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Samstag, 23.09.2023 - Jahrgang 15 - www.daz-augsburg.de

Die Legende von der Friedensstadt

Ein Friedenspreis im langen Schatten des Hasspredigers Luther, eine Stadt im Identitätswahn. Die Erzählung der „Friedensstadt Augsburg“ taugt bestenfalls als ahistorische Farce. Höchste Zeit für eine Hinterfragung von Anspruch und Wirklichkeit.

Von Bernhard Schiller

Dass von Zufall kaum die Rede sein kann, wenn ausgerechnet im staatlich verordneten Reformationsjubiläums- und sogenannten Lutherjahr der hochrangigste Lutheraner mit dem von der lutherischen Kirche verliehenen Friedenspreis ausgestattet wird, muss nicht mehr ausführlich wiederholt werden. Wohl aber die Frage nach den Grenzen der Glaubwürdigkeit. Mit der Glaubwürdigkeit beziehungsweise der Wahrheit ist es so eine Sache. Einerseits ist die Behauptung, im Besitz der absoluten Wahrheit zu sein, ursächlich für Gewalttat und Krieg. Das Postulieren von Wahrheit ist genau darum eine Lüge und grundsätzlich entlarvbar. Entlarvbar, weil wir andererseits annehmen dürfen, dass es die Wahrheit ist, wenn etwas nicht die Wahrheit ist.

Der Philosoph und Publizist Theodor Lessing (1872-1933) bezeichnete in seinem 1919 erschienenen Antikriegsbuch „Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen“ die Geschichtsschreibung als das Bedürfnis und die Absicht „Illusionen zu schaffen“. Geschichtsschreibung, so der in deutschnationalen und völkischen Kreisen mehr als unbeliebte Lessing weiter, erfülle eine Sinn stiftende Funktion innerhalb der Gegenwart und sei daher eine „produktive Leistung der Phantasie, worin (…) Wunscherfüllung, Sehnsucht und Hoffnung sich bewähren“. Mit anderen Worten: Dort, wo aus dem Chaos der historischen Abfolgen und Zufälle nachträglich Sinn konstruiert wird, ist das Interesse an der Wahrheit gering oder doch zumindest sehr pragmatisch.

Mit dem identitätspolitischen Zinnober um die sogenannte „Friedensstadt Augsburg“ verhält es sich entsprechend. Der Augsburger Reichs- und Religionsfrieden von 1555 mag nachträglich zwar mit einiger Phantasie als Meilenstein auf dem Weg in die Rechtsstaatlichkeit gedeutet werden. Konkret – das heißt im Zeitraum seiner Wirksamkeit – bedeutete er jedoch lediglich eine realpolitische Notlösung zur Einhegung der Gewalt zwischen Protestanten und Katholiken. Die Konfliktlogik der damaligen Zeit bestand trotz der Regelung fort und so hielt der Reichs- und Religionsfrieden oberflächlich gerade einmal 62 Jahre. Dann war Schluss mit dem allzu weltlichen Kompromiss. Der Dreißigjährige Krieg wurde als Religionskrieg zwischen Katholiken und Protestanten geführt. Insbesondere in Augsburg und dem hiesigen Umland auf grausamste und besonders verheerende Weise.

Wie man angesichts dieser historischen Sachverhalte auf einen Satz wie den folgenden kommt, ist mit den eingangs erwähnten Thesen Lessings schlüssig darstellbar. In seiner Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises sagte Augsburgs Oberbürgermeister Kurt Gribl: „Spätestens seit jenen Tagen …, als im Jahr 1555 der Augsburger Religionsfrieden unterzeichnet wurde, steht unsere Stadt Augsburg unverbrüchlich für die Forderung nach Frieden und Toleranz im menschlichen Miteinander. Seither ist Augsburg Friedensstadt.“ Unverbrüchlich. Als ob es die Katastrophe von 1933 bis 1945 nicht gegeben hätte. Oder den Ersten Weltkrieg, der ausgerechnet in Augsburg für einen Aufschwung der Rüstungsindustrie gesorgt hatte. Jener Industrie, die gegenwärtig fröhlich Urständ feiert als entscheidender Standortfaktor im hiesigen Wirtschaftsraum.

Da gemäß des Lessingschen Grundsatzes („Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen“) alles an Erzählung erlaubt ist, was gefällt, kann ein jeder ungezwungen behaupten, dass Augsburg seit 1555 Friedensstadt sei. Werden derartige Worte allerdings während einer offiziellen Zeremonie in einem goldfunkelnden Zentralheiligtum aus dem Munde eines mit ebenso goldenem Ornat behangenen Oberbürgermeisters gesprochen, erhalten sie materielle Wirksamkeit – ähnlich der Namenssprechung bei einer Taufe.

Seit jeher ist das die zentrale Aufgabe von Riten. Tradierte Normen und Glaubensinhalte werden mittels eines Zeremonienmeisters in einem symbolischen Akt erneuert, um sicherzustellen, dass das Volk nicht von dem vorgegebenen Pfad der Überlieferung (vulgo: der Wahrheit) abweiche. Eine erfolgreiche Machttechnik, die den Zusammenhalt der Gruppe und mit ihm den Fortbestand der jeweiligen Herrschaftsverhältnisse konservieren soll. Beide gemeinsam – der durch Ritualmagie hergestellte Gruppenzusammenhalt und die Stabilität der Machtverhältnisse – werden dann „Frieden“ genannt. Der Ausdruck „Friedensstadt“ ist deshalb genau genommen Chiffre für eine Erzählung, die sich zur Legende aufschwang.

