FCA: Die Hölle sind immer die anderen
Fußball ist einfach: Das Runde muss ins Eckige. Der Sieger muss ein Tor mehr schießen als der Verlierer. Die Regeln sind halbwegs überschaubar. Nur das Spielfeld ist in der Höhe unbegrenzt, womit wir bei der einzigen Sache sind, die spannender als Fußball ist: das Reden über Fußball.
Von Siegfried Zagler
„Das Sein bestimmt das Bewusstsein.“ Diese von Jean-Paul Sartre in die Welt gesetzte Formel fasst das Vorwort der „Kritik der politischen Ökonomie“ von Karl Marx zusammen. Bei Marx ist das noch einfach: Nicht der Prozess der Selbsterkenntnis führt zu einer bestimmten Geisteshaltung, sondern die „ soziale Lebenswirklichkeit“ eines Menschen bestimmt dessen Selbsterkenntnis, die wiederum zu einem bestimmten Bewusstsein führt. Sartre hat die verhängnisvolle Idee von Marx, dass man die Philosophie vom Kopf auf die Beine stellen müsse, zurückgeschraubt und mit seiner phänomenologischen Ontologie („Das Sein und das Nichts“) ein schwer verständliches und opulentes Fortsetzungswerk geschaffen, das zu den großen Würfen der menschlichen Anstrengung des Sich-selbst-verstehen-Wollens zählt. Sartre lässt es im Gegensatz zu Marx und Heidegger immerhin zu, dass der Mensch (Gesellschaft hin Gesellschaft her) sich selbst verfassen kann, auch wenn das „An sich sein“ der gesellschaftlichen Zuordnungen dabei große Hürden aufbaut: „Die Hölle sind immer die anderen.“ In diesem Zusammenhang lässt sich das berühmte Sartre-Zitat tiefer verstehen.
II
Keine Angst, es handelt sich hier nicht um den Beginn einer Kolumne, also nicht um eine halbseidene philosophisch angehauchte Ironie-Spritze, mit der man ohnehin nur eine Distanz zum Augsburger Bundesligageschehen herstellten würde. Das wäre nicht zielführend. Diese Distanz gibt es nämlich bereits, wenn auch ein wenig ungewollt. In Augsburg fehlt nämlich eine ernst zu nehmende Boulevardzeitung, die mit dem ganzen Geheul des Triumphs und der Tragödie für die dringend notwendige Bedeutungshöhe in der Berichterstattung sorgen würde. Während bei den Kollegen der sopress Kompetenzmangel und eine damit verbundene Seichtheit vorherrscht, beschleicht jedermann bei der biederen Berichterstattung der Augsburger Allgemeinen das Gefühl, dass die Journalisten des großen Platzhirschen aus der gemäßigten Perspektive eines Trainerscheinanwärters auf das Spielfeld blicken. Es mag sein, dass man mit diesen Defiziten an medialer Überhöhung im Positiven wie im Negativen als Trainer und Spieler ruhiger arbeiten kann, es mag sein, dass das fehlende Wolfsgeheul der Medien in Wolfsburg, Leverkusen, Paderborn und Augsburg weiche Standortfaktoren für sensible Fußballer-Seelen bedeuten, doch dann darf sich nicht beschweren, wenn man (wie in Augsburg) die Bude nur dann voll bekommt, wenn Dortmund, Schalke oder die Bayern zu Gast sind. Also arbeiten wir an der Erhöhung der Bedeutung, die sich nicht nur an Tabellen ablesen lässt. Lassen wir also den ironischen Unterton im Unterholz und verlassen wir auch die Spur der Demut und Dankbarkeit, die uns so gut zu Gesicht stand, da wir in Augsburg ohne das finanzielle Engagement von Walther Seinsch noch immer in der Rosenau gegen den TSV 1860 München kicken würden. Gehen wir also einfach davon aus, was heute zu bewerten ist.
III
Untersuchen wir also, was uns alle ängstigt und antreibt: Was heißt „unten“, was heißt „oben“ – und was bedeutet es, wenn man unten oder oben ist? Der FCA steht nach 20 Spieltagen in Kontakt mit der Champions League und verliert mit Pauken und Trompeten am 21. Spieltag bei einem Klub, der aus der Kälte der Abstiegszone kommt. Wie ist das zu verstehen? Ist mit dem Allgemeinplatz, dass in der Bundesliga jeder jeden schlagen kann, alles gesagt? Ist die Vorstellung von „unten und oben“ nicht längst eine antiquierte bürgerliche Kontostand-Bewertung, die sich in der Bundesliga wie im Lebensgefühl der bundesdeutschen Gesellschaft stark relativiert hat? Ist es nicht so, dass gerade der FCA dafür gesorgt hat, dass das “Unten” und das “Oben” nicht einfach vom Blickwinkel des Betrachters abhängigig ist, nicht mehr einfach über Geldtabellen zu definieren ist, sondern sich in der Tat über ein kunstvolles Prinzip der Wertschöpfung erklärt?
