Überstunden-Desaster
Der Überstunden-Fall: Versuch einer rechtlichen Bewertung
Die Auszahlung von 4.900 Überstunden, die teilweise vor 28 Jahren abgeleistet worden sein sollen, ist alles andere als gewöhnlich. Wenn eine Zahlung von zirka 230.000 Euro von einer finanziell klammen Kommune an einen ehemaligen städtischen Angestellten, der seit 14 Jahren Baureferent ist, geleistet werden soll, ist es angebracht, auch letzte Zweifel an der Rechtmäßigkeit auszuräumen.
Von Alexander Meyer
Nach den bisherigen Äußerungen der Stadtregierung kann von einer Beantwortung der auf der Hand liegenden Fragen nicht die Rede sein. Im Gegenteil: Rechtlich nachvollziehbar ist in diesem Fall bislang wenig, ein Wille zu transparenter Kommunikation kaum erkennbar. Die üblichen Versuche, Datenschutz und Persönlichkeitsrechte des Betroffenen als Ausrede gegen Transparenz zu nutzen und mit empörten Verweisen auf die engagierte Arbeit von 6.700 städtischen Mitarbeitern von der Sache abzulenken, sind als Krisenkommunikation verfehlt.
So sind die Medien und die Bürger in der misslichen Lage, sich aus den verfügbaren Informationen einen Reim zu machen und die auf den ersten Blick befremdlichen Vorgänge einzuordnen. Ein Beitrag dazu soll hier aus einer arbeitsrechtlichen Sich geleistet werden.
I Rechtsanspruch und Rechtmäßigkeit
Es gibt zwei Fragen, die zu unterscheiden sind: Hat Herr Merkle einen durchsetzbaren Anspruch auf Auszahlung eines Zeitguthabens? Um das zu klären, müssten alle Verträge und Zusatzvereinbarungen zwischen Herrn Merkle und der Stadt Augsburg und viele weitere Informationen zum Sachverhalt vorliegen. Das ist nicht der Fall und dem steht – zu Recht – der Daten- und Persönlichkeitsschutz von Herrn Merkle entgegen. Ob Herr Merkle einen Auszahlungsanspruch hat, kann Gegenstand einer öffentlichen Gerichtsverhandlung werden, die Spekulation darüber ist müßig.
Daneben steht unabhängig die Frage zwei: Ist der Anspruch von Herrn Merkle – so er besteht – korrekt zu Stande gekommen? Hier geht es um das Thema „Compliance“, also die „Einhaltung von gesetzlichen Bestimmungen, Standards und Erfüllung weiterer, wesentlicher auch selbst gesetzter ethischer Standards und Anforderungen“ auf Seiten aller handelnden Personen.
Diese zweite Frage sollte durchaus Gegenstand einer auch öffentlich geführten Debatte sein. Wenn zutrifft, was die Stadtregierung behauptet, wenn sich also der Anspruch auf Auszahlung von 4.900 bis zu 28 Jahre zurückliegenden Überstunden aus Regeln ergibt, die auch für alle anderen Mitarbeiter der Stadt Augsburg in gleicher Weise gelten, dann ist weder die Auszahlung noch das Handeln auf Seiten der Stadt zu beanstanden.
Wenn sich diese Ansprüche aber nur deshalb ergeben, weil besondere Vereinbarungen mit Herrn Merkle getroffen wurden, weil Überstunden in ungewöhnlicher Weise anerkannt, Verjährung nicht beachtet und Überstunden in später geschaffene Arbeitszeit- und Langzeitkonten auf nicht nachvollziehbare Weise übertragen wurden, dann müssten diese Vorgänge unter dem Compliance-Gesichtspunkt sehr kritisch betrachtet werden.
II Ist die Argumentation der Stadt Augsburg schlüssig?
Oberbürgermeisterin Eva Weber und Personalreferent Frank Pintsch, beide CSU, haben erklärt, die Überstundenforderung würde sich aus der städtischen Dienstvereinbarungen vom Juli 2004 zur Einführung flexibler Arbeitszeitergeben ergeben.
Es stellt sich also die Frage, ob im Lichte dieser am 1. September 2004 in Kraft getretenen Regelung und der seit 1. Januar 2012 gültigen Nachfolgeregelung „Flexible Arbeitszeit II“ die Argumentation der Stadtspitze nachvollziehbar ist.
Um es gleich zu sagen: Es bleiben mehr Fragen als Antworten, denn die zentrale Frage, wie Überstunden ohne ein Arbeitszeitkonto einen Zeitraum von 28 Jahren überdauern können ohne von tariflichen Ausschlussfristen, der gesetzlichen Verjährung oder Verwirkung erfasst zu werden, bleibt völlig offen.
III Verfall, Verjährung, Verwirkung
An dieser Stelle sei kurz der Unterschied zwischen Verfall-/Ausschlussfristen, Verjährung und Verwirkung erklärt: Vertragliche und tarifliche Ausschlussfristen führen zum Erlöschen eines Anspruchs. Diese Regeln sollen schnell Rechtsklarheit schaffen, nach Fristablauf können solche Ansprüche nicht mehr erhoben werden.
