MEINUNG
Kommentar: DFB in Dauerkrise
Wie Jogi Löw Bundestrainer werden konnte und warum man ihn weiter machen lässt
Von Siegfried Zagler
Der DFB wurde 1900 gegründet. In 120 Jahren, wenn man die Jahre von 1940 bis 1949 mitzählt, obwohl der DFB damals faktisch nicht existierte, saßen dem Deutschen Fußballbund seit Gründung 13 Präsidenten vor. Bundestrainer Jogi Löw überlebte in seiner (noch) laufenden Ära fünf: Affärenprofi Gerhard Mayer-Vorfelder, der seinen Sturz nur vermeiden konnte, indem er Theo Zwanziger neben sich als Doppelspitze zu dulden hatte. Als Mayer-Vorfelder den Stab endgültig loslassen musste, startete Zwanziger gut, doch nach der zunächst gefeierten Heim-WM gab er in zahlreichen Affären, etwa im Schiedsrichter-Skandal um Ex-Referee Robert Hoyzer, ein umstrittenes Bild ab.
Im Dezember 2011 kündigte Zwanziger seinen Rückzug an, der eher ein Rücktritt war, weil er das Feuer der Kritik nicht mehr vom Verband fernhalten konnte. Darauf folgte Wolfgang Niersbach, der nach dreieinhalb Jahren zurücktreten musste – wegen der steuerrechtlichen Vorwürfe bezüglich der WM 2006. Es folgte Reinhard Grindel, der in jeder Hinsicht überfordert schien, und in die Schusslinie geriet, weil er bei der Erdogan-Affäre der beiden türkischstämmigen Nationalspieler Gündogan und Özil eine unglückliche Figur abgab und zudem ohne Not Löws Vertrag vor der WM 2018 verlängerte. Zurücktreten musste der bereits schwer angeschlagene Grindel, als bekannt wurde, dass er von einem ukrainischen Oligarchen eine Luxusuhr als Geschenk angenommen hatte.
Der in vielerlei Hinsicht limitierte Zufallsbundestrainer Jogi Löw konnte lange 16 Jahre im Amt bleiben, weil er auf einem veralteten Tanker mit Strukturproblemen und Hobby-Kapitänen auf der Brücke anheuern durfte. Wäre der DFB nämlich mehr als ein in sich selbst gefangener und in die Jahre gekommener Dino, der sich in immer kürzerer werdenden Taktungen im Netz der Steuerfahndung verfängt, nämlich ein professioneller Verband mit transparenten Strukturen und einem personell erkennbaren Team, das Verantwortung für die Nationalmannschaft zeichnet, wären ad hoc-Bundestrainer aus dem Off, wie Löw, Klinsmann, Völler oder Ribbeck und auch Beckenbauer niemals auf der Bildfläche erschienen.
Und natürlich konnte Löw so lange im Amt bestehen, weil ihm ab 2008 bis heute stets ein Kader zur Verfügung stand/steht, mit dem man nicht nur jedes FIFA-Turnier hätte gewinnen können, sondern auch jedes Jahr die Champions League. Ähnlich wie Helmut Schön, dessen Ära ebenfalls zu lange dauerte, konnte und kann Löw stets auf eine Weltauswahl zurückgreifen. Selbst Abgänge von scheinbar unersetzlichen Spielern wie Klose, Lahm, Schweinsteiger, Mertesacker und auch Gomez, der als Zentrumsstürmer lange Phasen auf Weltniveau spielte, sollten keine Lücken reißen.
Das coaching-bedingte Dauerausscheiden in den Halbfinals der großen Turniere konnte man noch hinnehmen, zumal die WM 14 gewonnen wurde. Doch dann kam die WM 2018. Die deutsche Nationalmannschaft schied als Gruppenletzter aus und gab ein erbärmliches Bild ab, was in erster Linie am Coaching lag.
Danach muss wohl Grindel, um seinen Posten zu retten, auf die Schnapsidee “Umbruch” gekommen sein. Wäre unmittelbar nach der WM Löws Kopf gerollt, hätte das Grindel als DFB-Präsident kaum überlebt. Die Rede von der “schonungslosen Aufarbeitung” ließ die scheinbare Konsequenz des “Umbruchs” folgen.
Um es kurz zu machen: Es hätte keine Aufarbeitung der WM gebraucht, da die drei Gruppenspiele schlagartig für alle offen legten, was spätestens seit der Euro 2012 viele wussten und fast alle ahnten: Ein Weltklasse-Ensemble muss mit dem Dirigat eines Bierzelt-Dirigenten klarkommen. Dass Özil und Khedira nicht mehr zu den Stützen zählen, wäre jedem Jugendtrainer aufgefallen. Einen “Umbruch” muss es bei nationalen Auswahlmannschaften nicht geben, denn dort spielen einfach nur die besten Spieler ihres Landes. Das ist das große Ganze, wie es die DAZ bereits vor genau einem Jahr beschrieb.
Aktuell stehen u.a. falls verletzungsfrei, folgende Spieler für die deutsche Nationalmannschaft zur Verfügung: Neuer, ter Stegen, Sane, Kimmich, Süle, Reus, Boateng, Hummels, Müller, Havertz, Gündogan, Goretzka, Werner, Draxler, Gnabry, Kroos.
Die “Umbruchsopfer” sind kursiv geschrieben. Alle Spieler spielen in Weltklubs und gehören zu den Topverdienern im Profifußball. Alle Spieler könnten in jeder anderen europäischen Spitzenmannschaft zur Stammformation gehören. Dazu gehörten selbstverständlich Boateng, Hummels und Müller, die von Löw aussortiert wurden, als sie formschwach waren, aber längst wieder überragende Leistungen abliefern. Die meisten von ihnen waren bei der WM 18 dabei.
Die Besten ihres Fachs von der Nationalmannschaft mit einer sich selbst schützenden Pseudo-Strategie des Umbruchs auszubooten, ist ein außerordentlicher Vorgang, der die Aufgabenstellung eines Bundestrainers konterkariert. Es handelt sich dabei um eine sportliche Verfehlung, die es in der Geschichte des Fußballs noch nie gab. Seit 120 Jahren gibt es den DFB, er hat die Kaiserzeit überdauert, die Weimarer Republik, die Nazidiktatur überlebt, der Bonner Republik ein wenig nationale Identität gestiftet und die Wiedervereinigung schadlos überstanden. Doch nun wirds ernst: Der DFB demontiert sich selbst.
Fritz Keller, der aktuelle DFB-Präsident, Nachfolger des “Umbruch-Präsidenten” Grindel, ist von der Süddeutschen Zeitung zutreffenderweise als “substanzlos” erkannt worden. Hätte Keller Substanz, wäre Löw längst im Ruhestand.