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Freitag, 19.04.2024 - Jahrgang 16 - www.daz-augsburg.de

Meinung

Zum Teufel mit dem Turamichele

Das Turamichele ist wieder da und setzt zum Rundumschlag an. Bislang blieb das groteske Schauspiel auf den Augsburger Rathausplatz beschränkt. Im Jahr 2020 – Corona sei Dank – steht das Augsburger Turamichele ganz im Zeichen der medialen Reichweitenverlängerung und so dringt der obskure Kult in die Augsburger Kindergärten und Schulen ein. 

Kommentar von Bernhard Schiller

Primitives Urteilsvermögen: „Ich bin gut, Du bist böse. Ich mach dich platt.“ Foto: © DAZ

Stellen sie sich vor, folgende Nachricht aus der Schule ihres Kindes käme ihnen zu Ohren: Im Pausenhof habe ein Schüler einen anderen zu Boden geworfen und solange auf sein ohnmächtiges Opfer eingedroschen, bis dieses blutend zusammengesackt sei. Sämtliche Mitschüler hätten euphorisch dabeigestanden, den Schläger angefeuert und dabei jeden einzelnen Faustschlag johlend mitgezählt: “Eins! Zwei! Drei! Vier! Fünf!“ Klingt schockierend? Nicht, wenn es sich bei Täter und Opfer um mythische Gestalten namens Turamichele und Teufel handelt. 

Dann gilt das seltsame Spektakel als “Augsburger Tradition”. Diese Tradition soll nun nach dem neuesten Einfall von „Augsburg Marketing“ den Kindergarten- und Grundschulkindern „einfach und fundiert vermittelt“, „spielerisch“ nähergebracht und „im Unterricht eingebunden“ werden. So steht es derzeit auf der Homepage des Stadtmarketings zu lesen. Kein schlechter Witz, sondern ein aus den Umständen der Pandemie geborener Impuls, den der Leiter von „Augsburg Marketing“, Ekkehard Schmölz, so erklärt: „Wenn die Kinder nicht zum Turamichele können, dann kommt das Turamichele eben zu ihnen.“ 

Dafür wurden in Zusammenarbeit mit der Zeichnerin Lisa Frühbeis und der Moderatorin des Kinderradios beim Bayerischen Rundfunk Kerstin Öchsner eigens ein Poster und Schulungsmaterial entwickelt. Ein bizarrer Aufwand für ein geistloses Provinzspektakel. Es scheint fast so, als wollten die Stadtvermarkter mit einem pädagogischen Wahrheitsprogramm verhindern, dass die lieben Kleinen irgendwann erkennen, weshalb das Turamichele ein Urfaschist und ein Mörder ist.

Ein hellhäutiger, männlich-jugendlicher Charakter dominiert einen dunklen, animalischen Untermenschen und metzelt diesen – ohne auch nur mit der Wimper zu zucken – ab. Das ist erstens blanker Rassismus, der in der mystischen Überhöhung eines metaphysischen Kampfes (Gut gegen Böse) wie jeder fundierte Rassismus seinen pseudoreligiösen Überbau hat. Zweitens zählt die in dem dualistischen Weltbild vom Turamichele verkörperte Macht über Leben und Tod und die bedingungslose Ausübung von Gewalt zu den kulturellen Zeichen des Faschismus.

Bis auf den heutigen Tag macht sich die Stadt Augsburg in Komplizenschaft mit dem Stadtmarketing, den Stadtwerken und angeschlossenen Unternehmen dieses seit Jahrtausenden fortgeschriebene, gnostische Tötungsritual aus völlig profanen Motiven zu eigen, verpasst ihm einen scheinheiligen Anstrich und lässt es nun auch noch mithilfe des Nullarguments der Tradition in Kindergärten und Schulen einsickern. Ausgerechnet dorthin, wo Gewalt immer mehr zum Problem wird.

Am vergangenen Donnerstag veröffentliche der Verband Bildung und Erziehung (VBE) Ergebnisse einer Umfrage, die zwar kaum noch verwundern, aber dennoch alarmieren. Die Gewalt gegen Lehrerinnen und Lehrer nehme zu, so das Fazit der vom Meinungsforschungsinstitut Forsa durchgeführten repräsentativen Befragung. Sogar in Grundschulen komme es immer häufiger zu körperlichen Übergriffen gegen Pädagogen. Der VBE-Bundesvorsitzende Udo Beckmann äußert sich im Interview mit dem Magazin „Der Spiegel“ zu diesem Phänomen. Grundschüler würden eher körperlich gewalttätig, weil sie „noch nicht gelernt haben, sich in Konfliktsituationen anders zu äußern.“ 

Gewalt- und Konfliktforschern sind solche Zusammenhänge seit langer Zeit bekannt. Wer Gewalt immer wieder als normales Mittel zur Konfliktbeseitigung erlebt, der wendet selbst auch eher Gewalt an. Dabei ist das persönliche soziale Umfeld, vor allem die Familie, von maßgeblichem Einfluss. Aber auch die Art und Weise der Darstellung von Gewalt in Medien trägt zur Gewaltbereitschaft von Kindern und Jugendlichen bei. Vor allem wenn die Darstellung unreflektiert aus der Täterperspektive erfolgt.

Um den Risiken der Medienverwahrlosung zu begegnen, kommt laut bayerischem Kultusministerium der Medienerziehung an Schulen besondere Bedeutung zu. Im von der Landesbehörde herausgegebenen „Gesamtkonzept für die politische Bildung an bayerischen Schulen“ aus dem Dezember 2018 wird deshalb die „Reflexion der durch Medien vermittelten, gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit“ gefordert.

Weiter heißt es dort: „Unsere Lehrerinnen und Lehrer (…) sind Vermittler unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung und geben unseren Kindern und Jugendlichen wichtige Orientierungshilfen“. Das Kultusministerium begreift politische Bildung dabei als ein „übergeordnetes Bildungsziel“. Denn die Kinder „sollen sich in unserer komplexen Welt urteilssicher und verantwortungsvoll orientieren können.“ Sie sollen „politische und religiöse Toleranz üben“.

Auch beim Turamichele-Schauspiel handelt es sich um ein Medium. Spätestens jetzt, da es via YouTube in die Wohn- und mittels Unterrichtsmaterial in die Klassenzimmer eindringt. Welche gesellschaftliche Wirklichkeit vermittelt es? Welche politische Wirklichkeit vermittelt es? Vermittelt das Turamichele Toleranz? Vermittelt es Verantwortung? Welche Orientierung vermittelt es? 

Der einzige Punkt, in dem das Turamichele-Schauspiel den ethischen Anforderungen des Kultusministeriums gerecht werden könnte, ist der der Urteilssicherheit in einer komplexen Welt: „Ich bin gut, Du bist böse. Ich mach dich platt.“ Das ist eine falsche unterkomplexe Urteilssicherheit, die weder das Bayerische Kultusministerium noch die Verantwortlichen der Stadt Augsburg fördern wollen.

Das Turamichele-Erbe an die Stadtwerke und das Stadtmarketing abzugeben, hat in einen dunklen Wald geführt. Mit einem aufgeklärten Wertekanon, mit Bildung oder Kultur hat das prähistorische Schauspiel nämlich nichts zu tun – und somit auch in Kindergärten und Schulen nichts verloren.