Preisträger und Laudator benennen die Fakten

Ausgerechnet der Friedenspreisträger selbst stutzte in seiner Ansprache die Erzählung von der „Friedensstadt Augsburg“ und ihrem sogenannten „Augsburger Religionsfrieden“ aufs richtige Maß: „Die Stadt Augsburg steht für einen Friedensvertrag, der einen Konflikt zwischen Lutheranern und Katholiken eindämmen wollte, welcher in seiner Eskalation bereits viele Menschenleben gefordert hatte, und noch so viele mehr fordern sollte.“ Martin Junge, Generalsekretär der Lutherischen Weltbundes, nannte das enorme Konfliktpotential von Religionsgemeinschaften beim Namen und rief deren Vertreter zur Verantwortung dafür, die negativen Potentiale von Religion nicht zur Entfaltung kommen zu lassen und ihre politische Instrumentalisierung zu verhindern.

Ausgerechnet der Friedenspreisträger führt seinerseits in die Irre, wenn er behauptet, dass Religion „besonders dann“ „trennend wirke“, wenn sie „instrumentalisiert und politisiert“ würde. Zum einen hätte Junge den ihm von einem selbstreferenziellen Bündnis aus Politik und Kirchen im staatlich verordneten Lutherjahr verliehenen Friedenspreis an Ort und und Stelle zurückweisen müssen, würde er seinen eigenen Worten Glauben schenken. Zum anderen verschleiert der Lutheraner die Tatsache, dass Gefahr für das gesellschaftliche Zusammenleben nicht darin besteht, dass Religion politisiert oder instrumentalisiert wird. Stattdessen obliegt es der Politik beziehungsweise der rechtsstaatlichen Verfassung einer liberalen und demokratischen Gesellschaft, ihre Sakralisierung und den Griff religiöser Gruppen nach politischer Herrschaft abzuwehren.

Der Ausdruck „Augsburger Religionsfrieden“ steht exemplarisch für diese Form der Verschleierung. Bei dem im Jahr 1555 verabschiedeten Werk handelte es sich nicht um ein religiöses, sondern um ein reichsrechtliches Gesetz, das die Anhänger der „Augspurgischen Confessions-Religion“ in den weltlichen Landfrieden miteinbezog (§ 15). Ein Vertrag also, der nicht von, sondern für und wegen Katholiken und Protestanten zustande gebracht wurde. Ausdrücklich nicht miteinbezogen in den Landfrieden wurden sämtliche andere Religionsgemeinschaften (§ 17): „Doch sollen alle andere, so obgemelten beeden Religionen nicht anhängig, in diesem Frieden nicht gemeynt, sondern gäntzlich ausgeschlossen seyn.“ Diese gesetzliche Diskriminierung betraf nicht zuletzt Leib und Leben der Täufer (Mennoniten), die bereits in der Confessio Augustana von 1530 wörtlich „verdammt“ wurden und bis zum heutigen Tag werden.

Ausgerechnet der Laudator der Preisverleihung musste den Preisträger und alle Lutheraner sowie die anderen anwesenden Confessio-Verehrer auf diesen Tatbestand hinweisen. César Garcia, Generalsekretär der Mennonitischen Weltkonferenz, stellte am Höhepunkt seiner Laudatio unmissverständlich klar, dass Artikel 16 der Confessio Augustana aus der gewalt- und herrschaftsfreien Sicht der Mennoniten unvereinbar sei mit der Frage, wie Christen als Friedensdiener in ihren Gesellschaften wirken könnten. Der Artikel handelt von „Polizei und weltlichem Regiment“ und bestimmt, „daß Christen ohne Sünde in Obrigkeit, Fürsten- und Richteramt tätig (…), nach kaiserlichen und anderen geltenden Rechten Urteile und Recht sprechen, Übeltäter mit dem Schwert bestrafen, rechtmäßig Kriege führen“ können.

Als der Lutherische Weltbund mit Beteiligung seines heutigen Generalsekretärs im Jahr 2010 die Mennoniten um Vergebung für das an ihnen verübte Unrecht bat, war von einer inhaltlichen Reform des Augsburger Bekenntnisses nicht die Rede. Nach wie vor zählt die Confessio Augustana in der unveränderten Fassung von 1530 zu den verbindlichen Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirchen und überliefert das Ressentiment gegen Täufer und Juden in die Gegenwart. Kein Wunder also, dass Preisträger Junge in seiner Ansprache den Terminus vom „Sektierertum“ gebrauchte. Garcias Wink mit dem Zaunpfahl sollte bei denjenigen, welche so sehr um die permanente, rituelle Herbeiführung einer Friedensstadt-Tradition aus der Confessio Augustana bemüht sind, angekommen sein.

