Schwanensee: Gut und Böse sind einander täuschend ähnlich
Der neue Ballettdirektor startet die Saison mit einem frisch aufpolierten Klassiker
Der „Schwanensee“ ist der Inbegriff eines abendfüllenden Balletts. Ein Klassiker, der in der traditionellen Choreographie von Marius Petipa für Solisten und Ensemble höchste Herausforderungen bietet. Dass ein kleines Ballettensemble wie das des Theaters Augsburg sich an diesen Gipfel heranwagt, zeigt, dass der neue Ballettdirektor Ricardo Fernando keine Scheu hat, das Althergebrachte neu aufzubürsten.
Da ist einmal die zeitlose Geschichte – das Gute und das Böse, die Kräfte, die nahe beieinander liegen und einander täuschend ähnlich sind. Die Suche des jungen Menschen nach Erfüllung zwischen dem Vorgegebenen und dem verlockenden Unbekannten. Und dann ist da die herrliche Musik von Tschaikowski, die untrennbar mit der Vorstellung von den Schwänen und dem bösen Zauberer verknüpft ist. Ricardo Fernando löst sich von Petipa und erzählt das Märchen neu. Es stehen ihm – anders wie in den großen Opernhäusern in Wien, St. Petersburg oder sonstwo – keine dreißig Schwäne für die „Massenszenen“ zur Verfügung. Das Stück wird zum Kammerspiel – aber darum nicht weniger eindringlich.
Zunächst liegt es daran, dass Fernando Längen streicht und die Handlung auf die Liebesgeschichte konzentriert. Prinz Siegfried (Marcos Novais) verliebt sich in den weißen Schwan Odette (Jiwon Kim) und wird dadurch blind für die Zwänge seiner höfischen Gesellschaft. Diese zeigt jedoch, anders als bei Petipa, statt des steifen Einherschreitens des würdigen Königspaares sehr dynamische Akteure. Irupé Sarmiento und Riccardo de Nigris als Königin und König bewegen sich lustvoll inmitten des ebenfalls ausgelassen (und bewusst komisch) tanzenden Hofstaates. Dennoch ist diese Welt nicht der Sehnsuchtsort des jungen Prinzen, sein Freund Benno (Alessio Monforte) ist das einzige Bindeglied zwischen den beiden Welten. Die schwarz gekennzeichneten Gegenspieler sind der Zauberer Rotbart (Lucas Alex da Silva) und der schwarze Schwan Odile (Karen Mesquita), von Ricardo Fernando bewusst mit einer anderen Tänzerin besetzt, wo traditionell nur eine die beiden gegensätzlichen Charaktere Odette/Odile verkörpert.
Doch da steht der Choreograph in einer langen Tradition – trotz seiner Bekanntheit ist das Ballett in mehreren Fassungen und Besetzungen gespielt und immer wieder verändert worden. Und auch das Ende ist nicht eindeutig – siegt das Gute oder das Böse? Fernando mag sich in Augsburg nicht entscheiden, er lässt das Publikum mit Münzen abstimmen, die in der Pause in eine „Urne“ geworfen werden. Erwartungsgemäß kam bislang immer das Happy End. Schade, gerne hätte man auch mal das andere gesehen. Es wäre eine Wette wert, ob es im Laufe der Spielzeit mal dazu kommen wird. Das Happy End nach erbittertem Kampf mit Rotbart kommt nicht ganz ohne etwas gezuckert märchenhaften Kitsch aus, aber sei`s drum.
Frei von Kitsch und bis ins Mark berührend ist die Musik von Tschaikowski. Domonkos Héja und die Augsburger Philharmoniker begleiten das Bühnengeschehen umsichtig und gefühlvoll. Da es ja im Martinipark keinen Orchestergraben gibt, sind sie (wenn auch etwas tiefer gelagert) für das Publikum ständig sichtbar und müssen die Balance der adäquaten Lautstärke finden. Herausragend die bei Tschaikowski so beliebten Harfenpartien und das Violinsolo, das die neue Konzertmeisterin Jung-Eun Shin mit Bravour und Schmelz lieferte.
Auch die Bühne fordert aufgrund reduzierter technischer Möglichkeiten Improvisationsgeist. Beim Schwanensee sind die allgegenwärtigen Videoprojektionen allerdings eher redundant bis störend, vor allem die Großaufnahmen einzelner Tänzer oder die Einblendung von echten Schwänen. Dennoch insgesamt stimmig, vor allem bei den Kostümen (Dorin Gal), die auch die Männer in Schwanenfedern stecken – Federn lassen müssen letztlich alle, ob schwarz oder weiß.
Der Ballettabend forderte das gesamte Ensemble, das sich dadurch dem Publikum in seiner neuen Zusammensetzung überzeugend präsentieren konnte. Auch eine Eigenart: Alle Hauptrollen sind mehrfach besetzt, was auf die Gleichwertigkeit der Tänzer verweisen soll. Oder die beliebige Austauschbarkeit. Das Publikum hat nur durch einen Zettel an der Garderobe die Möglichkeit, die aktuelle Abendbesetzung zu erfahren. Eine Vervielfältigung als Einlage im Programmheft wäre keine Verschwendung. Zumal die Neuen im Ensemble noch wenig bekannt sind. Doch als Ganzes zeigte sich die Ballettkompanie eingespielt und homogen. Das tröstete über weggefallene Petipa-Klassiker wie den Tanz der kleinen Schwäne hinweg. Überhaupt verzichtete Fernando bei seiner Choreographie weitgehend auf Spitzentanz, dieser bleibt Odette und Odile vorbehalten.
Fazit des Einstands: Ein frischer, frecher Ballettabend auf hohem Niveau, der den Schwanensee dennoch nicht neu erfinden will. Klasse Musik und klasse Tänzer. Märchenhaft schön. (Halrun Reinholz)