Charlie Hebdo hautnah
Die Regisseure Daniel und Emmanuel Leconte stellten im Thalia ihren Dokumentarfilm über das Attentat vor
Von Frank Heindl
Am Freitag und Samstag zeigten die französischen Regisseure Daniel und Emmanuel Leconte ihren Dokumentarfilm „Je suis Charlie“ in drei Vorstellungen im Thalia-Kino und diskutierten danach mit dem Publikum – eine deutschlandweit einmalige Veranstaltung und ein bemerkenswerter, teils herzzerreißender, teils mit seinem Pathos über das Ziel hinausschießender Film.
Am 7. Januar 2015 überfielen zwei islamistische Attentäter die Redaktion der Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ und töteten elf Anwesende. Schon im Jahr 2007 hatte das Magazin im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses gestanden, als französische Islamverbände es wegen des Nachdrucks dänischer Mohammed-Karikaturen verklagt hatten. Das Pariser Gericht sprach die Zeitschrift vom Vorwurf der Beleidigung frei, Daniel Leconte drehte einen Film über die Vorgänge. Aus dieser Zeit stammt die Freundschaft der Lecontes (Daniel und Emmanuel sind Vater und Sohn) zu den Karikaturisten von „Charlie Hebdo“. Und auf dieser Freundschaft zu den Ermordeten resultierte der Ansporn, unmittelbar nach dem Anschlag mit einem neuen Film zu beginnen.
Der Überfall habe ganz Frankreich getroffen, verkündet bedeutungsschwer und von höchst pathetischer Musik unterstützt der Off-Kommentar der Regisseure, und zwar „ein Frankreich, das an nichts mehr zu glauben schien.“ Dieser Halbsatz und dieses Pathos geben die Marschrichtung der Dokumentation vor: Den Lecontes geht es um die großen Dinge – nicht nur um Pressefreiheit und die Freiheit der Kunst, sondern um Demokratie, Menschenrechte, die Errungenschaften von Aufklärung und französischer Revolution. Und es gelingt ihnen tatsächlich, das Pathos der großen Worte glaubhaft mit den Bildern der betroffenen Menschen zu koppeln.
Manche Szenen machen starr vor Schreck
Ihr Interview mit der Zeichnerin Coco ist geradezu herzzerreißend. Sie, die eigentlich ihre Tochter aus dem Kindergarten abholen wollte, öffnete, mit der Kalaschnikow der Attentäter im Rücken, den Mördern die Tür zu deren Opfern, überlebte selbst unverletzt, während ihre Freunde und Kollegen bestialisch niedergemetzelt wurden. Zuzusehen wie Coco, wenige Wochen nach dem Attentat, vergeblich gegen die Tränen kämpft, ist auch ein Jahr nach dem Anschlag nicht leicht. „Ich wurde zerrissen“, sagt sie. Der Buchhalter Eric Portheault lag hinter seinem Schreibtisch, als im Nebenzimmer gemordet wurde – erschütternd die Schilderung, wie sein Hund, quasi Augenzeuge, zu ihm herüberkam und sich ohne einen Laut auf Portheaults Gesicht legte, als wollte er ihn nicht nur schützen, sondern ihm auch jenen Anblick ersparen, den er später dem Filmteam nicht beschreiben mag aus Rücksicht auf die Hinterbliebenen.
Die Ermordeten zeigt der Film sowohl in privaten Videos, etwa beim Karaoke-Singen oder bei einem Busausflug, als auch in früheren Interviews. Es ist einem als Zuschauer, als lernte man diese fröhlichen, engagierten, streitbaren und streitenden Menschen tatsächlich ein wenig kennen, und es macht nahezu starr vor Schreck, dass sie getötet wurden wegen ihres unnachgiebigen Beharrens auf jenen Werten, die unsere freiheitliche Gesellschaft ausmachen.