… kontrafaktische Engführungen, die zu Spekulationen verleiten

Neueste Forschungsergebnisse aus der Geschichtswissenschaft widersprechen den monokausalen Herleitungsversuchen der „Friedensstadt Augsburg“ aus dem Reichs- und Religionsfrieden von 1555 ohnehin fundamental. Der Professor für die Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Münster und Experte für die Reformation, Matthias Pohlig, untersuchte Ursachen und Wirkungen der Reformation. Ihm zufolge lassen sich zwar kurzfristige, unmittelbare Folgen der Reformation wie die Kirchenspaltung, der Bauernkrieg oder die Karriere des Buchdrucks nachweisen. Ohne die Reformation, so Pohlig, hätte es auch die Anfänge einer Trennung von Religion und Politik nicht gegeben. Dass es aber einen linearen Weg vom Augsburger Reichs- und Religionsfrieden und vom Westfälischen Frieden (1648) zu Toleranz, Säkularisierung und einem modernen Verfassungsstaat gegeben habe, kann der Experte „mit Sicherheit“ ausschließen. Viele der Einschätzungen, die anlässlich des Reformationsjubiläums veröffentlicht würden, seien deshalb kontrafaktische Engführungen, die zu Spekulationen verleiten.

Hexenwahn und Judenhass – Augsburg war nicht friedlich

Die Behauptung, die Stadt Augsburg sei seit dem Jahr 1555 unverbrüchlich mit der Forderung nach Frieden verbunden und deshalb „spätestens seit jenen Tagen“ Friedensstadt, soll hier noch einmal anhand zweier Beispiele diskutiert werden:

Zu den Hassobjekten Martin Luthers zählten neben den Mennoniten zeitlebens auch die Juden und der Teufel beziehungsweise diejenigen, welche aus der Sicht des Reformators mit letzterem im Bunde standen. Alle drei Gruppierungen werden auch von der Confessio Augustana verurteilt. Das Schicksal der Juden in und um Augsburg sowie das Schicksal der vom Hexenwahn betroffenen Personen widerspricht der Darstellung, Augsburg sei spätestens nach 1555 zur Friedensstadt mutiert.

Bereits bis zum Jahr 1440 waren sämtliche Juden aus Augsburg vertrieben worden und aufgrund des Verbotes, sich im Umland niederzulassen, abgewandert. Erst ab 1569 ist jüdisches Leben wieder im westlichen Umland (Pfersee, Kriegshaber, Steppach) nachweisbar. Juden durften sich in dieser Zeit nur unter diskriminierenden Auflagen zeitweise im Stadtgebiet aufhalten. Im Jahr 1700 wurde versucht, ihnen das Betreten der Stadt dauerhaft vollständig zu verbieten. Dagegen intervenierte die habsburgische Regierung der Markgrafschaft Burgau, zu welcher Kriegshaber damals gehörte. Damit scheiterte der wenig friedliebende Versuch der Freien Reichsstadt Augsburg, judenfrei zu werden, an einer politischen Intervention von außen.

Das Verbot für Juden, sich im Stadtgebiet wohnlich niederzulassen, blieb trotzdem bis Anfang des 19. Jahrhunderts erhalten. Dann folgte – wie auch andernorts im Zuge der Aufklärung – eine Episode der Emanzipation und einsetzenden Gleichberechtigung. Doch bereits im Jahr 1893 wurde in Augsburg ein Ortsverband der „Antisemitischen Volkspartei“ gegründet. Der Hass gegen die Juden, welcher sowohl von katholischer, als auch dezidiert von protestantischer Seite seit Jahrhunderten geschürt wurde, war auch im Augsburg des Deutschen Reichs und der Weimarer Republik virulent und entlud sich in neuerlichen Gewalthandlungen noch vor der Zeit des Nationalsozialismus.

Dasselbe Argument lässt sich aus einer Betrachtung der Augsburger Hexenprozesse gewinnen, welchen bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts zahlreiche unschuldige Frauen, Männer und insbesondere Kinder zum Opfer fielen. Die Reichsstadt und das Hochstift Augsburg kamen im Vergleich zu anderen Gebieten des süddeutschen Raumes auf eine ungleich höhere Anzahl an Hexenprozessen, darunter fielen in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit einem Anteil von 60 Prozent die Verfahren gegen sogenannte Kinderhexen. Das Durchschnittsalter der Kinder, welchen der Prozess wegen Hexerei gemacht wurde, lag bei elfeinhalb Jahren. Auch dafür fanden die Verfolger Legitimation bei Martin Luther, der in seinen Schriften die Tötung behinderter, seiner gelehrten Meinung nach vom Teufel gezeugter Kinder empfohlen hatte.

Tief verwurzelter Hexenglaube im Bewusstsein der Augsburger Obrigkeit

Insgesamt sind aus der Reichsstadt Augsburg 17 Hinrichtungen von als Hexen verunglimpften Menschen bekannt. Kinder wurden zwar nicht ermordet, aber zu Haftstrafen verurteilt. Die letzte Hinrichtung fand im Jahr 1745 statt und damit nicht nur rund 200 Jahre nach der Confessio Augustana und dem Augsburger Reichs- und Religionsfrieden, sondern vor allem auch zu einer Zeit, als in anderen Gebieten des Reiches der Hexenwahn abebbte oder bereits überwunden war. Längst hatte ein breiter Diskurs über die Unrechtmäßigkeit der Hexenverfolgung eingesetzt und in zahlreichen anderen Städten (beispielsweise mit Anton Praetorius in Birstein 1597, Friedrich Spee in Paderborn 1631, Christian Thomasius in Halle 1701) war Kritik an der Praxis verübt worden. In der „Friedensstadt“ Augsburg tat sich auf solche Weise kein namhafter Gelehrter hervor. Vielmehr waren ein tief verwurzelter Hexenglaube und die kollektive Angst vor dem „Bösen Feind“ integraler Bestandteil des Bewusstseins der damaligen Augsburger Obrigkeit und Bürgerschaft.