Die Verjährung dagegen ist ein Recht zur Abwehr von Ansprüchen, sie wird deshalb als Einrede bezeichnet. Auf die Verjährung muss sich die Partei, von der die Leistung verlangt wird, berufen. Sie wird dann von der Leistungspflicht befreit, auch wenn der Anspruch rechtlich gesehen nicht erloschen ist.
Verwirkung tritt dann ein, wenn Ansprüche über einen sehr langen Zeitraum nicht geltend gemacht werden und der Anspruchsgegner nach den gesamten Umständen darauf vertrauen darf, dass die Ansprüche nicht mehr geltend gemacht werden.
Überstunden verfallen im öffentlichen Dienst in der Regel nach 6 Monaten (§ 37 TVöD), wenn sie nicht schriftlich geltend gemacht wurden. Spätestens nach 3 Jahren greift die gesetzliche Verjährung gem. § 195 BGB. Die öffentliche Verwaltung muss aus Gründen der sparsamen Haushaltsführung gegenüber Ansprüchen von Beschäftigten die Einrede der Verjährung auch tatsächlich erheben, wenn das möglich ist.
IV Überstunden ohne Arbeitszeitkonto
Ein Arbeitszeitkonto mit der Funktion, dass dort Überstunden erfasst und über einen langen Zeitraum gesammelt und am Ende auch ausbezahlt werden können, wurde bei der Stadt Augsburg erst mit Wirkung zum 1. Januar 2012 eingeführt.
Allein die auch zuvor bereits praktizierte Erfassung von Überstunden zu dem Zweck, sie später durch Freizeit ausgleichen zu können, führt nicht dazu, dass ein Arbeitszeitkonto entsteht, in dem Überstunden unbegrenzt lang fortgeführt und in einen Zahlungsanspruch umgewandelt werden können.
Eine solche Erfassung von Überstunden kann zwar dazu führen, dass die kurzen vertraglichen oder tariflichen Ausschlussfristen nicht greifen und die Überstunden nicht ständig neu geltend gemacht werden müssen. Der regelmäßigen Verjährung von 3 Jahren unterliegen Überstunden aber auch dann, wenn sie in dieser Weise gesondert erfasst werden.
Erst mit einem Arbeitszeitkonto können einzelne Überstunden, die jede für sich gesondert der Verjährung unterliegen, in ein Zeitguthaben umgewandelt werden. Nur ein derartiges Zeitguthaben auf einem vertraglich vereinbarten Arbeitszeitkonto unterliegt bei entsprechender Regelung nicht mehr der Verjährung.
V Dienstvereinbarung „Flexible Arbeitszeit“ von 2004
Auch in der Dienstvereinbarung von 2004 ist von einem Arbeitszeitkonto jedoch nicht die Rede. Mit dieser Vereinbarung wurde erstmals Gleitzeit eingeführt, also die starre Arbeitszeit in Kern- und Funktionsarbeitszeit aufgeteilt. Maximal 30 Stunden Zeitguthaben zum Gleitzeitausgleich durfte danach in den nächsten Monat mitgenommen werden.
Für Überstunden enthält die Dienstvereinbarung von 2004 überhaupt keine inhaltliche Regelung. Vielmehr heißt es dort: „Für angeordnete oder nachträglich genehmigte Überstunden gelten die entsprechenden tarifrechtlichen Regelungen. Überstunden sind gesondert zu kennzeichnen und gesondert zu erfassen und fallen nicht unter das 30 Stunden Kontingent.“
Die Dienstvereinbarung von 2004 ändert also im Hinblick auf Überstunden nichts und schafft insbesondere kein Arbeitszeitkonto.
VI Wechsel vom Arbeitnehmer zum Wahlbeamten 2008
Im Mai 2008 holte der neu gewählte Oberbürgermeister Kurt Gribl Herrn Merkle (beide CSU) als Baureferenten in die Stadtregierung. Dazu regelt Art. 10 des Gesetzes über kommunale Wahlbeamte (BayKWBG):
„Mit dem Beginn der Amtszeit als Beamter auf Zeit erlischt ein privatrechtliches Arbeitsverhältnis zum selben Dienstherrn.“
Es stellt sich deshalb die Frage, wie Überstunden aus dem Arbeitsverhältnis in das Beamtenverhältnis übertragen werden konnten, obwohl zu diesem Zeitpunkt kein Arbeitszeitkonto existierte und warum selbst Überstunden aus dem Jahr 1994 weder verfallen noch verwirkt noch verjährt gewesen sind.
Antworten darauf liefert weder die Dienstvereinbarung von 2004 noch die Nachfolgeregelung aus dem Jahr 2011.