Ernsthafte Bekenntnis zu Freiheit und Zivilisation
Doch mittels des Pathos ihrer Bilder schaffen es Daniel und Emmanuel Leconte auch, den Zuschauer aus dieser angstvollen Erstarrung schnell wieder zu lösen. Denn gegen die Bilder der Toten und der Traumatisierten stellen sie solche der öffentlichen Reaktionen: Tausende und Abertausende Franzosen, die in den Tagen danach zur Place de la République strömten, um millionenfach „Je suis Charlie!“ zu skandieren. Und erstmals wird einem klar, dass zumindest diejenigen, die dort auf der Straße waren, ihre Präsenz nicht als billige Solidaritätsgeste à la Facebook verstanden, und auch nicht nur als Protest gegen die primitive Dummheit der Islamisten – sondern als Bekenntnis: zu Demokratie, Freiheit, Menschenrechten, Zivilisation.
Weiterer Verdienst des Films: Die Regisseure sorgen sich nicht nur um „Charlie Hebdo“. Zwei Tage nach dem Attentat auf die Redaktion überfiel am 9. Januar 2015 ein weiterer Islamist einen jüdischen Supermarkt und tötete vier Menschen. Dass dies kein Zufall war, dass im Gegenteil Antisemitismus immer dort zu finden ist, wo sich Menschenverachtung und Intoleranz ausbreiten, zeigen die Lecontes unmissverständlich.
Für Augsburger Schüler eine Musterstunde in Staatsbürgerkunde
Die erste Aufführung des Films in Augsburg fand im Thalia-Kino am Freitagvormittag vor Schulklassen statt. Bei der anschließenden Diskussion mit den Regisseuren im Publikum: Eine junge Muslimin, die die „Charlie Hebdo“-Karikaturen als „unverschämt“ empfand. Was nun stattfand, könnte als Paradebeispiel dienen für eine Unterrichtseinheit in Staatsbürgerkunde an jeder Schulform. Genaue Fragen der Schüler, leidenschaftliche Plädoyers der Regisseure. Der Prophet darf unter keinen Umständen abgebildet werden – und schon gar nicht sein Hintern! – Die Lecontes verstehen die Betroffenheit, aber: In unserer Zivilisation gelten nicht die Gesetze einzelner Religionen, sondern die des Staates. Und diese stehen über den Gesetzen Gottes. Warum karikiert „Charlie Hebdo“ nur den Islam? – Das stimmt nicht! Im Gegenteil haben sich in 15 Jahren nur etwa drei Prozent der Cartoons dem Thema Islam gewidmet. Informiert euch! Glaubt nicht einfach alles, was andere behaupten! Wo endet die künstlerische Freiheit? – Sie hat eine Grenze nur dort, wo sie gegen Gesetze verstößt. Und natürlich ist es nicht erlaubt, Hass zu säen oder gegen Minderheiten zu hetzen.
Kleiner Wermutstropfen bei der anschließenden Diskussion im kleinen Kreis im Caféhaus: Auf Nachfrage verschärfen die Regisseure noch ihre schon im Film anklingende Kriegsrhetorik. Wer dabei gewesen sei, ob Polizisten, Zeugen, Hinterbliebene, Krankenhauspersonal, der bestätige: es sei „wie im Krieg“ gewesen. Dass ein im Verteidigungsrausch plötzlich geeintes Frankreich nun die Lösung im Zurückschlagen sehen will, bevor über Handlungsoptionen nachgedacht wird – das mag man nicht unbedingt befürworten. Da siegt dann schon wieder, ganz am Schluss, das nationale Pathos über die aufgeklärte Vernunft. Dabei hatte Emmanuel Leconte doch mit Leidenschaft und durchaus einleuchtend erklärt, was die eigentliche, befreiende und bemerkenswerte Medizin sei, zu der „Charlie Hebdo“ geraten habe: „Sie haben gesagt: Was wir brauchen ist weniger Ernsthaftigkeit und mehr Lässigkeit. Sie haben gesagt: Man kann über alles lachen.“ Die Geschichte, wie “Je suis Charlie” in die deutschen Kinos kam, finden Sie hier.
Foto: Die Regisseure von „Je suis Charlie“: Emmanuel und Daniel Leconte (Foto: Frank Heindl).