Dem Hexenwahn liegen mitunter reale, soziale und psychologische Phänomene zu Grunde. Gerade unter den „Teufelskindern“ kam es häufig zu Selbstbezichtigungen, wie sie auch heute von Opfern sexuellen Missbrauchs bekannt sind. Auf diesen Zusammenhang wird in verschiedenen Untersuchungen hingewiesen. Wo heute im besten Fall eine Kultur der Therapie, der Aufarbeitung und der strafrechtlichen Täterverfolgung stattfindet, standen im Augsburg der Frühen Neuzeit noch Stigmatisierung, Ausgrenzung und Bestrafung der Opfer. Dies war so möglich, weil das von den beiden großen Konfessionen bestimmte geistige Klima der Gesellschaft durch die permanente von den Kanzeln herab ausgeübte Einrede, dass da ein Teufel sei, solches zuließ. Der „Teufel“ ist ein Stellvertreter zur Verschleierung realer Gewalt und Verantwortlichkeiten. Eine Chiffre für Machttechnik und eine auf Verleugnung, Projektion und Sündenbockmechanismen aufgebaute Kultur.

Das „Lund-Prinzip“ und die Dämonisierung Israels

Zurück in die Gegenwart! Am 31. Oktober 2016 eröffnete Friedenspreisträger Junge im schwedischen Lund gemeinsam mit dem Bischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Jordanien und im Heiligen Land und Papst Franziskus das Jubiläumsjahr zur Reformation. In seiner Ansprache im Goldenen Saal des Augsburger Rathauses ging Junge ausführlich auf dieses Ereignis ein und betonte, dass die gemeinsame Gedenkfeier viele Menschen, auch „kirchenferne“ angesprochen habe. Sie habe „ein Signal gesetzt“ dahingehend, dass „das Wesen von Religion und Glauben nicht spaltend, sondern verbindend“ sei. Auch benannte er sein sogenanntes „Lund-Prinzip“, das nach den Worten des Vorsitzenden der Friedenspreis-Jury, Regionalbischof Michael Grabow, ausschlaggebend für die Preisverleihung an Junge, den „Brückenbauer“ gewesen sei: „Wir wollen nicht mehr getrennt tun, was wir gemeinsam tun können.“

Bischof Younan, Junges ehemaliger Kollege als Präsident des Lutherischen Weltbundes, erhielt am 27. Juli – fast zeitgleich mit Junge also – den Friedenspreis der Niwano-Peace-Foundation in Tokio. Bei der Preisverleihung würdigte Junge als Laudator Younan für seine „kontinuierlichen Friedensbemühungen“.

Doch wie sehen diese Friedensbemühungen aus? In Younans Amtszeit fällt das von ihm am 11. Dezember 2009 unterzeichnete „Kairos-Palästina-Dokument“. Das ist ein Aufruf arabischer Christen, der für den Nahost-Konflikt einseitig den Staat Israel verantwortlich macht und seither als grundlegendes Propaganda-Instrument der weltweiten, antisemitischen BDS-Bewegung (Boycott, Divestment and Sanctions) fungiert. BDS-Aktivisten sind beispielsweise für zahlreiche Übergriffe auf Juden in Universitäten in den USA, Großbritannien und Deutschland verantwortlich. Im „Kairos-Palästina-Dokument“ wird die israelische Besatzung Palästinas als „Sünde gegen Gott“ bezeichnet. Sie sei einziger Grund für den „palästinensischen Widerstand“. Eine Formulierung, die den islamischen Terror – wie auch das menschenverachtende, gegen das eigene Volk gerichtete Regime von Hamas und Konsorten – nicht nur verleugnet, sondern sogar sakralisiert. In seiner Dankesrede zur Verleihung des Niwano-Friedenspreises verharmloste Younan „die finstersten Auslegungen des Islam“ als Widerstand gegen den zionistischen Feind. Younan war der Erste, der die Confessio Augustana ins Arabische übersetzte.

Israel, der Christusmörder – mehr Dämonisierung geht nicht

Als Laudator würdigte Martin Junge vor einigen Jahren auch Younans arabisch-lutherischen Kollegen, Bischof Mitri Raheb, für seine „Friedensbemühungen“, als der im Jahr 2011 den Deutschen Medienpreis verliehen bekam. Auch Raheb ist Unterzeichner des Kairos-Palästina-Dokumentes und er geht noch weiter als Younan. Seine Agenda ist hauptsächlich darauf ausgerichtet, das „Leiden des palästinensischen Volkes“ mit dem gekreuzigten Christus zu identifizieren und den Staat Israel mit imperialistischen Besatzern. Auf seinem Twitter-Account bezeichnete Raheb am 07. Juli 2017 anlässlich einer gemeinsamen Kundgebung gegen Israel die „christlich-muslimische Einheit“ als „Werkzeug des Widerstandes“, die den wahren „Glauben im Gebiet des Imperiums“ demonstriere. Die Identifikation des Gekreuzigten mit dem palästinensischen Volk sei laut Raheb ein Bild, dass auch Muslime verstehen könnten. Israel, der Christusmörder – mehr Dämonisierung geht nicht.

