Staatstheater
Imperativ der Liebe: La Traviata im Martinipark
Mit der Verdi-Oper La Traviata eröffnete am vergangenen Sonntag das Augsburger Staatstheater im Martinipark die Musiktheater-Saison. Eva-Maria Melbyes Inszenierung sorgte für Begeisterungsstürme beim Augsburger Premierenpublikum.
Von Siegfried Zagler
Giuseppe Verdis La Traviata gehört zu den Standardwerken des internationalen Opernkanons. Sie ringt um einen Ausdruck der Leidenschaft und revoltiert gegen die deterministisch angelegte Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Ein neues Kapitel einer erzählenden Musikalität, das bei der Erstaufführung im Teatro La Fenice 1853 noch zurückhaltend aufgenommen wurde, aber keinen langen Anlauf benötigte, um in der Welt der Oper einen ewigen Spitzenplatz zu erobern. La Traviata ist seit mehr als 150 Jahren im Repertoire aller großen Bühnen und ein weltweit häufig aufgeführter Klassiker. Und doch ist La Traviata mehr als nur eine Oper.
Die Geschichte der Kurtisane Violetta Valéry entspringt aus einer realen Gesellschaft, aus einer neuen Klasse, die ihr Aufstreben als Notwendigkeit der Zeit begreift und dabei nicht nur nach politischer Macht greift, sondern auch die Kunst neu erfinden muss. Das Libretto von Franceso Piave basiert auf Alexandre Dumas Romanbestseller Die Kameliendame (1848).
Die Welt befand sich im Aufruhr, die einst mächtigen Monarchien waren nicht mehr stabil und begannen zu bröckeln. Giuseppe Verdi, ganz Kind seiner Zeit, wagte mehr als erlaubt war. Und er befand sich Ende der 1840er Jahre auf dem Höhepunkt seiner Schaffenskraft, komponierte in kurzer Zeit seine sogenannte „populäre Trilogie“.
Nach dem Stiffelio (1850), der den Ehebruch einer evangelischen Pfarrersfrau thematisiert, folgten Rigoletto (1851), Der Troubadour (1853) und La Traviata (1853). Zum ersten Mal in der Geschichte der Oper fanden Erzählungen über Frauen Beachtung, die, um es mit Rainer Werner Fassbinder zu sagen, „eine Ahnung haben von ihren Möglichkeiten und ihren Bedürfnissen und trotzdem das herrschende System in ihrem Kopf akzeptieren durch ihre Taten und es somit festigen und durchaus bestätigen“.
Effi Briest, Violetta, Mimi oder Carmen setzten Standesdünkel und Herrschaftssystem den Imperativ der Liebe entgegen – und gingen dabei zugrunde.
La Traviata beginnt mit einer von sich selbst berauschten Abendgesellschaft. Mittendrin die Pariser Schönheit Violetta Valéry – umringt von ihren Verehrern. Der junge Alfredo ist verzückt und trägt Violetta seine unsterbliche Liebe an. Zur allgemeinen Überraschung geht sie auf seine Avancen ein. Gemeinsam ziehen sie sich aus Paris aufs Land zurück. In die Idylle platzt Alfredos Vater Germont: Er fordert Violetta auf, den guten Ruf und die Zukunft seines Sohnes zu schützen und ihn zu verlassen. Violetta geht im Wissen um ihren baldigen Tod darauf ein.
Ein weiterer Ball, ein weiteres rauschendes Fest: Durch Violettas scheinbare Untreue wie von Sinnen, demütigt Alfredo sie vor der versammelten Pariser Gesellschaft. Als er von seinem Vater die Wahrheit erfährt, bereut er, doch es ist zu spät – Violetta stirbt an Tuberkulose.
Dumas und Verdis Erzählungen erschüttern die Statik der Stände. Es folgen Demütigung, Ausgrenzung und Tod. Giuseppe Verdi entwickelte zur Geschichte der Pariser Kurtisane, zum Roman quasi eine Filmmusik. Lange bevor der erste Film eine Leinwand fand, erfand Verdi die Idee einer Tonspur zur einem Blockbuster auf der Bühne. La Traviata ist stringent erzähltes Sozialdrama, ist ein Psychogramm der Empfindsamkeit, das Lust und Liebe als subversive Kraft gegen die gesellschaftlichen Zwänge jener Zeit ins Feld führt, als die Welt im Umbruch war: „Liebe mich so wie ich dich liebe!“
Der Imperativ der Liebenden als wahrhaftige menschliche Regung, deren Entfesselung die alte Welt ins Wanken bringt. „Liebe und Tod“, so sollte La Traviata ursprünglich heißen, wäre es nach Verdi gegangen. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts kamen Erzählungen dieser Art, die bis dahin undenkbar waren, in die Erzählräume von Buch und Bühne und eroberten das Publikum im Flug.
Die dänische Regisseurin Eva-Maria Melbye verzichtet in Augsburg auf überbordende Gestik, auf wilde Trinkszenen und romantisches Gehabe. Sie zeigt eine vom Weg abgekommene Violetta mit einer kaum für möglich gehaltenen Sachlichkeit, die in der intensiven Enge des Martiniparks das Orchester zum Star einer eindringlichen Aufführung macht. Der mit der berühmten „Neher-Gardine“ verdichtete Bühnenraum wird mit mobilen Wandsegmenten unterteilt, die Innen-Außen organisieren und an Höhlenausgänge erinnern (Bühnenbild: Marie í Dali).
Violetta (Jihyun Cecilia Lee) steht, sitzt, liegt, wandelt und leidet darin, oft an der Rampe direkt hinter dem Orchester, als könnte sie sich jeden Moment entmaterialisieren und im Hin und Her von Schmerz und Euphorie auflösen, sich als Geist in Musik verwandeln. Musikalisch ist Verdis Violetta wohl die anspruchsvollste Sopranpartie, die er jemals komponiert hat, da sie das Beherrschen gegensätzlicher Stimmfächer erfordert. Für leichtes Flackern in der oberen Mittellage wusste Jihyun Cecilia Lee mit lyrischem Belcanto zu entschädigen.
Im Piano-Part, in dem Violetta ihrer Liebe zu Alfredo entsagt, zog sie am Premierenabend das Publikum dergestalt in Bann, dass man das Fallen einer Stecknadel hätte hören können. Tenor Jacques le Roux als Alfredo war vor Vorstellungsbeginn als erkältet angesagt worden. Er verstand es aber, durch gelegentliches Oktavieren mit seinen Kräften derart zu haushalten, dass er an allen entscheidenden Stellen volle Wirkung erzielen konnte. Bariton Alejandro Marco-Buhrmester als Giorgio Germont überzeugte wie gewohnt, und das Orchester unter dem souveränen Dirigat von Domonkos Héja ließ – wo nötig – den Sängern Raum sich zu entfalten und hielt die musikalische Erzählung in Balance.
Der lange anhaltende Beifall mit sechs imaginären Vorhängen war bei der gelungenen Premiere daher keine Überraschung.