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Donnerstag, 21.03.2024 - Jahrgang 16 - www.daz-augsburg.de

Debatte

Debatte: Woran kann man kluge politische Entscheidungen erkennen?

Je komplexer und drängender die Probleme sind, desto klüger und weitsichtiger müssten die Entscheidungen der Politik ausfallen. Wie viel trägt die Wissenschaft zur Meinungsbildung in der Politik bei? Was bedeutet Klugheit in der Politik? Diesen Fragen wollten Norbert Stamm (Lokale Agenda), vier geladene Stadträte, zwei Klimaaktivisten und zwei Wissenschaftler*innen näher treten. Dass die Veranstaltung am Thema vorbeisegelte, war die zweite Negativüberraschung. Die erste: Im großen Augustanasaal verloren sich nur 17 Zuhörer, darunter Augsburgs ehemalige Kulturreferentin Eva Leipprand. Erstaunlich auch der Sachverhalt, dass das städtische Büro für Nachhaltigkeit zu einer Podiumsdiskussion Eintritt verlangte.

Von Siegfried Zagler

Norbert Stamm, Lars Vollmar, Christine Kamm, Florian Freund, Matthias Fink, Stefan Sohnle, Alexander Mai, Olivia Mitscherlich-Schönherr, Christoph Weller (v.l.) Foto: DAZ

Am 28. September 2022 veranstaltete die Stadt Augsburg (Lokale Agenda) im Augustanasaal eine Podiumsdiskussion mit interessanten Gästen und brennenden Fragen. Geladen waren neben vier Stadträten und zwei Vertretern des Klimacamps Dr. Olivia Mitscherlich-Schönherr und Professor Christoph Weller. Es ging um etwas Wesentliches, nämlich um die Frage, warum wissenschaftliche Erkenntnisse nicht schnell und gradlinig von der Politik umgesetzt werden.

„Ist Wissenschaft zu theoretisch oder zu widersprüchlich? Nach welchen Kriterien entscheidet Politik? Wären Bürgerinnenbeiräte hilfreich? Wie stellt sich die Situation auf kommunaler Ebene dar?“ So hieß es im Einladungsflyer der „Arbeitsgemeinschaft Bildung und Nachhaltigkeit der Lokalen Agenda 21“. Moderiert hat den Abend Norbert Stamm. Dass die Veranstaltung konsequent unter ihren eigenen Ansprüchen blieb, lag nicht an den Stadträten, die sich wacker schlugen und im Nachgang in telefonischen Kurzinterviews mit der DAZ den Abend nachklingen ließen.

Festzuhalten ist vorab, dass das Podium viel zu groß war, um das komplexe Thema angemessen anzugehen. Eine Ahnung davon zu bekommen, wie eine Meinung entsteht, die sich auch noch als klug erweisen würde, hieße in die Denkkammern der Demokratie hinein hören. Politische Meinungsbildung geschieht zum Beispiel in den Fraktionen, doch dazu wurden die Stadträte nicht befragt.

Olivia Mitscherlich-Schönherrs Impulsvortrag ließ vieles im Ungefähren und wurde auch nicht differenzierter, wenn sie konkreter wurde: Unklug sei die Gasumlage und klug sei das wissenschaftsbasierte Handeln der Klimaaktivisten. Dass Beiräte mehr Klugheit in die Politik bringen würden, ist eine Annahme von Mitscherlich-Schönherr, die ebenfalls nicht näher begründet wurde. (Dass Beiräte nominiert werden und nicht auf ihre Wiederwahl hinarbeiten müssen, ist kein solides Argument dafür, dass sie zu klugen Empfehlungen neigen.).

Klug oder unklug ist nicht die Frage 

Die Frage, ob in Kriegszeiten das klassische demokratische Instrument (gemeint ist der Kompromiss) vorübergehend zu ruhen habe, wurde ebenfalls nicht erörtert. Dabei lag diese Debatte in der Luft, wenn man an die Ukraine denkt. Ob es klug war und ist, der Ukraine mit schweren Waffen beizustehen, wird die Geschichte zeigen. Aktuell zählt nur die Frage, ob die Bundesregierung richtig oder falsch handelt. Das Problem dabei: Wir können heute nicht wissen, was diesbezüglich richtig oder falsch ist. Wir können nur bewerten, welche Begründung sich klüger anhört. Und selbstverständlich ist nicht auszuschließen, dass die klüger begründete Entscheidung sich im Lauf der Zeit als die falsche politische Handlung erweist. Ob eine politische Entscheidung klug ist oder nicht, lässt sich selten in ihrem aktuellen Wirkungszeitraum erkennen.