Vielleicht versteht Junge seinen Umgang mit den beiden antizionistischen Preisträger-Kollegen als pragmatisch. Die aktuellen (in Junges Amtszeit fallenden) Resolutionen des Lutherischen Weltbundes zum Nahen Osten lassen indes andere Rückschlüsse auf das Friedensverständnis der Lutheraner zu. In den beiden Dokumenten vom 22. Juli 2015 und vom Juni 2016 wird der arabisch-muslimische Terror mit keinem einzigen Wort erwähnt, wohl aber die israelische Siedlungspolitik und Besatzung erneut einseitig als einziges Friedenshindernis dargestellt. Symbolträchtig wurde die Resolution von 2016 in der Lutherstadt Wittenberg verabschiedet. Darin wird auch die hoch umstrittene, weil diskriminierende Entscheidung der Europäischen Union, Produkte aus israelischen Siedlungen zwecks Boykott-Unterstützung zu kennzeichnen, begrüßt. Das von Junge beschworene Lund-Prinzip („Nicht getrennt zu tun, was man gemeinsam tun kann.“) erhält in diesem Kontext des muslimisch-christlichen Widerstandes gegen ein imaginiertes teuflisches, zionistisches Imperium eine wenig Frieden verheißende Bedeutung.

Fazit: Der Umschlag von Aufklärung in Unmündigkeit beginnt mit gedankenloser Identitätspolitik

Womit zum Schluss die Frage gestellt werden soll, was Frieden überhaupt ist oder sein kann. Der Augsburger Reichs- und Religionsfrieden von 1555 befriedete den Konflikt zwischen Protestanten und Katholiken nicht allein durch Regelungen zur Parität der beiden Konfliktparteien, sondern (darin inbegriffen) durch den ausdrücklichen Ausschluss sämtlicher anderer, nicht zur „regio“ gehörender Religionen. Hier war also nicht ein Frieden, der sämtliche Bestandteile der Gesellschaft umfasste, sondern ein Frieden, der die Einmütigkeit der Menge auf Kosten von diskriminierten Minderheiten herstellte. Insbesondere die Geschichte der Judenverfolgung in Deutschland bis hin zum Nationalsozialismus ist auf diesem Hintergrund zu lesen. Letztlich wurde die spätestens seit der Konfessionskriege und der Kirchenspaltung verloren geglaubte Einmütigkeit der Deutschen durch ein zwölf Jahre anhaltendes, gigantisches Opferritual namens Nationalsozialismus wiederhergestellt.

Um dem Frieden auf die Spur zu kommen, ist deshalb vor allem eine grundsätzliche Unterscheidung notwendig. Zwischen einerseits dem, was zwar „Frieden“ genannt wird, aber nichts anderes bezeichnet, als die durch Illusion, Machttechniken und die projektive Verwendung von Sündenböcken hergestellte Einmütigkeit der Menge, die der Verschleierung der eigenen Gewalt und der Absicherung hegemonialer und ökonomischer Verhältnisse dient. Und andererseits dem, was auch den Namen Frieden tragen könnte, also etwas, das im Recht und in Diskursen zum Tragen kommt, also einen Frieden der Kritik und einen der Wirklichkeit verpflichteten Dissens an Stelle einer totalitaristischen Brückenbauideologie stellt.

Falls es eine brauchbare Lehre aus der Geschichte gibt, dann die, dass der Umschlag von Aufklärung in Unmündigkeit mit gedankenloser Identitätspolitik („Wir sind Friedensstadt!“) und ahistorischer Tatsachenverschleierung beginnt.

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Quellen:

Burkhardt, J./ Haberer, St. (2000): Das Friedensfest. Augsburg und die Entwicklung einer neuzeitlichen Toleranz-, Friedens- und Festkultur; Berlin 2000

Hoffmann, C.A. et al. (2005): Als Frieden möglich war – 450 Jahre Augsburger Religionsfrieden;  Regensburg 2005, 1. Aufl.

Holzheu, W. (2017): Augsburg: Zentrum des evangelischen Hexenwahns; in: Augsburger Zeiten, Ausgabe Sommer 2017; Mering 2017, S. 26-31

Kluger, M. (2016): Glaube. Hoffnung. Hass. Von Martin Luther in Augsburg (1528) über den Dreißigjährigen Krieg (1618-1648) bis zur „Sau aus Eisleben“ (1762); Augsburg 2016, 1. Aufl.

Lessing, Th. (1919): Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen; München 1983

Pohlig, M. (2017): Eine Neuzeit ohne Reformation?; in: Nonn, Ch./ Winnerling, T. (Hg.): Eine andere deutsche Geschichte 1517-2107 – Was wäre wenn…; Paderborn 2017, S. 20-36

Rau, K. (2006): Augsburger Kinderhexenprozesse 1625-1730; Wien/Köln/Weimar 2006

Roeck, B. (1989): Eine Stadt in Krieg und Frieden; Studien zur Geschichte der Reichsstadt Augsburg zwischen Kalenderstreit und Parität – Band I und II; Göttingen 1989



Ein Handbuch der unbehaglichen Fakten

Mit seinem neuen Reiseführer „Glaube. Hoffnung. Hass.“ ist dem Augsburger Autor Martin Kluger rechtzeitig zum Lutherjahr 2017 ein umfangreiches Kompendium gelungen, das die bösartigen Wurzeln historischer Denkmäler in Augsburg und der Region bezüglich des bevorstehenden Reformationsjubiläums unter die Lupe nimmt.

