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Samstag, 23.11.2024 - Jahrgang 16 - www.daz-augsburg.de

Zeitgeschichte: Aufarbeitung des Nationalsozialismus

Vor 100 Jahren in Augsburg: Aufruf zum Mord an Juden

Es geschah vor hundert Jahren: Der erste große antisemitische Skandal der neueren Zeit in Augsburg

Von Dr. Helmut Gier

Die Erinnerung an den Nationalsozialismus wird durch das Gedenken an die Opfer und ihr unermessliches Leiden geprägt. Daneben darf die Auseinandersetzung mit Tätern und Urhebern dieser Verbrechen nicht in den Hintergrund treten. Die Anfänge diese verhängnisvollen Bewegung  sind zu untersuchen, damit  klarer wird, wie der Nationalsozialismus so geschichtsmächtig werden konnte.

Julius Streichers Aufruf zum Mord an Juden vor 2.500 Zuhörern im Saalbau Herrle 

Der historische Saalbau Herrle in der Singerstraße Bildnachweis: © Privatsammlung Gregor Nagler

In den frühen 1920er Jahren war Augsburg durchaus kein unbedeutender Schauplatz völkischer, nationalistischer und antisemitischer Bestrebungen, was noch nicht hinreichend aufgearbeitet ist. Völlig in Vergessenheit geraten ist die erste große Manifestation des Antisemitismus in Augsburg, die schon damals als aufsehenerregender Skandal empfunden wurde. Am 29. März 1922 fand im Saalbau Herrle eine riesige Kundgebung der „Deutschen Werkgemeinschaft“ mit Julius Streicher, dem berühmt-berüchtigten Antisemiten, und Dr, Otto Dickel, dem Gründer dieser Werkgemeinschaft, vor 2500 Zuhörern statt. Für eine Stadt mit damals rund 160.000 Einwohnern ist dies eine gewaltige Besucherzahl, erst recht wenn man sie damit vergleicht, dass zu den beiden Veranstaltungen mit Adolf Hitler in Augsburg im Januar und Mai 1921 nur jeweils knapp 200 Zuhörer gekommen waren.

Schaukasten des antisemitischen Hetz-Blattes Der Stürmer. Bildquelle: Gaubildarchiv Worms 1935

Die Rede von Julius Streicher enthielt übelste Anstachelung zur Gewalt gegen Juden. Er verlangte ein Fremdengesetz, wonach die Juden ausgewiesen werden sollten, in ihre Wohnungen sollten Arbeiter hineinkommen, ihr Vermögen sollte dem Volke zugeführt werden und mit dem Geld sollten Häuser gebaut werden. Dieser Auftritt Streichers hatte ein Nachspiel, die nächste, für den 6. April geplante Versammlung der Werkgemeinschaft wurde verboten und der Stadtrat Augsburg führte Klage bei dem Vorsitzenden der Deutschen Werkgemeinschaft in Nürnberg, Carl Böhrer, über den Aufruf seines Stellvertreters Streicher zum Mord an den Juden. Diesem  Schriftwechsel verdankt sich ein wörtliches schauerliches Zitat aus der Rede Streichers im Saalbau Herrle: „Es muss eine deutsche Revolution kommen. Dann sollen die Juden in Schiffen abfahren und wenn keine Schiffe da sind, dann ins Meer hinein damit, wie seinerzeit ins rote Meer.“

Der Antisemitismus des aus Fleinheim, heute einem Ortsteil von Dinkelscherben, stammenden Julius Streicher war selbst Dr. Otto Dickel zu radikal. Dickel, Lehrer am Augsburger Realgymnasium, der im Frühjahr 1921 sogar ein Rivale Adolf Hitlers um die Führung der NSDAP wurde, hatte im März dieses Jahres die „Werkgemeinschaft“ gegründet. Als im Herbst 1921 Streicher in Nürnberg mit der Parteizeitung „Der Deutsche Sozialist“ in finanzielle Schwierigkeiten kam und Dickel ihn unterstützte, trat Streicher mit seiner gesamten, circa 800 Mitglieder zählenden Ortsgruppe der Deutschsozialistischen Partei am 20. November 1921 zur „Deutschen Werkgemeinschaft“ über, die damit die völkische Bewegung in Augsburg und München beherrschte, während die NSDAP weitgehend auf München beschränkt blieb.

Julius Streicher wird Herausgeber des Hetzblattes Der Stürmer

In diese Zeitspanne fällt der gemeinsame denkwürdige Auftritt Streichers und Dickels im Saalbau Herrle. Die Konflikte zwischen dem gemäßigteren Dickel und dem radikalisierten Streicher führten aber bald darauf zum Austritt des letzteren aus der „Deutschen Werkgemeinschaftt“ am 19. September 1922. Am 8. Oktober 1922 unterwarf sich Streicher Hitler. Eine starke Nürnberger Ortsgruppe der NSDAP bildete nun die Brücke dieser Partei für ihre Ausdehnung in den Norden Deutschlands, die „Deutsche Werkgemeinschaft“ versank in der Bedeutungslosigkeit. Ein halbes Jahr später, am 20. April 1923 begann das antisemitische Hetzblatt „Der Stürmer“ des zukünftigen „Frankenführers“ zu erscheinen. Der absolute Tiefpunkt im Hass auf die Juden und ihrer Diffamierung bereitete den Weg für den Holocaust.

Am 1. Oktober 1946 wurde Streicher im Rahmen der Nürnberger Prozesse wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum Tod durch den Strang verurteilt.