In diesem Sinn hätte man Eva Leipprand fragen können (fragen müssen), ob sie auch noch nach dreißig Jahren ihren vergeblichen Widerstand gegen die Schleifenstraße als die klügere Position bewertet. Oder man hätte Christoph Weller fragen können, ob ihm denn die jüngere politische Geschichte Europas gelehrt habe, dass sein Widerstand gegen den Nato-Doppelbeschluss damals unklug war. Stattdessen lobte man von allen Seiten die politische Arbeit des Klimacamps, das die Klimapolitik des gesamten Augsburger Stadtrats als skandalös, da völlig unzureichend kritisiert. Das Handeln des Klimacamps ist sehr wahrscheinlich richtig und auch im Sinn des Allgemeinwohls klug. Doch Augsburgs Oberbürgermeisterin sieht das ganz anders. Wie wäre demnach ihr politisches Handeln zu bewerten?

Wenn das politische Handeln des Klimacamps klug ist, was ist dann das politische Handeln von Eva Weber?

Eine blitzsaubere Antwort zu dieser Frage lieferte Stadtrat Matthias Fink (CSU) im anschließenden Gespräch mit der DAZ: „Politik und Wissenschaft haben völlig unterschiedliche Aufgaben. Die Wissenschaft liefert Erkenntnisse. Die Politik tut gut daran, diese Erkenntnisse in ihre Abwägungen mit einzubeziehen. Selbst ein Konsens der Wissenschaftler kann dieses Abwägen, dieses Austarieren verschiedenster Interessen aber nicht einfach ersetzen. Auch die Erfordernisse des Klimaschutzes muss ein Bürgervertreter immer in Einklang bringen mit sozialen Aspekten, mit wirtschaftlichen und finanziellen Rahmenbedingungen. Es gilt „Follow the science“, wer aber die Politik zu einem reinen Transmissionsriemen von wissenschaftlichen Erkenntnissen in das Amtsblatt degradieren will, verkennt das Wesen der Demokratie.“

„Die Wissenschaft kann nicht und will nicht der Politik die Hand führen“

Auch in Sachen Klimaschutz sieht Fink die Wissenschaft als Leitfaden, aber nicht als leitende Hand: „Die beiden Repräsentanten der Wissenschaft haben klar gemacht, dass auch aus ihrer Sicht über Klimaschutzmaßnahmen die gewählten Volksvertreter zu entscheiden haben. Die Wissenschaft kann nicht und will nicht der Politik die Hand führen.“

Eine klassische grüne und somit sehr konkrete Position, die sich analog zur Argumentation der Klimacamper verhält, lieferte die Grüne Stadträtin Christine Kamm: „Die grundlegenden Erkenntnisse der Wissenschaft sind nicht neu, werden aber in der Konsequenz immer dramatischer. Schockierend sind die jüngsten Hinweise auf das mögliche Überschreiten gleich mehrerer Kipppunkte bereits 2030. Dies wird zumindest von allen Parteien- außer der AfD verstanden, doch die Konsequenzen lassen immer noch sehr auf sich warten. Wir können nur hoffen, schlimmes zu verhindern, wenn wir alle Handlungsspielräume schnell nutzen und dabei möglichst viele mitnehmen. Die Wissenschaft kann und soll gute Lösungen entwickeln und die Umsetzung begleiten- so entstehen  gerade gute bezahlbare Lösungen im Bereich effektivere Erneuerbare, Speicher, Wärmepumpen und Kaltwärmenetze.“

Warum die Umsetzung dieser Fortschrittsgeschichte so lange dauern würde, ist eine Frage die Kamm umtreibt: „Leider ist die Umsetzung des bereits machbaren unerträglich langsam. Politik, die hier vorangehen will, braucht Mut und Kraft und muss sich auch gegen die, die allzu gut vom bisherigen System und atomaren wie fossilen Energien profitiert haben, entgegenstellen. Die Verwerfungen durch den notwendigen Wandel verdienen ein ebenso großes wissenschaftliches Interesse wie die Beobachtung des Klimawandels durch die Naturwissenschaften.“