Von Bernhard Schiller

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Martin Luther


Wer hätte das gedacht: Das beliebte Augsburger Turamichele war ursprünglich ein feindseliges Instrument zur Verunglimpfung religiöser und politischer Gegner! Der Brauch entstand im 17. Jahrhundert als Ausdruck der Gegenreformation, um symbolisch den protestantischen Teufel abzustechen. Die „bösartigen Wurzeln“ (Kluger) dieses und anderer historischer Denkmäler in Augsburg und der Region nimmt der Autor und Verleger Martin Kluger akribisch unter die Lupe. Sein Buch „Glaube. Hoffnung. Hass.“ ist ein kritisch-illustrativer Beitrag zum bevorstehenden Reformationsjubiläum und ist jüngst im context Verlag Augsburg erschienen.

Das von der Regio Augsburg, dem Evangelisch-Lutherischen Dekanat und der Stadt Augsburg veranstaltete Programm zum Lutherjahr 2017 steht unter dem Motto: „Mutig bekennen. Friedlich streiten.“ Fast zeitgleich mit der Programmvorschau taucht nun Klugers Buch auf und ist unter diesen Vorzeichen eine ebenso pünktliche wie starke Antithese. Der Titel ist eine kaum ironische Anspielung auf einen Satz des Apostels Paulus: „Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“ Was passiert, wenn bei den Allerfrommsten der Hass am Größten ist, veranschaulicht der Autor auf inhaltsreichen 336 Seiten deutlich in Wort und Bild. Anhand einer Exegese von sehr berühmten und weniger berühmten Bau- und Kunstwerken aus den Jahrhunderten seit der Reformationszeit schildert Kluger eine erschreckend unfriedliche Geschichte der Glaubenskämpfe zwischen Katholiken und Protestanten.

Fugger war nicht nur ein Global Player, sondern auch ein schwer gebeutelter Mann des Glaubens

Gewöhnlich werden prominente Hinterlassenschaften wie der Augsburger Herkulesbrunnen oder die Fuggerei ästhetisch oder sozialromantisch rezipiert. Repräsentativ auch für den Stolz einer ehemaligen Weltstadt, ihre wirtschaftliche und kulturelle Pracht vergangener Tage. Wer hingegen mit Klugers Lektüre genauer hinsieht, wird erkennen, dass in den Gebäuden, Brunnen und Malereien des 16., 17. und 18. Jahrhunderts vor allem die inneren und äußeren, die seelischen und politischen Kämpfe der damals Herrschenden performativen Ausdruck finden.

Da wäre zum Beispiel Jakob Fugger, der Reiche. Er war nicht nur cleverer Global Player, sondern auch ein von der Angst vor Fegefeuer und Höllenpein schwer gebeutelter Mann des Glaubens. Als Bankier kontrollierte er den europaweiten Ablasshandel und damit die Kommunikationswege der Reichen und Mächtigen. Der sich ausbreitende Protestantismus und dessen Kritik am System des Ablasshandels war ihm deshalb ein Dorn im Auge. In Fuggers Stadtpalast hätte Martin Luther im Jahr 1518 gegenüber dem päpstlichen Gesandten Kardinal Cajetan seine 95 Thesen gegen den Ablasshandel widerrufen sollen, was er bekanntlich nicht tat. Im Jahr 1527 bereits überfielen lutheranische Landknechtshorden Rom, plünderten und vergewaltigten tagelang – angeführt von dem protestantischen Augsburger Stadthauptmann Schertlin zu Burtenbach, der später darüber ins Schwärmen geriet, wie sie besagten Kardinal Cajetan mit einem Strick um den Hals durch die mit Leichen übersäten Straßen der Papststadt zogen. Die evangelische Kirche St. Anna in Burtenbach bei Dinkelscherben erinnert noch heute an den grausamen Protestanten.

Der Herkules-Brunnen stellt nur vordergründig den Sieg des Menschen über die Naturgewalt dar

Als der katholische Kaiser Karl V. dann 1546 sein Heer in den sogenannten Schmalkaldischen Krieg gegen die Protestanten führte, war das Haus Fugger dessen überzeugter Finanzier. An Karl den V. erinnert darum auch der Augsburger Herkules-Brunnen. Der stellt nur vordergründig den Sieg des Menschen über die Naturgewalt des Wassers dar, wie es bis dato etwa auf der Homepage der Stadt Augsburg heißt. Das katholische Patriziat der Fugger und Welser sah in Herkules nämlich den Kaiser des Heiligen Römischen Reichs, wie er seinen protestantischen Feinden die Drachenköpfe abschlägt. Zum markanten Ausdruck dieser hegemonialen Wünsche wurde der Herkulesbrunnen direkt vor den Häusern der Welser und Fugger erbaut.

Die Architektur des Hasses ist nie verschwunden

Solche in und auf den Körpern der Menschen und den Körpern ihrer Städte ausgetragenen Glaubenskämpfe gipfelten 1618 im Dreißigjährigen Krieg. Dessen Ende war ein Frieden aus Erschöpfung und nicht aus Besonnenheit, wie Augsburger Friedensstädter heute gerne glauben. Der Westfälische Frieden sei, so Kluger, ein Frieden auf dem Papier gewesen, aber nicht „in den Hirnen und Herzen angekommen“. Diese These untermauern Kunstwerke wie die „Sau aus Eisleben“, eine 100 Jahre nach dem Westfälischen Frieden entstandene Schmähung Luthers. Sie „ziert“ bis heute als Deckenfresko den Goldenen Saal der Marianischen Kongregation in Dillingen.

