Kultur
Konzeptkunst: Die Erzählungen der Schattenfänger im Gaswerk zu Oberhausen
Im ehemaligen Portalgebäude beim Oberhauser Gaswerk fand kürzlich eine bemerkenswerte Kunstinstallation ihr Ende. Ein kleines aber unbescheidenes Werk mit dem Verweis auf prähistorische Götter- und Legendenbildungen, die sich nicht unterkriegen lassen – und in neuen Gewändern auftauchen.
Von Siegfried Zagler
Wenn es um nichts geht, dann geht es auch um alles, da bekanntermaßen aus dem Nichts alles kommt: Raum, Zeit, Materie, Sonnen, Planeten, die Erde und der Mensch. Bleiben wir also nicht wie üblich bescheiden, sondern beginnen wir mit Ernst Bloch, dem großen Philosophen und Sozial-Utopisten. Bloch erkannte, dass Menschen tagträumend sich in der Zukunft befindliche Zustände und Entwicklungen wünschen. Daraus lasse sich ableiten, so Bloch, dass die menschliche Existenz nichts Fertiges oder Abgeschlossenes habe.
Das Sein sei unfertig, wovon der Mensch aber wissen würde, weshalb er ständig im Diskurs mit seinem Umfeld nach Fortschritt strebe, nach Vollendung. Doch lassen wir Bloch selbst selbst zu Wort kommen:
“Der Mensch lebt noch überall in der Vorgeschichte, ja alles und jedes steht noch vor Erschaffung der Welt, als einer rechten. Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heißt sich an der Wurzel fassen. Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfasst und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.”
Heimat ist bei Bloch selbstverständlich keine reaktionäre Blut- und Bodenkategorie, sondern eine Vision für die gesamte Menschheit. Voraussetzung dafür ist nicht nur reale Demokratie, sondern auch der Erkenntnisstand der Moderne. Heimat ist nichts Vererbtes, kein örtlicher Zuschnitt mit Grenzen, sondern etwas Erschaffbares, eine Utopie der menschlichen Vernunft.
Anachronistische Weltbilder haben darin nichts zu suchen. Vorbei die Finsternis, als unsere Erde im Zentrum des Universums stand, als Achse des Sonnensystems, als Heimstatt der Götter. Und der Mensch dort stand, unwissend und furchtsam – im Zentrum von allem, gottbeäugt und geführt von einer allwissenden Macht. Götter hatten ihre Existenz ausschließlich dem hilflosen Menschen gewidmet, und sie betrachteten die Erdgeburt zwar argwöhnisch, ja eifersüchtig, aber sie neigten sich zu ihm, nicht nur zornig und drohend, sondern auch kümmernd und stets vorausschauend und planend.
Diese Zeiten sind nicht nur vergangen, sondern im Feuer der Aufklärung verbrannt. Zu Asche pulverisiert von den Newtons, Keplers, Kants, Feuerbachs und Einsteins. Längst sehen wir uns – von uns selbst entzaubert – verletzbar auf einem zerbrechlichen Planeten, der sich sinnlos in unendlichen Weiten selbst rotierend um “unsere” Sonne dreht. Auf ihm, die Emporkömmlinge einer unkontrollierbaren Evolutionsmaschine, der Mensch, die Menschheit, “diese Quintessenz von Staub”, wie Shakespeare seinen Hamlet sagen lässt.
Wenn wunderts also, wenn der entzauberte Mensch – Aufklärung hin oder her – sich nicht so einfach aus der jahrtausendwährenden Struktur seiner Vorfahren verabschiedet und doch nicht alles unter die Knute der Vernunft und den Erkenntnisprozessen der Wissenschaften stellt!?
Wegen ein bisschen Astronomie, Physik, Chemie undsoweiter lässt man die Metaphern und die Versprechungen der Vergangenheit nicht einfach in den Orkus der Geschichte fahren, denn schließlich sind Menschen gern romantisch. Und was ist romantischer als die Vorstellung eines höheren Wesens – mit einem sinngebenden Plan?
Gott und Götter, Buddhas, Engel, Heilige, die Esoterik und selbstverständlich die Astrologie haben wieder Konjunktur, denn so ganz ohne höhere Ordnung wäre er, also der Mensch, tatsächlich auf sich selbst zurückgeworfen, verlassen und allein; und allein verantwortlich für sein Tun und Denken.
