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Dienstag, 23.07.2024 - Jahrgang 16 - www.daz-augsburg.de

Geschichte und Geschichten

Gysi und Schütt in der Stadthalle Gersthofen: Reflexionen zur Asche der Geschichte

Der Linke Bundestagsabgeordnete Gregor Gysi mag in vielen seiner Positionen und Erklärungen nicht richtig liegen. Doch man kann ihm nicht vorwerfen, dass er seine Haltung nicht klug erklären kann. Gysi ist der letzte Salonkommunist im deutschsprachigen Raum. Damit lässt sich Geld verdienen.

Von Siegfried Zagler

Gysi und Schütt beim Plaudern in Gersthofen (v.l.) Foto © DAZ

Dr. Gregor Gysi gehört zu den bekanntesten Politikern in Europa. Er ist aktuell der einzige Bundestagsabgeordnete, der zur Wendezeit in der DDR-Volkskammer Abgeordneter war und für den Erhalt der DDR kämpfte. Seit der Wiedervereinigung gehört er beinahe ununterbrochen dem Bundestag an und in diesem langen Zeitraum war er stets der rhetorisch Begabteste unter den Parlamentariern. Abgesehen von der Periode, als er Klaus Wowereit im rot-roten Berliner Senat als Wirtschaftssenator zur Hand ging, aber bald daran scheitern sollte “Regierung zu sein”. Gysi galt und gilt zurecht als brillanter Oppositionsredner.

In der Opposition sei er besser aufgehoben, als in der Regierung, wie er heute selbst sagt, da man als Opposition zwar kaum der Regierung das Falsche ausreden könne, aber man könne am Zeitgeist mitwirken. “Und am Zeitgeist kommt keine Regierung vorbei”, so Gysi in der prall gefüllten Gersthofener Stadthalle am gestrigen Freitagabend, als er zusammen mit dem vermeintlichen Ghostwriter seiner Autobiografie (“Ein Leben ist zu wenig”) eben diese promotete. Gysis Autobiografie erschien bereits 2017. Kurz darauf ging er mit Hans-Dieter Schütt auf Werbetour, die sich langsam zu einem eigenen Format entwickelte: eine Art Kaffeehausplauderei, die das Publikum in Scharen anlockt.

Hans-Dieter Schütt spielte in den letzten Jahren der DDR-Diktatur als Chefredakteur der FDJ-Zeitung “Junge Welt” eine wichtige Klaviatur in der verbrecherischen Demagogie des ostdeutschen Regimes. Schütt schrieb gegen den demokratischen Aufbruch an und drohte unverblümt mit einer “Befriedung” nach chinesischem Muster. Später legte der Vielschreiber eine viel beachtete Selbstreflexion vor: „Glücklich beschädigt“ , so der Titel. Ein Buch voller Demut und Geständnissen, indem Schütt von sich erzählt, als würde er sich selbst nicht mehr wieder erkennen. Mit seinen zahlreichen Interviewbüchern, Essay-Sammlungen und Erzählungen hat sich Schütt einen Namen als Nachlassverwalter eines untergegangenen Staates gemacht.

Kaffeehausplauderer Gysi und Schütt (v.l.) Foto © DAZ

Schütt und Gysi blicken in ihren Plauderstunden coram publico auf die Asche ihrer Vergangenheit. Mit Humor und stets nah am Populismus segelnd, verklären sie mit Rückblicken und Bewertungen dem Publikum ihre Welt. “Was der Kapitalismus kann und nicht kann” ist eine immer wiederkehrende Schleife in Gysis Reflexionen. Er könne eine florierende Wirtschaft garantieren, die Kunst und Forschung vorantreiben. Was Kapitalismus seiner Ansicht nach aber nicht kann, ist: Kriege verhindern, soziale Gerechtigkeit sichern, für ökologische Nachhaltigkeit sorgen oder für die Gleichheit der Geschlechter. Hier versagen die Mechanismen, die auf Verkauf und Profit programmiert seien. “Ein Krankenhaus soll keine Gewinne machen, sondern die gesundheitliche Versorgung sichern”, sagt Gysi plötzlich im Tonfall einer Wahlkampfrede. Das Publikum applaudiert frenetisch.

Schütt und Gysi gehören zu den wenigen Ostdeutschen, die nach der Wiedervereinigung in der Bundesrepublik in ihren angestammten Berufen Karriere machen konnten, ohne sich verbiegen zu müssen. Ihre eigene Biografie, auch wenn viel Verklärung dabei ist, lässt sich in Zeitgeschichte gießen. Da lässt es sich mit amüsanten Anekdoten und Altherren-Humor gut Geschichten erzählen. Dass das beim Publikum gut ankommt, liegt an Gregor Gysi, Welterklärer, Geschichtenerzähler und Entertainer. Einer, der vieles kann – nur eins nicht, nämlich langweilig zu sein. Das Publikum in der Stadthalle Gersthofen dankte ihm mit langem Applaus.