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Klugers Buch leistet Aufklärung im besten Sinne des Wortes


Klugers Buch ist gleichermaßen verstörend wie erhellend: Dort, wo die manifesten Zeugnisse der Gewalt noch immer stehen (oder teuer restauriert wurden), transportieren sie ihre mehr oder weniger subtilen Botschaften durch die Jahrhunderte hindurch in Herzen und Hirne der Gegenwart. Die Architektur des Hasses ist nie verschwunden. Sie wird vielmehr als Pracht vergangener Zeiten kunstsinnig verklärt, oder – wie beim postfaktischen Turamichele – kommerziell ausgeschlachtet. Wer Klugers Handbuch der unbehaglichen Fakten liest, kommt hinter diese Einsicht nicht mehr zurück. Es leistet Aufklärung im besten Sinne des Wortes. Hierfür stand dem Autor, neben einem umfangreichen Katalog wissenschaftlicher Quellen, der Augsburger Historiker Dr. Wolfgang Wallenta beratend zur Seite. „Glaube. Hoffnung. Hass.“ ist ein luzider Begleiter für (kunst-) historische Reisen durch die Region und ein Lehrbuch, das neben dem Hauptaugenmerk Augsburg unter anderem auch an Stätten in Nördlingen, Ingolstadt, Dillingen oder Burtenbach führt.

Martin Kluger hat sich mächtig ins Zeug gelegt und unterminiert aber zugleich auf unaufgeregte Weise mit seinen schwergewichtigen Ergebnissen den ahistorischen Enthusiasmus, der in der Friedensstadt Augsburg von der Verwaltung und der politischen Kaste zelebriert wird. So heißt es in der Programmankündigung zum Lutherjahr seitens der Stadt: „Der Augsburger Religionsfrieden von 1555 war ein erster Versuch, das Zusammenleben von Protestanten und Katholiken zu ordnen. Er begründet Augsburg Selbstverständnis als Friedensstadt der gesellschaftlichen Vielfalt und des friedlichen Dialogs.“ Das ist Schönfärberei.

Hier liegt kein fröhlicher Markenbotschafter vor

Tatsächlich wurde mit dem Religionsfrieden der vor 1555 vorhandene konfessionelle Pluralismus in Augsburg beendet. Von sechs bis dahin in Augsburg ansässigen Konfessionen verschwanden vier von der Bildfläche. Der Augsburger Religionsfrieden war lediglich ein Waffenstillstand zwischen Lutheranern und Katholiken. Deren Streit um die alleinseligmachende Glaubenshoheit war damit nicht beendet und flammte 1618 mit dem Dreißigjährigen Krieg erneut auf. Kluger benennt diesen Sachverhalt mehrfach nüchtern und deutlich. Damit widerspricht er der offiziellen Erzählung. Das Kluger-Werk soll Sachbuch bzw. Reiseführer für Religionstouristen sein, wäre aber ebensogut ein wissenschaftlicher Essay. Die Entscheidung darüber will nicht richtig gelingen. In jedem Fall liegt hier kein fröhlich stimmender Markenbotschafter vor. Das ist ausgezeichnet! Ebenso vorteilhaft wirkt die methodische Indifferenz, die dem Leser und hier nun dem Rezensenten freies interpretatives Spiel erlaubt.

Das knappe Vorwort läßt kaum Rückschlüsse auf eigenes Bekenntnis und Motivation seines Verfassers zu. Kluger will sein Buch verstanden wissen, als Handreichung für „Menschen (…), die verstehen – und vor allem auch sehen – wollen, was geschieht, wenn Religion und Glaube nicht zu Humanität und Liebe, sondern zu Gewalt und Hass verführen.“

Leider bleibt auch Kluger im Topos der Gleichberechtigung der Religionen stecken

Martin Kluger

Martin Kluger


Ist das nun fundamentale Religionskritik, oder – berücksichtigt man das neoliberale Nachwort – ein Plädoyer für das freie Spiel der Kräfte einer ökonomistischen Gesellschaft ohne religiöse Einflussnahme? Das Buch erscheint im Eigenverlag des Autors, der bereits zuvor durch History-Marketing nicht nur für die Regio Augsburg GmbH, sondern auch die Fürst Fugger Privatbank und die Fuggerschen Stiftungen verantwortlich zeichnete. Darin könnte man einen Hinweis auf die Gründe für Klugers Zurückhaltung vermuten. Leider bleibt auch Kluger – zumindest in dieser Veröffentlichung – bei der Erzählung vom Augsburger Religionsfrieden im Topos der „Gleichberechtigung der Religionen“ stecken. De facto stellte der Religionsfrieden ausschließlich die Gleichberechtigung von Protestanten und Katholiken dar. Für jüdische Reichsbürger und andere religiöse Minderheiten wie die Täufer bedeutete die Regelung „cuius regio, eius religio“ eine große, existenzielle Gefahr. Dass die Regelung nicht konsequent umgesetzt wurde, war vor allem der Gegenreformation und der judenfreundlichen Politik des Kaisers Karl V. zu verdanken. Einem Katholiken also.