Zoomen wir uns also zurück in die Ebenen der Legenden und der Brauchtümer. Nach Europa, Deutschland, Augsburg, vorbei am Perlach und dem prähistorischen Michaeliskult, nach Oberhausen, hinein ins 2001 stillgelegte Gaswerk, wo 85 lange Jahre aus Kohle industriell Gas gewonnen wurde und nun ein “Kreativzentrum” entstehen soll.
In den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts entstand dort der “Kult um Gasius”, ein Schattenwerk auf dem Wölbbassin des Teleskop-Gasbehälters, ein Schattengeist mit Krone und Flügeln, der von Mitarbeitern des Gaswerks entdeckt, fotografiert und augenzwinkernd zum Schutzpatron des Gaswerks erklärt wurde. Eine Kultfigur, entstanden aus einem Lichtschatten, aus Energie, die die Sonne aus 150 Millionen Kilometern Entfernung in acht Minuten und neunzehn Sekunden auf die Erde “schickt”. Licht ist Energie, ohne die unser Planet eine “nackerte Kugel” wäre, wie es Herbert Achternbusch so poetisch sagte.
Im Gaswerk verfängt sich das Sonnenlicht im Gewirr der Wendeltreppen und wirft auf das riesige Wölbbassin des Telekop-Gasbehälters ein nicht minder riesiges Schattenbild, eine Zufallsprojektion, die so nur an wenigen Tagen im Mai zu sehen ist. Dann verzerrt sich das Bildnis und verschwindet für ein ganzes Jahr wieder zurück in das Nichts, woher, wie eingangs ja bereits erwähnt, alles herkommt und in das auch alles wieder verschwindet – wenn die Zeit dafür gekommen ist.
Die flüchtige Schattengestalt wurde von ihren Entdeckern “Gasius” genannt. Und im Lauf der Jahre entwickelte Gasius in den Hirnen der Gaswerksmitarbeiter ein Eigenleben, ein Erzählwerk mit sprichwörtlicher Referenz, wie der ehemalige Gaswerker Oliver Frühschütz erzählt: “Glück gehabt, dass der Heilige Gasius aufgepasst hat”, so sei ein Beinahe-Arbeitsunfall im Gaswerk kommentiert worden. Die Gasius-Legende wäre wohl zusammen mit den letzten 25 Mitarbeitern nach der Stilllegung aus dem Gaswerk und der Welt verschwunden, hätten sich nicht ehemalige Gaswerker aufgemacht, einen Verein zu gründen (“Gaswerksfreunde e.V.”), der sich um den Erhalt des Gaswerks und der Gasius-Legende kümmert.
Vier Künstlerinnen ließen sich davon inspirieren und gründeten das “Kunst-Kabinett” beim Gaswerk: Susanne Thoma, Sigrun Lenk, Stefanie Kraut und Hanna Petermann. Ein Raum, das “Gasius Worx Stadt Labor”, steht ihnen im Portalgebäude für monatlich wechselnde Ausstellungen zur Verfügung. Die Künstlerinnen wollen im Tandem arbeiten, und dabei im Sinne von Ernst Bloch Beiträge zur wirksamen Definition eines neuen Ortes, einer neuen Welt leisten: “So entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.”
Susanne Thoma machte den Anfang und konnte als Partnerin die Theologin und Inklusionsexpertin Lina Mann gewinnen. “Inklusionsprojekt Gasius” nannten sie ihren Konzeptkunst-Beitrag zum “Gasius Worx Stadt Labor”: Eine Installation, die auch für Nichtsehende “sichtbar”, besser: erfahrbar gemacht wurde. Ein Video zeigte die Bildung des Gasius-Schattens im Zeitraffer. Dazu erzählt Gasius vom Band als Ich-Erzähler seine Geschichte. Das Projekt ging kürzlich zu Ende und es begeisterte Sehende und Nichtsehende, die im Kunst-Kabinett einen Gasius-Flügel ertasten konnten und den Aufbau der beiden Thoma-Bilder erzählt bekamen. Corona-bedingt ein kleines Projekt mit der Aura von starker Kunst, die das Unsichtbare sichtbar macht, nicht nur für Blinde, sondern auch für die Augen der Sehenden, die gewöhnlich nichts sehen.