Wir sind sehr glücklich
Türkisches Theater im Großen Haus
Von Frank Heindl
Ein türkisches Ensemble mit dem Stück eines türkischen Autors in türkischer Sprache der Bühne des Stadttheaters – das gab’s noch nie. Am Sonntag gastierte die Theaterfabrik Ankara mit “Tek Kisilik Sehir” im Großen Haus am Kennedyplatz – zu deutsch: “Stadt für eine Person”. Ort der Handlung ist ein Restaurant in den oberen Stockwerken eines großen Wolkenkratzers, irgendwo und überall auf der Welt. Ein Tresen, ein paar Tische, ein Flügel, ein Kellner, ein Gast. Mit dieser Minimalausstattung schafft es das Ensemble, das Publikum zwei Stunden lang zu unterhalten – und zwar mit Witz und Niveau.
Der einzige Gast im Restaurant kommt dem Zuschauer von Anfang an ein bisschen seltsam vor: Erstmal packt er seinen Laptop aus, streichelt verliebt die Tastatur – dann hat er keine Zeit, auch nur ein Getränk zu bestellen, denn fortwährend klingelt sein Handy, telefonisch verkauft er Jachten, Autos, Reisen. Und als er endlich ein Fläschchen Wein bestellt hat, darf der Kellner auch das nicht öffnen: Wein mag der Herr nicht – er investiert nur in ihn, spekuliert auf steigende Preise.
Erst allmählich merkt der Zuschauer, dass das Stück in einer Welt handelt, die zum größeren Teil nur noch virtuell vorhanden ist. Selbst die Waren, die der begabte Kaufmann ununterbrochen an den Mann bringt, existieren in Wirklichkeit nur im Computer. Man macht “heutzutage” nur noch Entwürfe. Produziert wird nichts mehr, denn in der Zeit, die man für die Herstellung brauchen würde, entwerfen andere Ingenieure neue, bessere Modelle. Reale Gegenstände verlieren viel zu schnell ihren Wert, als dass man sie noch wirklich erwerben sollte.
Selbstmorde wie am Fließband
Nicht alle allerdings scheinen glücklich zu sein in dieser Welt: Alle paar Minuten ertönt ein scheußlicher Schrei, gefolgt von einem lauten Aufprall – das sind die Selbstmörder, die sich wie am Fließband vom Hochhaus werfen. Auch dieser Aspekt des “modernen Lebens” ist im Übrigen heftig kommerzialisiert – man bezahlt für einen ordentlichen Freitod, die Veranstalter leben nicht schlecht davon und schicken in neoliberaler Wirtschaftsmanier ihre Lobbyisten auf den Weg, um lästige Werbeverbote aus dem Weg zu räumen, die diesen prosperierenden Wirtschaftszweig unnötig einengen.
Es ist zum Lachen und zum Grausen, was die beiden Schauspieler da in kurzer Zeit an Absurditäten auf die Bühne bringen, und weil auch der Geschäftsmann gerne mal wieder wirklich, nicht nur virtuell lachen will, dreht sich das Gespräch beispielsweise auch um die Frage, wieso man sich nicht selber kitzeln kann. “Sie sollten sich sagen”, rät der Kellner philosophisch, “ich kann mich nicht kitzeln, also bin ich.” (Für den nur deutsch sprechenden Zuschauer wird der Genuss allerdings stark erschwert durch die Tatsache, dass es zwar eine deutsche Übertitelung gibt, dass diese aber selten synchron zum Spiel auf der Bühne abläuft und teilweise sogar deutlich mehr und anderen Text enthält als die Bühnenversion – sogar die Personen, von denen die Rede ist, tragen in der schriftlichen Fassung andere Namen!)
Noch mehr Gelächter gibt es, als sich nach der Pause eine zusätzliche Person dazugesellt – die Internetbekanntschaft, die der Geschäftsmann hier treffen wollte, trifft gegen alle Erwartungen tatsächlich ein. Der weibliche Faktor bringt noch mehr Absurditäten ins Spiel, etwa die Frage, wie oft man das Wort “wieder” benutzen darf und ob der wiederholte Gebrauch von “ohnehin” einen Satz schöner macht, aber auch Erfahrungsberichte von Selbsthilfegruppen, in denen man das Beleidigen erlernt oder wie man sich gegenseitig zum Orgasmus verhilft, ohne sich dabei versehentlich kennen zu lernen.
Die Pointe trifft in die Magengrube
Die Stadt, in der diese Personen zuhause sind, ist, kurz gesagt, die “Stadt für eine Person”. Kommunikation ist hier nicht wirklich vorgesehen, selbst die Tische im Restaurant sind eigentlich nur für jeweils einen gedacht. Alles ist sehr praktisch eingerichtet, die Jahreszeiten sind wegen Unkalkulierbarkeit abgeschafft und von künstlichen Arrangements abgelöst, ob es Tag oder Nacht ist, lässt sich nicht feststellen, weil die Helligkeit künstlich und nach absurden Regeln reguliert wird. Viele bringen sich um, aber das ist wohl eher Zufall und auf jeden Fall ein lohnendes Geschäft.
So haarsträubend irrwitzig präsentiert sich diese fiktive Zukunftsgesellschaft, dass die harte Schlusspointe tief in die Magengrube trifft: Alles, was je geschehen ist, von der Erfindung des Feuers bis zum Abwurf der Atombombe – es ist, so wird uns mitgeteilt, für uns geschehen! Damit wir glücklich sind. Und das sind wir doch. “Sie sind glücklich!”, wird uns eingeschärft, “Sie sind sehr glücklich!”. Einmal mehr darf man sich auf dem Nachhauseweg genau das fragen: Ob man den ganzen modernen Kram eigentlich braucht, und ob wir das ganze Zeug wirklich nur erfinden, um damit glücklich zu werden. Wäre die Theaterfabrik Ankara nicht, wir hätten’s mal wieder beinahe geglaubt.
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