Keine Scheuklappen vor der Wirklichkeit
Die Tage des Unabhängigen Films: ästhetischer und intellektueller Hochgenuss
Von Frank Heindl
Manchem Event hat das gute Wetter der vergangenen Tage gar nicht in den Kram gepasst – die Veranstalter der afa auf dem Messegelände etwa sehen in sommerlichen Temperaturen den Hauptgrund dafür, dass sie in diesem Jahr 11.000 Besucher weniger gezählt haben. Ein bisschen anders war die Situation bei den Tagen des Unabhängigen Films: Auch hier geht man davon aus, dass bei etwas aprilhafterem Aprilwetter noch mehr Zuschauer den Weg in die dunklen Kinosäle gefunden hätten. Mit insgesamt 19.400 Besuchern kam das Festival aber auf ein respektables Ergebnis. Festivalleiter Franz Fischer: „Wir haben im Vergleich zum Vorjahr praktisch keine Verluste – es ist gar nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn das Wetter normal gewesen wäre.“
Die hohe Zahl errechnet sich aus den Besuchern der vielen Standbeine des Kinofestivals. Eine Besonderheit ist es beispielsweise, dass die Säle des „Kinodreiecks“ aus Mephisto, Thalia und Savoy meist schon vormittags ausverkauft waren: Ab acht Uhr stürmten Schulklassen mit ihren Lehrern die sieben Filme des Kinderfilmfests und weitere Streifen, die im Rahmen der Schulkinowoche Bayern gezeigt wurden. Die Tage des Unabhängigen Films selbst zeigten unter der Rubrik „Lust auf Wirklichkeit“ 14 Dokumentarfilme, unter dem Titel „Best oft he Best” gab es zusätzlich 18 Spielfilme zu sehen – jeweils aus aller Welt und zu den unterschiedlichsten Themen. Als weitere Publikumsmagneten kamen wie immer die von Erwin Schletterer kuratierten vier Programme des Kurzfilmfestivals hinzu.
Das Publikum scheut die schwierigen Themen nicht
Fischer lobt in seinem Resümee weniger seine Filme – „die sprechen für sich“ – als sein Publikum: Für eine Stadt wie Augsburg – keine Filmstadt, da ohne Filmhochschule oder ähnliche Einrichtungen – zeige das Publikum enormes Interesse. Anderswo würden für die Festivals Stars „eingeflogen“, um Zuschauer anzulocken – „in Augsburg dagegen kommen die Leute, weil sie sich für Inhalte interessieren.“ Fischer sieht sein Festival als Exponent einer „niederschwelligen Kulturarbeit“ – tatsächlich sind in seinen Kinos Vertreter aller Schichten und Altersklassen zu Gast. Und dieses Publikum habe keinerlei Scheu vor ernsten und schwierigen Themen.
In der Tat geht das Konzept der Tage des Unabhängigen Films nach wie vor auf: Von Anbiederung an Publikum und Zeitgeist sind die präsentierten Filme allesamt weit entfernt, dafür aber geprägt von einer Offenheit für Menschen, Themen, Problemlagen auf der ganzen Welt. Ein schwieriges, keineswegs optimistisches, aber in großartiger Filmsprache erzähltes Werk wie „Un homme qui crie – Ein Mann der schreit“ aus dem Tschad beispielsweise findet in Augsburg auf Anhieb sein Publikum. Und das bliebt meist – und, wie gesagt, trotz des Traumwetters – nicht nur zum Film, sondern harrt bei den anschließenden Diskussionen lange aus, fragt neugierig, kritisch und detailliert nach. Von „nachhaltiger Kinoarbeit“ spricht Fischer und von einem Angebot an die gesamte Stadtgesellschaft, das von dieser in hohem Maße angenommen werde.
Besser als durch Statements des Festivalleiters lässt sich das Festival durch den Besuch der Filme beurteilen Was sich zehn Tage und Nächte lang in den Sälen des „Kinodreiecks“ abspielte, war sowohl für den Filmfan als auch für den Beobachter der Augsburger Kulturszene äußerst sehenswert. Denn in der Tat ist die nachhaltige Beteiligung des Publikums in Fischers Festivalkonzept keine Phrase eines abgehobenen Kulturkonzepts, sondern bei jedem Film erfahrbare Wirklichkeit. Mehr als 50 Regisseure, Schauspieler und Produzenten hatte das Festival zu Gast – und deren Anwesenheit war stets hochgeschätzt. In der Regel wurde nach einer kurzen Vorstellung der Gäste und einigen einführenden Worten zunächst der Film gezeigt. Anschließend wurde diskutiert – und zwar fast immer ausführlich. Wann sonst hat man schon Gelegenheit, mit Gästen beispielsweise aus Indien, aus verschiedenen Ländern Afrikas oder aus Kirgistan zu reden?
