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Dienstag, 04.03.2025 - Jahrgang 17 - www.daz-augsburg.de

Schläfrig, grün, schlüpfrig und scheußlich schön – Venedig, Augsburg und der Untergang von allem

Würde man alle Romane, Erzählungen, Sachbücher und Gemälde zusammentragen, die in Verbindung mit Venedig stehen, müsste man dafür einen Wolkenkratzer bauen, einen Superdome für eine beachtliche Bibliothek/Pinakothek. Selbst der unterkühlte Bertolt Brecht verfasste ein schwärmerisches Gedicht über Venedig.

Von Siegfried Zagler

Schläfrig, grün, schlüpfrig und scheußlich schön: Venedig © DAZ

Dabei sorgte die Serenissima bei ähnlichen Kalibern eher für Spott und Ablehnung. Der Essayist Michel de Montaigne ließ zum Beispiel die Stadt links liegen und begeisterte sich ausufernd für deren damals berühmte Bordell-Szenerie. „Gesamteindruck schön. Einzelheiten weniger“, notierte Herbert Spencer 1880. Stendhal, H.C. Lawrence und der inzwischen zu unrecht vergessene Universalkünstler John Ruskin äußerten sich abfällig über die „scheußlich grüne schlüpfrige Stadt“, die in den 1950er Jahren, als Mary McCarty ihren essayistischen Reiseführer „Venedig“ schrieb, noch 200.000 Einwohner zählte.

Mozart lebte ein paar Monate in Venedig, Richard Wagner mit Unterbrechungen mehr als ein Jahr. Tristan und Isolde und die Meistersinger wurden in Venedig vollendet. Sowohl Mozart als auch Wagner zeigten sich dankbar bezüglich der Ruhe und Gelassenheit, die damals die Lagunenstadt ausstrahlte. Montaigne und Mozart, Brecht und Brodsky, Wagner und Thomas Mann: Es gibt quer durch alle Epochen kaum Künstler oder Schriftsteller, die nicht in Venedig waren und sich nicht von der maßlosen Stadt inspirieren ließen.

Der wichtigste Architekt der Stadt Augsburg, gemeint ist Elias Holl, besuchte Venedig, um sich vom Pragmatismus der Palazzi entlang des Canal Grande inspirieren zu lassen: Die ebenerdigen (fast auf Wasserlinie befindlichen) großen Eingangshallen waren und sind beidseitig geöffnet und sehr spärlich möbliert, damit das Hochwasser abfließen kann. Denkt man sich die Zwiebeltürme weg, die vom Augsburger Magistrat lange abgelehnt wurden, fällt die Holl´sche Rathaus-Architektur in Augsburg als Palazzo-Kopie ziemlich deutlich ins Auge. Auch die Fuggerei ähnelt den Arbeitersiedlungen in der Nähe des Arsenale. Augsburg und Venedig: In der imaginären Bibliothek würde diese Reihe ein großes Regal füllen.

Kinderlos und beinahe wie die Fuggerei: Wohngebiet in Venedig © DAZ

Heute gehört Venedig mit 30 Millionen Touristen im Jahr zu den umtriebigsten Rummelplätzen weltweit. Wer sich verstecken will, kann das in einem schwer zu findenden Unterschlupf machen oder öffentlich in Venedig, wo man im Touristengewimmel selbst als Superprominenter ungesehen untertauchen kann. Venedig ist mit den üblichen Städteanalysen nicht zu begreifen. Nur noch 50.000 Menschen haben dort ihren Wohnsitz gemeldet. Sie müssen lange Wege in Kauf nehmen, wollen sie zum Friseur, zum Supermarkt oder zum Gemüseboot.

Die dem Moloch Tourismus geschuldete Gentrifizierung hat der Stadt stärker zugesetzt als die Pest, Napoleons Überfall und die Mafia zusammen. Das schnelle Geld, das der Tourismus in die Stadt geschwemmt hat, hat mehr zerstört als das Salzwasser, die Brände und die Überschwemmungen im Lauf der langen Geschichte dieser wahnwitzigen Stadt, die einst zu den mächtigsten und reichsten Staaten der Zivilisationsgeschichte gehörte.

Heute gibt es keine Stadt nördlich von Palermo, die mehr Verfall und Leerstände vorzuweisen hat als Venedig. Und dabei spielt es kaum eine Rolle, ob der nicht bewohnte Raum im Besitz von reichen Italienern ist, die eine Wohnung in Venedig als Statussymbol ausweisen, wie den ungefahrenen Ferrari in der beheizten Garage – oder ob die Wohnungen von Airbnb zur Übernachtung angepriesen werden. In Venedig gibt es mehr Übernachtungsbetten als Einwohner, die weiterhin in Scharen aus der Stadt flüchten: 1000 Venezianer pro Jahr verlassen die Lagune Richtung Festland. Spielende Kinder auf den Plätzen von Venedig gibt es nicht mehr. In den Abendstunden und morgens, wenn der Rummel der Tagestouristen verflogen – oder noch nicht in Schwung gekommen ist, bekommt die Stille eine beängstigende Note. Überrascht registriert man normale Vorgänge: Eine Frau, die Blumen am Fenster gießt. Einen Mann im Anzug auf dem Weg ins Büro. Einen Angler, der gelangweilt aufs Wasser blickt. Fliegt man mit Google Earth über die Stadt, findet man zwei historisch anmutende Dreiräder und ein verdrecktes Plastikplanschbecken inmitten einer halbverlassenen Sozialsiedlung. Will man Kindern beim Spielen zusehen, muss man ebenfalls weite Wege gehen.

Vergangenen Dienstag hat nun der Stadtrat von Venedig eine seit längerer Zeit im Raum stehende Maßnahme beschlossen. Tagestouristen sollen ab 2024 fünf Euro Eintritt bezahlen. Zunächst nur an 30 Tagen. Später soll diese Maßnahme ausgeweitet werden. Damit will die stets klamme Kommune ihren Stadtsäckel füllen und auf naive Weise regulierend die Zahl der Tagestouristen eindämmen. Die Bewohner Venetiens, die 70 Prozent der Tagestouristen ausmachen, sind davon befreit. Eine ähnliche Regelung bei der geplanten deutschen Autobahnmaut kassierte die EU.

Nun habe sich Venedig von einer Stadt endgültig zu einem Museum umdefiniert, zu einem Disney-Freizeitpark, so die bittere Kritik der Venezianer, die sich nicht als Museumsbewohner (wie die Bewohner der Fuggerei) sehen wollen, weshalb es starke Initiativen gegen diesen Beschlussvorschlag gab.

„Wir sind Museum“ ist eine Ironisierung, die seit Jahrzehnten das Stadtleben in Venedig karikiert. Dieser Spruch wirkt seit dieser Woche wie die lyrische Untermalung einer Vorab-Beerdigung. Venedig stirbt langsam, aber es stirbt in Schönheit und öffentlich. Und alle Besucher tragen dazu mit Lust und Wonne bei. So gesehen sind der langsame Untergang der Lagunenstadt und die halbherzigen Maßnahmen dagegen eine Metapher für die globale Erwärmung und die menschliche Unbeholfenheit, sich selbst aus der Krise zu manövrieren.