VII Einführung Langzeitarbeitszeitkonto 2012
Die 2011 abgeschlossene Dienstvereinbarung „Flexible Arbeitszeit II“ ist am 1. Januar 2012 in Kraft getreten. Sie führt erstmals Arbeitszeitkonten ein und enthält eine Regelung, nach der die bis dahin aufgelaufenen Überstunden auf das Langzeitkonto für Arbeitszeit übertragen werden können – allerdings unter Beachtung der tariflichen Ausschlussfrist von sechs Monaten.
Am 1. Januar 2012 waren jedoch alle Überstunden bereits verjährt, die zu diesem Zeitpunkt älter als 3 Jahre waren.
Weshalb 4.900 Überstunden, die alle vor dem 1. Mai 2008 geleistet worden sind, am 1. Januar 2012 dem Langzeitkonto von Herrn Merkle gutgeschrieben worden sind, ist deshalb auf Grundlage der vorliegenden Informationen, insbesondere der Dienstvereinbarungen, nicht erklärbar.
Eine – wenngleich nicht die einzige – mögliche Erklärung wäre ein Schuldanerkenntnis mit Verjährungsverzicht. Das könnte etwa eine Vereinbarung sein, in der die Stadt anerkennt, dass ein bestimmtes Zeitguthaben besteht und auf die Einrede der Verjährung verzichtet.
Solch eine Vereinbarung kann individuell zwischen einem einzelnen Mitarbeiter der Stadt Augsburg geschlossen werden und dann nur für diesen Fall wirken. Gäbe es eine solche Vereinbarung im Fall Merkle, würde das im Hinblick auf die Compliance Fragen aufwerfen.
Es ist aber gerade im Arbeitsrecht auch möglich, dass ein bestimmtes Verhalten des Arbeitgebers oder eine betriebliche Praxis so gedeutet werden kann, dass eine verbindliche Wirkung für alle Mitarbeiter entsteht.
Wenn es etwa bei der Stadt Augsburg schon in der Zeit von 1994 bis 2012 gängige Praxis war, Überstundenguthaben über viele Jahre anzusammeln und Zeitguthaben bei Beendigung eines Arbeitsverhältnisses auszuzahlen, dann könnte es auch zu einem Überstundenguthaben in der behaupteten Höhe gekommen sein. Ob diese Praxis existierte, ist bislang nicht bekannt.
Nur: selbst wenn 2008 ein auszahlbares Überstundenguthaben von 4.900 Stunden bestanden hat ist unklar, wie dieses Guthaben ohne existierendes Arbeitszeitkonto in das Beamtenverhältnis übertragen wurde und dort weiter überdauern konnte.
VIII Entstehung der Überstunden
Wie überhaupt 4.900 Überstunden angesammelt werden konnten, wer das (nicht) kontrolliert, angeordnet oder nachträglich genehmigt hat ist eine sehr berechtigte Frage, die jedenfalls unter dem Compliance-Gesichtspunkt eine Rolle spielen sollte. Rechnerisch müsste Herr Merkle an den zirka 3.000 Arbeitstagen in den 14 Jahren von 1994 bis 2008 jeweils etwa eine Stunde und 40 Minuten länger gearbeitet haben, als vertraglich vorgesehen. An jedem einzelnen Arbeitstag! Berücksichtigt man, dass die Überstunden wohl nicht gleichmäßig über 14 Jahre angefallen sind, drängt sich der Verdacht auf, dass es zu erheblichen und lang andauernden Verstößen gegen das Arbeitszeitgesetz gekommen ist. Wie das unbeanstandet bleiben konnte, bleibt ein Mysterium.
IX Fazit:
Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich sowohl der Auszahlungsanspruch als auch das Handeln der Verwaltung als rechtmäßig erweist. Auf die Frage, warum 28 Jahre alte Zeitguthaben aus Überstunden weder von tariflichen Ausschlussfristen noch von Verjährung oder Verwirkung erfasst werden, geben die Dienstvereinbarungen, auf welche die Stadt sich bezieht, gerade keine Antwort. Wie die enorme Anzahl an Überstunden entstanden ist und wie eine Übertragung des Zeitguthabens vom Arbeits- in das Beamtenverhältnis stattgefunden hat, ist derzeit völlig unklar.
Nicht nur die Öffentlichkeit hat einen Anspruch darauf zu erfahren, ob die Ansprüche von Herrn Merkle korrekt zu Stande gekommen sind. Auch die über 6.700 Mitarbeiter der Stadt Augsburg werden interessiert verfolgen, ob für die Stadtspitze besondere Regeln gelten.
Eine zügige und transparente Darstellung der städtischen Position wäre die beste Krisenkommunikation. Das Verstecken hinter angeblichem Datenschutz, der Regierung von Schwaben oder nicht mehr greifbarem Personal hilft weder Herrn Merkle noch dem Ansehen der Stadt Augsburg.
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Alexander Meyer ist Fachanwalt für Arbeitsrecht und Fachanwalt für Gewerblichen Rechtsschutz in der Kanzlei anwaltsbüro47 in Augsburg.