„Die deutschen Emissionen mit dirigistischen Mitteln auf Null zu bringen, ohne den weltweiten Hebel der Wirtschaft zu nutzen, bringt für den Planeten viel zu wenig“

Newcomer Lars Vollmar, der seit dieser Periode für die FDP im Stadtrat sitzt, sieht das grundsätzlich anders, aber im Besonderen ähnlich. Vollmar vertrat eine typische FDP-Haltung, die lange Zeit in Augsburgs Stadtrat so nicht mehr zu hören war: „Die Wissenschaft, die man als Politiker einfach umsetzen könnte, gibt es nicht. Beim Klimaschutz steht lediglich das Ziel fest, nämlich, dass wir 1,5-Grad-Ziel einhalten müssen. Aber über den Weg dahin gibt es ganz unterschiedliche wissenschaftliche Stimmen. Also können wir Politiker uns hier nicht hinter irgendwelchen Studien verstecken, sondern müssen politisch entscheiden.“

Was dies denn konkret bedeuten könnte, wollte die DAZ wissen und erntete eine FDP-Offensive in Sachen „think global“:

„Für mich ist es wichtig, dass wir auf unserem Weg in die Klimaneutralität einen marktwirtschaftlichen Rahmen setzen, in dem die deutsche Wirtschaft Technologien und Produkte entwickeln kann, die ohne Emissionen auskommen. Wenn es billiger ist, klimafreundlich zu produzieren, werden diese Technologien von Firmen weltweit eingesetzt. Das ist der Beitrag zur Rettung des Planeten, den Deutschland mit seiner starken Wirtschaft leisten kann. Die deutschen Emissionen mit dirigistischen Mitteln auf Null zu bringen, ohne den weltweiten Hebel der Wirtschaft zu nutzen, bringt für den Planeten viel zu wenig.“

„Die Parteien spielen dabei eine wichtige Rolle, weil sie über ihre Mitglieder eine Vernetzung in die Stadtgesellschaft“

Florian Freund (SPD) darf man als führenden Kopf der Stadtratsopposition bezeichnen. Er baut auf die Schwarmtheorie: „Politik machen heißt, auf der Grundlage von Informationen – da ist auch Wissenschaft gemeint – Entscheidungen zu treffen. Je besser die Informationen sind, umso wahrscheinlicher ist es, dass man kluge Entscheidungen trifft. Die Parteien spielen dabei eine wichtige Rolle, weil sie über ihre Mitglieder eine Vernetzung in die Stadtgesellschaft haben und so Informationen – aber natürlich auch relevante Meinungen und Stimmungen – zusammenkommen.

Die Frage, was er von dieser Debatte mitgenommen habe, beantwortete Klimacamper Alexander Mai zunächst diplomatisch: „wenig“. Was denn das Wenige sei? „Gut, ich muss mich korrigieren: nichts.“

Was tun? 

Die größte erkenntnisphilosophische Errungenschaft im Zeitalters der Wissenschaft besteht darin, dass Wissen nur als Wissen zählt, wenn es mit verifizierbaren Methoden gewonnen wird. Verbessern sich die Methoden, verbessert sich der Erkenntnisstand. Wissen ist nicht absolut, sondern ständig im Fluss. Ist der Erkenntnisstand jedoch anhand unzähliger Daten gesichert und dramatisch bezüglich der Folgen, und lässt er eine eindeutige Aussagen zu, wie zum Beispiel die Prognose, wann der Komet, den man bereits mit Augen sehen kann, auf der Erde einschlägt, dann sollte es keine Debatten mehr geben, sondern einen politischen Kanon eines notwendigen Tuns.

Die schwarze Netflix-Komödie „Don’t Look Up“ ist eine zynische Reflexion darüber, wie in den USA mit wissenschaftlichem Erkenntnisgewinn Schindluder getrieben wird. Die Verkennung von belastbarer Erkenntnis führt in dieser hochkarätig besetzten Satire zum Untergang der Erde. In Deutschland spiegelt sich diese Dummheit in den Narrativen der AfD wider. Unabhängig davon muss man in den Reihen der Vernunftbegabten der Mahnerin Christine Kamm zustimmen: „Die Umsetzung des Machbaren ist unerträglich langsam.“