Im Kaffeehaus am Puls des Festivals
Ebenfalls ohne Beispiel für die Augsburger Festivallandschaft ist das während des Festivals in „Café Filmriss“ umgetaufte Thalia Kaffeehaus. Die lange Tafel, die stets für Gäste und Mitarbeiter des Festivals reserviert ist und an der Fischer seine Crew großzügig bewirten lässt, ist der Kommunikations- und Kulminationspunkt der Filmtage – hier schlägt der Puls der Filmtage. Und zwar nicht nur für Insider, sondern für alle Interessierten: Die Gäste des Festivals sind offene, gut gelaunte und zugängliche Leute, die sich gerne dem Gespräch stellen – und das Publikum nutzt das.
Es fällt schwer, die Höhepunkte der am Sonntag zu Ende gegangenen Filmtage zu definieren – weil es deren sehr viele gab. In ästhetischer Hinsicht waren beispielsweise die Daumenkinos des Volker Gerling ein solcher Höhepunkt (DAZ berichtete). In kommunikativer Hinsicht gab es andere – zum Beispiel, wenn Realität des Films und Realität des Publikums aufeinandertrafen. Der Regisseur Thomas Majewski hat einen Film über ein kleines Dorf nahe Günzburg gemacht. „Verborgen in Schnuttenbach“ heißt die Dokumentation, in der er einfühlsam und unaufdringlich Bewohner seines Heimatortes vor die Kamera bringt, in dem sich während des Zweiten Weltkrieges ein Zwangsarbeiterlager befand. Am vorvergangenen Sonntag zeigte Majewski sein Werk im Thalia – im Publikum saßen ehemalige Dorfbewohner, die nicht nur einige von Majewskis Protagonisten persönlich gekannt haben, sondern von einigen auch völlig anderen Eindrücke mitbrachten. Majewski reagierte schnell und verabredete sich mit den Gästen zu weiteren Gesprächen. Ob diese Recherchen in eine mögliche Fortsetzung seines Filmes einfließen könnten, weiß der Regisseur noch nicht. Aber wie da unmittelbar während des Festivals ein Film in der Realität weitergeschrieben wurde, wie da eine Wechselwirkung zwischen Publikum und Medium nicht nur behauptet wurde, sondern sich manifestierte – das hat beeindruckt.
Die Wirklichkeit schlägt zurück
Auch für den Dokumentarfilmer Thomas Frickel gab’s in Augsburg überaschende Momente. In seinem Film „Mondverschwörung“ stellt er Esoteriker vor, die derart verstrickt sind in ihre Scheinwelten aus Verschwörungstheorien und Antisemitismus, dass man mit einigem Recht von Wahrnehmungs-, wenn nicht Geistesstörung sprechen kann. Auch Zahlenmythologen kommen zu Wort, die aus den Buchstaben „www“ und deren Stelle im Alphabet „beweisen“ können, dass das Internet eine Verschwörung des „Weltjudentums“ sei. Gibt es solche Verrückten wirklich? Man war geneigt, sie als allzu isolierte und daher irrelevante Einzelwahnsinnige abzutun – bis sich ein Zuschauer während des Publikumsgesprächs mit einem wichtigen Einwand meldete: Das Auto, mit dem der amerikanische Interviewer in Frickels Film quer durch Deutschland fährt, ist ein VW. Schon mal drüber nachgedacht, dass das V im römischen Zahlensystem 5 bedeutet? Und dass das W der 23. Buchstabe des Alphabets ist? Und dass 2 + 3 wieder die 5 ergibt – was übrigens auch bei der Zigarettenmarke „Ernte 23“ der Fall ist? Der Zuschauer hätte gerne noch erläutert, auf welche Weltverschwörung dieser Zusammenhang „unbestreitbar“ hinweist.
Das übrige Publikum ignorierte ihn höflich – darf sich aber glücklich schätzen darüber, dass Frickels Film – und nicht nur dieser – so wenig vor der Realität halt macht, wie diese vor ihm. Für solch einen ästhetischen wie intellektuellen Hochgenuss braucht es ein Festival, das keine Scheuklappen vor der Realität kennt, sondern im Gegenteil alle Schotten öffnet, um diese hereinzulassen.