IV
Am Samstag schlug Viktor Skripnik Markus Weinzierl. Unten schlug oben. Das hat nichts mit Zufall zu tun, sondern mit Fügung. Jedes Spiel folgt einer eigenen Dramaturgie, die manchmal vom Zufall, manchmal von Fügung bestimmt ist. Je größer der Anteil der Trainerleistung, desto stärker der Anteil der Fügung. Die Bremer Spielauffassung wurde nicht vom Sein bestimmt, sondern vom Bewusstsein. Wurde von einem selbst gestalteten und mächtigen Plan bestimmt, der über eine Stunde funktionierte und als dann der FCA langsam ins Spiel fand, kam plötzlich das „Sein“ ins Weser-Stadion zurück. Als gäbe es einen unauslöschbaren Geist im Unterbewusstsein der Underdogs. Bremens Mannschaft schien plötzlich den Fluch und die Last des „Unten-Seins“ zu spüren, während von Minute zu Minute den zu Verlierer gemachten und „ an sich“ abgestempelten Augsburgern stärker bewusst wurde, wer sie sind, besser: Wer sie sein können. Doch selbst unter den Augsburger Anhängern gab es einige Kenner der Existenzbetrachtung, also Philosophen, die es als dramatisch und somit als unerklärbar und nicht hinnehmbar befunden hätten, wäre mit einem 3:3 wieder einmal die Philosophie vom Kopf auf die Beine gestellt worden.
V
Von Petar Radenkovic stammt das Axiom, dass es keine unhaltbaren Bälle gibt. Der große Sophistiker Radi Radenkovic wollte damit zum Ausdruck bringen, dass man als Torhüter mit Stellungs- und Strafraumspiel, also mittels Antizipation das Unhaltbare des Ball-Fluges verhindern oder entschärfen könne. Erst mit Manuel Neuer sollte das theoretische Radi-Axiom eine menschliche Entsprechung finden. Die Gegenwelt dieser Entsprechung ist allerdings noch menschlicher und kommt aus Österreich. Wenn man Alexander Manningers Strafraumbeherrschung und sein Stellungsspiel bei Flanken mit einem Schuss Zynismus begleiten möchte, dann muss man die Frage in den Raum stellen, ob es für Augsburgs Torhüter auch haltbare Bälle gibt. In der 15. Minute wurde Manningers Manko, als er beim Herauslaufen einen Bremer Spieler von den Beinen holte, nachdem der Ball längst geklärt war, dergestalt brutal sichtbar, dass der Schiedsrichter den fälligen Strafstoß zunächst nicht, aber acht Minuten später gab – in einer Situation, die wesentlich weniger einen Strafstoß verlangte als Manningers Amoklauf. Will man dem sympathischen Alexander Manninger ein wenig näher treten, könnte man zur Auffassung kommen, dass es für ihn am Samstagnachmittag nur haltbare Bälle gab.
VI
Reden über Fußball ist obsolet, wenn es in einer Mannschaft einen Spieler gibt, der unter dem Niveau der Liga spielt. Am Samstag gab es beim FCA davon mindestens zwei. Mit Dong Won Ji stand ein Spieler auf dem Platz, der nur dann sichtbar wurde, wenn er einem unerreichbaren Ball (sehr dynamisch) hinterher lief. Der Winter-Neuzugang des FCA absolvierte am Samstag seinen vierten Einsatz im vierten Spiel der Rückrunde und das Fazit dieser 360 Minuten ist trostlos: Er ist kein Mittelstürmer, kein Mann der sich weder im gegnerischen noch im eigenen Strafraum durchsetzt, und er ist mit der Rolle, die er in der Augsburger Mannschaft spielen soll, vollkommen überfordert. Ein schwacher Torhüter und ein Mann weniger auf dem Platz: Man muss nicht lange darüber nachdenken, warum der FCA in Bremen so schlecht aussah. Marwin Hitz wird wohl gegen Leverkusen wieder im Kasten stehen. Ji ist wohl der erste Sündenfall des Erfolgsduos Weinzierl/Reuter. Apropos Weinzierl: Auch ihm kann man Fehler vorhalten. Erstens stimmte die Abstimmung Baba/Werner auf der linken Seite nicht, und auch Altintop stellte die Räume auf der linken FCA-Seite nicht zu. Fritz, Selke und Gebre Selassie marschierten mit einfachsten Mitteln auf dieser Seite Richtung FCA-Tor. Nächster Punkt: Das 4-1-3-2 der Bremer mit fünf sehr hoch stehenden Spielern hätte man mit langen Bällen bearbeiten müssen. Mit langen Bällen über die Flügel, sollte man hinzufügen, weil mit Ji in der Mitte ein unsichtbarer Geist stand.
VII
Die Hölle sind immer die anderen, weil sie die Grenzen der freien Entfaltung bilden. Werder Bremen war handlungsschneller, laufstärker, robuster und einfallsreicher als der FCA. Bremen hatte mit dem begeisterungsfähigen Publikum einen 12. Mann und somit zwei Mann mehr auf dem Platz. Am kommenden Samstag kommt mit Leverkusen eine Mannschaft nach Augsburg, die zu den drei bis vier Spitzenmannschaften der Liga gehört. Leverkusen hat bisher stets gegen den FCA gewonnen. Sie sind Elite. Für sie gilt der Satz: „Die Hölle sind immer nur wir selbst.”