Die Botschaft des Marathons
Sport ist Mord im s’ensemble-Theater
Von Frank Heindl
Zu Beginn scheint das Ganze eine einzige Slapsticknummer zu werden. Was Jörg Schur und Birgit Linner als Langstreckenläufer auf der Bühne des s’ensemble-Theaters anstellen, ist am Anfang witzig, zwischendurch bewundernswert, am Ende geradezu grandios: Zunächst grinsend und grimassierend, gegen Schluss hadernd und hinkend kämpfen sie sich mit unglaublicher Energie durch Sebastian Seidels “Marathon”.
Das 2002 uraufgeführte und damals mit dem Augsburger Kunstförderpreis ausgezeichnete Stück kam, erneut unter der Regie des Autors, zum zweiten Mal auf die s’ensemble-Bühne. Und die Hitze des sommerlichen Abends machte es dem Publikum leicht, mit den beiden Protagonisten zu leiden – man schwitzte gewissermaßen gemeinsam, wenn auch aus verschiedenen Gründen. Die Marathonisten beäugen sich misstrauisch vor dem Start. Der eine, Jörg Schur, ist heftig auf Leistung und Sieg bedacht, der andere, Birgit Linner, geht eher als Mitläufer an den Start, an Sport, Spaß und realistischer Zieleinschätzung orientiert. Verschätzt haben sich beide. Früh ahnen wir, bald sind wir sicher: Hochleistungssport dient hier als Metapher, gemeint ist nicht der regulierend-meditative Lauf ins Grüne, sondern die Hast des Lebens, der Stress des Alltags, der Ehrgeiz des modernen Menschen, das Leben als Hamsterrad – hoch hinaus, aber letztendlich doch nur im Höchsttempo immer im Kreis herum.
Den Stress mit diesem Bild haben zunächst mal die Schauspieler: Sie hetzen sich nicht nur metaphorisch ab, sondern schwitzen höchst real, jagen hintereinander her, vor, zurück und im Kreis. Zugegeben: Wer beim Dauerlauf soviel reden wollte wie diese beiden, der würde möglicherweise sein Leben riskieren, siegen würde er auf gar keinen Fall. Doch diskutiert werden muss in diesem ewigen Lauf, denn nach dreißig Jahren rennen die beiden immer noch im Kreis – unten rum noch mit Sporthosen gewandet, oben aber mittlerweile als Krawattenträger der Hochleistungskarriere verschrieben. Doch nach und nach müssen sie sich eingestehen, dass sie über das Ziel nicht wirklich im Bilde sind – im Grunde sind sie sich nicht mal über die Richtung sicher. Und als der Weg sich gabelt, ist eine Entscheidung gefordert: links rum, rechts rum oder weglos mittendurch? Alles wie im richtigen Leben, auch der Alterungsprozess: Aus den abgefeimt grinsenden Karikaturen vor dem Start sind abgehetzt verzweifelte Figuren geworden, die schlimmer noch als auf dem sprichwörtlichen Zahnfleisch daherkommen. Hechelnd und stöhnend robben sie auf Knien weiter, wohl wissend, dass dieser Marathon kein Ende haben wird, solange sie ihm nicht selbst eines setzen.
Aufgelockert hat Seidel den strapaziösen Dauer-Lauf mit kleinen Absurdszenen aus dem Leben der Karrieremenschen: Da werden dann aberwitzig-unsinnige Luftballon-Aufblaswettbewerbe ausgetragen, intensiv und hochkomödiantisch von der typischen, aberwitzig-unsinnigen Gestik und Mimik Otto Normalangebers begleitet. Gemeint sind wir alle. Gemeint ist das Leben, Gemeint ist die Leistungsgesellschaft. Zwischendurch kommt manchmal das Gefühl auf, dass das ein bisschen zu wenig sein könnte als Botschaft, dass da ein bisschen zuviel insistiert, zu oft wiederholt wird. Aber bevor Langeweile aufkommen könnte, reißen Schur/Linner mit staunenswerten Präsenz und abgründiger Possenreißerei alles wieder raus – und schon nach einer gefühlten Stunde sind die 80 Minuten des Stückes um.
Der erste Marathonläufer der Geschichte soll übrigens ein gewisser Pheidippides gewesen sein. Der Mythos will, er sei nach Überbringung seiner Botschaft vor Erschöpfung tot umgefallen. Wenn allerdings das ganze Leben ein solcher Marathon ist, dann wäre der Tod ohnehin das einzig mögliche Ende. Nur dass wir nicht mal eine Botschaft zu überbringen haben… Herzhafter Applaus für gute Unterhaltung mit einigem Tiefgang und schweißtreibende Schauspielerei.