Europäische Schulen im Corona-Fahrwasser
„Das Gewaltigste unter der Sonne ist das Vorübergehende.“ Die Auslegung dieses Zitats von Botho Strauß erfährt durch die anhaltende Corona-Krise eine neue Variante, die selbst vor Ländergrenzen und Schultüren nicht Halt macht. Europaweit macht sie Länderregierungen und Schulleitungen gewaltig zu schaffen und stellt sie vor enorme Herausforderungen.
Von Udo Legner
Das auf drei Jahre angelegte Erasmus Projekt des städtischen Maria-Theresia-Gymnasiums zu den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen gibt einen fundierten Einblick in die Schul- und Unterrichtssituation bei unseren europäischen Nachbarn in Zeiten der Corona-Pandemie, der über eine Momentaufnahme hinausgeht.
Als sich die Teams der französischen (Lycée privé François d’Estaing in Rodez), englischen (Fowey River Academy, Cornwall), italienischen (Liceo Moajarana Laterza Putignano, Apulien) und spanischen (I.E.S. Aljada, Murcia) Partnerschulen zur Auftaktveranstaltung im November 2019 in Augsburg trafen, konnte niemand ahnen, welche Schwierigkeiten die Realisierung dieses von der EU geförderten Projekts bereiten würde. Unterbringung in Gastfamilien, Kooperationen mit außerschulischen Partnern, Schulbesuche, Exkursionen oder gar der Schulterschluss mit der Friday for Future Bewegung bei einer Demo – im Rückblick klingt dies wie große Oper, an die nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie unmittelbar nach dem zweiten Projekt-Treffen in Putignano im Februar 2020 nur noch in nostalgischer Erinnerung zu schwelgen war.
Like A Bridge Over Troubled Water
Anstatt der geplanten Begegnungen – einer Fahrt zum Sitz der Europäischen Kommission nach Brüssel sowie eines Team-Treffens in Cornwall – zwang der ab Mitte März 2020 verhängte Lockdown zu einer Verlagerung sämtlicher Aktivitäten in den virtuellen Raum. Mit Zoom Konferenzen (u. a. beim Augsburger Begabungstag – die DAZ berichtete), digitalen Workshops (wie mit dem Lyrik Kabinett München) und weiteren Aktivitäten wurde und wird versucht, die eineinhalbjährige Corona-Karenzzeit zu überbrücken und das Thema Nachhaltigkeit so wie es der Projekttitel „A Vision Shared – Promoting the UN Development Goals in and beyond Schools“ suggeriert, in den europäischen Partnerschulen und Kommunen zu verankern. Dass dies wohl erst im folgenden Schuljahr realisiert werden kann, verdeutlicht die folgende Aufstellung, die auch Aufschluss darüber gibt, welche Herausforderungen die Schulen in Italien, England, Spanien und Frankreich zu bewältigen haben.
Schwieriger Spagat in Apulien
Die italienische Partnerschule in Putignano hat nicht nur die Probleme zu meistern, die der Wechselunterricht (Italiens Regierung beschränkte die Teilnahme am Präsenzunterricht auf maximal 50 Prozent der Schülerschaft) mit sich bringt, sondern muss zudem mit den Vorgaben zurecht kommen, die für die Region Apulien gelten. Angesichts der hohen Infektionszahlen und der Überlastung der Krankenhäuser wurde den Familien der Schulbesuch freigestellt. Die Lehrkräfte sind angehalten, den Präsenzunterricht via Live-Stream aus den Klassenzimmer zu übertragen, was oftmals an digitale Kapazitätsgrenzen stößt. Problematisch ist zudem die Abnahme von Prüfungen, die gleichzeitig in der Schule und via Distanzunterricht abzulegen sind, da diese die Frage der Chancengerechtigkeit aufwerfen.
Britische Partnerschule – trotz Brexit Europameister in Digitalisierung
An der Fowey River Academy in Cornwall unterrichten seit 5. Januar zehn Lehrkräfte (im Rotationssystem) ca. 10 Prozent der Schülerschaft (entweder aus prekären Verhältnissen oder aus Familien, in denen die Eltern systemrelevanten Berufen nachgehen) unter strengen Auflagen – u. a. zwei verpflichtende COVID-Tests pro Woche. Für all die anderen gibt es noch bis zum 8. März Distanzunterricht, der mit der Firefly Platform problemlos funktioniert, zumal alle Schüler und Schülerinnen und sämtliche Lehrkräfte mit neuen McBooks ausgestattet wurden, die von den fest angestellten IT-Technikern der Schule eingerichtet wurden.
Spanische Partnerschule: Wechselunterricht dank SIM-Karten
Für Schüler- und Lehrerschaft war das Umschalten auf Wechselunterricht völliges Neuland, das insbesondere durch die fehlende Hardware erschwert wurde. Dank der in Murcia an allen staatlichen Schulen installierten Internetanschlüssen und einer leistungsstarken Internet-Plattform lief der Wechselunterricht (50 Prozent der gesamten Schülerschaft sind alternierend im Präsenz- bzw. Distanzunterricht) weitgehend störungsfrei, da Schüler und Schülerinnen bei Bedarf mit SIM-Karten für ihre Handys versorgt wurden.
Französische Partnerschule: Plädoyer für Präsenzunterricht
In Rodez wurde die Entscheidung der Regierung für landesweiten Präsenzunterricht begrüßt. Trotz hoher Infektionszahlen ist die gesamte Schülerschaft einschließlich der fast 200 Internatsschüler seit September wieder zurück in der Schule und der für das soziale Lernen so wichtige Kontakt zu Mitschülern und Lehrern blieb erhalten. In der Phase des ersten Lockdowns erwies sich die Durchführung des Distanzunterrichts als äußerst problematisch, da es in dem eher ländlichen Einzugsgebiet der Schule oft an leistungsstarkem Internet und den benötigten Geräten fehlte. Für in Quarantäne befindliche Schüler kann der Unterricht problemlos aus den Klassenzimmern gestreamt werden, wodurch verhindert wird, dass sie zu weit zurückfallen.
Corona-Krise deckt Digitalisierungsdefizite der deutschen Schulen auf
Dass deutsche Schulen in Sachen Digitalisierung im weltweiten Vergleich hinterherhinken, ist spätestens seit der OECD zur Pisastudie 2018 publik und wird auch durch die Kontrastierung mit den o. g. Schulen deutlich. Zugang zu digitalen Lernplattformen, digitale Weiterbildung der Lehrerschaft, Schulen mit WLAN – in all diesen Bereichen belegt Deutschland hinter(st)e Tabellenplätze. Ohne den Ausbruch der Corona-Pandemie hätte von dieser Misere wohl auch weiterhin kaum jemand Notiz genommen. Doch durch den erfolgten Lockdown und der damit einhergehenden Verpflichtung zum Distanz- und Wechselunterricht wurde der eklatante Nachholbedarf in diesem Bereich schonungslos aufgedeckt.
Global denken, lokal handeln
Das Augsburger Bildungsbündnis ist derzeit dabei, einen Forderungskatalog für eine zeitgemäße und zukunftsfähige Lernkultur aufzustellen, der sich nicht nur auf den Bereich Digitalisierung beschränkt, sondern auch die Themen Bildungsgerechtigkeit, selbständiges Lernen, kreative Unterrichtsformen und Kompetenzentwicklung mit einbezieht.