Zurück zur Gegenwart: Für das „Selbstverständnis der Friedensstadt Augsburg sind historisch abgesicherte Tatsachen weniger relevant als für die städtische Corporate Identity verwendbare Superlative. Viermal, so heißt es bei Kluger im Klappentext, sei Augsburg die bedeutendste Stadt für die Geschichte der Reformation in Deutschland gewesen. Das mag schon stimmen. Doch zeigt Klugers Arbeit in „Glaube. Hoffnung. Hass.“ auf, dass das, was als bedeutungsvoll gilt, von den jeweiligen Herrschaftsverhältnissen abhängt. Diese haben sich in den vergangenen 500 Jahren bekanntermaßen gehörig verschoben. Was also soll das „Selbstverständnis der Friedensstadt Augsburg“ sein, außer Markenmanagement und Augsburger Autostimulation? Was wäre aber, würde die alte Leier von Protestanten und Katholiken aus der Vergangenheit überwunden und über sich selbst hinaus weisen? Die andauernde Reduktion des Glaubensstreits auf das Verhältnis der dominanten Mehrheitskonfessionen wird weder der historischen noch der gegenwärtigen Realität gerecht.

Hass führt zu geistiger und materieller Armut

Bei der Lektüre von „Glaube. Hoffnung. Hass.“ jedenfalls nagt durchgehend die Frage, was wirklich ursächlich war für das besessene Verfolgen, Foltern und Morden. Tatsächlich „Religion und Glaube“? Oder doch eher profane Herrschaftsinteressen? Die Antwort will Lektorin Candida Sisto im Nachwort erleichtern: „Hass führt zu geistiger und materieller Armut.“ Ob Menschen unterhalb der globalen Armutsgrenzen diesem Satz zustimmen können? Wer keinen Zugang hat zu Bildung, sauberem Trinkwasser und anderen lebensnotwendigen Ressourcen, wird sich kaum sagen lassen, der Grund dafür sei eigener Hass, während nebenan Monopolisten das Land ausplündern.

Diese Fundamentalkritik an Ausbeutungsprozessen wäre eine mögliche Schlussfolgerung aus der Beschäftigung mit der Fuggerei. Sie dürfte allerdings schwierig sein in einer Stadt, deren Dachmarke die „Vorstände der Renaissance“ sind. Eine andere, ebenso naheliegende, wie triftige Analyse, beträfe die Gegenseite. Reformationsjubilar Luther nämlich war ein empörter Ankläger des Wuchers und alles Merkantilen. Luther fand in den geschäftstüchtigen, skrupellosen Fuggern prominente Zielscheiben für seine Angriffe. Diese Feindschaft zwischen dem geldgierigen Globalisierer Fugger und seinem nationalistisch-rückwärtsgewandten Gegenspieler Luther ist von nicht zu übersehender Aktualität. Insbesondere an der Person Luther wird deutlich: Sein lebenslanger Hass auf die Juden (er bezeichnete sie als „durchböstes, durchgiftetes, durchteufeltes Ding“ sowie als „Pestilenz“ und rief zu Pogromen auf) darf nachgerade nicht als zeitgeistige Ausfallserscheinung kontextualisiert werden, wie es stellvertretend für sämtliche Lutheradepten Annette Weidhas, Leiterin der Evangelischen Verlagsanstalt, jüngst in der Onlineausgabe der „Welt“ versuchte.

Aufgedeckt wird die dämonische Bedeutung der Architektur

Vielmehr manifestiert sich im Reformator zunehmend das Charakteristikum einer realitätsverdrossenen Persönlichkeit, die gegen alle jene giftet, welche in der lutherischen Reflexionsblase als Handlanger des Teufels auftreten: Juden, Hexen und – Kaufleute. Viel unterscheidet den frustrierten Mönch also nicht von heutigen Hasspredigern und Populisten. Auch deren (oft als gerecht empfundener) Zorn birgt bereits neue Gewalttat in sich. Dass Luther in alledem auch nach seiner Exkommunikation zutiefst katholisch war, sollte häufiger betont werden. Solches mutig zu bekennen, wäre den Lutherfeiernden zu wünschen. Öffentliche Stimmen, welche die Kontinuität von Luthers Hasstiraden, über den nationalistischen deutschen Protestantismus zu den Vernichtungslagern der Nationalsozialisten sehen (wollen), werden stärker, je näher das Jubiläum nun rückt. Die schier numerische Gewalt der Neuerscheinungen zum Lutherjahr sollte diese Wahrheit nicht ersticken.

„Glaube. Hoffnung. Hass.“ bietet sich aufgrund der Realienkunde für genannte Analysen geradezu an. Candida Sisto spricht sie im Nachwort fragend an und gibt letztlich doch noch den Sinn der Veröffentlichung bekannt: „Gegen das Vergessen und Verdrängen ankämpfen. (…) Glaube und Hoffnung sollen zu Liebe, nicht zu Hass führen.“ Vor allem gegen das Verdrängen wirkt das Buch. Es deckt die dämonische Bedeutung der Architektur auf, von welchen die heute lebenden Menschen in Augsburg und der Region – ganz gleich ob Einheimische oder nicht – alltäglich eindrucksvoll umgeben sind, in der Wahrnehmung geblendet vom Blattgold herkömmlicher Touristeninformationen. Es braucht unangenehme Literatur. Diese umfangreiche und tiefgründige Recherche sei deshalb als Gewinn empfohlen.

Martin Kluger. Glaube. Hoffnung. Hass. Von Martin Luther in Augsburg (1518) über den Dreißigjährigen Krieg (1618-1648) bis zur „Sau von Eiseleben“ (1762)

Taschenbuch, 336 Seiten, 241 Fotografien, zwei Karten, 18,90 Euro