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Dienstag, 23.07.2024 - Jahrgang 16 - www.daz-augsburg.de

Gescheiterter Rollenwechsel

Filmfest: In „Abel“ aus Mexico will ein Neunjähriger den Vater ersetzen

Von Frank Heindl

Ein Neunjähriger, der den erwachsenen Macho spielt – Diego Lunas „Abel“

Kein Wort kommt über Abels Lippen. Seit zwei Jahren nicht – seit der Vater die Familie verlassen hat. Trotzdem holt die Mutter ihn nun heim aus der Kinderklinik, denn ins ferne Mexico City will sie ihn nicht verlegen lassen. Und zuhause findet Abel tatsächlich eine Lösung – vorläufig.

Dort allerdings ist die Situation ein wenig desolat: Das Haus ist eine halbe Ruine; die Stromspannung schwankt; man schaut mit zwei Apparaten fern: der eine liefert den Ton, der andere das Bild; die ältere Schwester befolgt selten, was die Mutter anordnet; und der kleine Bruder hängt orientierungslos dazwischen. Abel ahnt: In dieser Familie fehlt der Vater. Und Abel glaubt, diese Rolle ausfüllen zu können. Schon wenige Tage nach seiner Rückkehr vollzieht sich eine Wandlung: Abel repariert das Klo, deckt nachts sorgsam die Geschwister zu, spricht erste Sätze – und haut mit der Faust auf den Tisch, als die große Schwester mal wieder Cola statt Milch trinken will.

Ein Neunjähriger, der den erwachsenen Macho spielt – ein kurioses Bild, das in Diego Lunas „Abel“ für viel Gelächter sorgt. Abel schenkt der Mutter einen Ring, schläft im Ehebett, ahnt sogar, was Männer dort zu tun haben, weiß, dass die Zigarette danach irgendwie dazugehört. Und verkündet folgerichtig beim nächsten Frühstück, Mama und Papa hätten dem Storch einen Brief geschrieben, bald werde es ein weiteres Geschwisterchen geben. In der verzweifelten Hoffnung, seine Genesung voranzutreiben, spielen alle das Spiel mit – doch für Abel ist es kein Spiel. Noch komplizierter wird es, als der richtige Vater zurückkommt. Er habe in den USA gearbeitet, behauptet er, bringt Geschenke mit, will wieder einziehen – und gesteht anderen Männern, dass er in Wahrheit in einem anderen Landesteil eine weitere Familie hat. Abel aber erkennt ihn nicht – weil er seine Rolle als Vater nicht mehr anerkennen kann.

Tieftraurige Filme über das Versagen der Väter

„Abel“, eine mexikanisch-nordamerikanische Koproduktion, wirft einen drastischen, bitteren Blick auf die Rolle der Väter in Südamerika und den Ländern der Dritten Welt. Sicherlich ist es so, dass dort Männer oftmals gezwungen sind, ihre Familie zu verlassen um anderswo Arbeit zu finden. Doch das ist nur der eine Teil der Wahrheit. Der andere ist, dass sie oftmals gehen, weil sie keine Verantwortung tragen wollen, dass sie kein Geld schicken und niemals zurückkehren, weil sie anderswo andere Familien gründen. Dann verzweifeln Mütter an der Mehrfachbelastung, müssen Halbwüchsige die Ernährerrolle übernehmen, zerbrechen Familien in ihre Einzelteile.

Bei aller Situationskomik ist „Abel“ ein tieftrauriger Film, der sich nur vordergründig um die psychische Störung eines Kindes dreht. Denn Abel ist der selbst auferlegten Rolle natürlich nicht gewachsen, bürdet sich Aufgaben auf, die er nicht bewältigen kann. Als der Nichtschwimmer versucht, dem kleinen Bruder das Schwimmen beizubringen, ist das beinahe beider Tod – und ein treffliches Bild für das Fehlen des Vaters: Wie schwimmen, wie leben lernen, wenn keiner da ist, der es einem zeigt?

Lunas Film lässt das Ende offen. Vater und Mutter tauchen als Lebensretter auf – aber wird er bleiben? Schließlich hat er anderswo weitere Kinder gezeugt – eine der beiden Familien wird auf jeden Fall vaterlos bleiben. Und Abel muss zurück ins Krankenhaus – im richtigen Leben kann ihm keiner helfen.

Länderübergreifende Gemeinsamkeiten

Wo ein Film aufhört, beginnt bei den Tagen des Unabhängigen Films immer bereits der nächste. Das ist manchmal anstrengend, aber auch immer sehr reizvoll. Denn es erlaubt Vergleiche über die Grenzen von Genres, Ländern und Erdteilen hinweg. Mahmat-Saleh Haroun, der Regisseur von „Un homme qui crie“ hatte uns erst am Abend zuvor ausführlich auseinandergesetzt, dass es auch in seinem Film über einen Vater-Sohn-Konflikt mitten im Bürgerkrieg des Tschad um die Verantwortung der Väter gehe. Afrika, so seine Definition, sei geradezu „der Kontinent des Ungesagten“, ein Land, wo die Väter mit ihren Söhnen über das Wesentliche nicht sprechen und so die Tradition von Sprachlosigkeit und Gewalt immer wieder der nächsten Generation aufbürden. Leider konnte Diego Luna, der Regisseur von „Abel“, nicht nach Augsburg kommen. Man hätte die beiden gerne einander vorgestellt und erfahren, was sie sich über das Versagen der Väter sagen gehabt hätten.

Mehr zu „un homme qui crie“ morgen in der DAZ.