unberücksichtigt blieben!

PS: Der Schauspieler Ulrich Rechenbach hat während des Stücks eine Mobilnummer durchgegeben. DAZ-Recherchen haben ergeben, dass die Nummer nicht seine eigene ist. Die Dame am anderen Ende der Leitung wusste von nichts, war aber trotzdem freundlich und hat sich unseres Erachtens eine Freikarte verdient!