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Dienstag, 23.07.2024 - Jahrgang 16 - www.daz-augsburg.de

Wir lieben und wir wissen nichts: Fulminantes Beziehungschaos auf der Brechtbühne

Spätestens seit dem „Gott des Gemetzels“ von Yasmina Reza sind offen ausgetragene (Inter-) Paar-Konflikte auf den Bühnen salonfähig geworden. Auch Moritz Rinke schlägt unter dem etwas harmlos-albernen Titel „Wir lieben und wissen nichts“ in diese Kerbe der Viererbeziehungen.

Von Halrun Reinholz

Konstellation: Zwei Paare in den Dreißigern, die sich unbekannterweise treffen, weil sie per Internet einen Wohnungstausch auf Zeit vereinbart haben. Wie sich herausstellt, stehen nicht alle Beteiligten mit der gleichen Überzeugung hinter dem beschlossenen Tauschgeschäft und so nimmt das Chaos seinen Lauf.

Wohnungstausch mit Hindernissen



Hannah (Lea Sophie Salfeld), die offenbar wie ihr Freund Sebastian (Kai Meyer) ein kulturwissenschaftliches Studium absolviert hat, verdient ihr Geld damit, dass sie gestressten Bankern Zen-Kurse verpasst. Ein entsprechender Auftrag in Zürich ist der Anlass für den beabsichtigten Wohnungstausch. Sebastian ist von dem Umzug nur mäßig begeistert, obwohl er als freiberuflicher „Vorwortschreiber“ eigentlich mobil ist. Symbolhaft klebt er auf seinem Sessel, praktisch das einzig vorhandene Möbelstück auf der Bühne, inmitten eines Bücherhaufens, unschlüssig, welche der Bücher er nun mitnehmen soll. Schon vor dem Eintreffen der Tauschpartner wird klar, dass Hannah ihn dabeihaben will, weil sie ganz entschieden (und mit Hilfe einer „Fruchtbarkeits-App“) die Familienplanung vorantreibt, für die der Job in Zürich die finanzielle Grundlage ist. Auch der forsch und geschäftig auftretende Tauschpartner Roman (Alexander Darkow) hat dem Wohnungstausch nur widerwillig zugestimmt. Seine Frau Magdalena hatte die Idee, weil sie ihn im Außendienst begleiten wollte. Er hätte ein Hotelzimmer allein bevorzugt. Im Moment jedoch hat er wichtigere Probleme: Der Techniker Roman zählt die Minuten bis zum Start einer Raumsonde, an deren Herstellung er im weiteren Sinn beteiligt war. Den Start will er im Internet live mit verfolgen. Seine hektische Geschäftigkeit im Kampf gegen die Zeit treibt den Kulturwissenschaftler Sebastian in eine fast vergnügte Oppositionshaltung, die in der vergeblichen Suche nach dem Internetpasswort ihren Eklat erreicht.  Die beiden Frauen versuchen zwar, die zivilisatorische Contenance zu bewahren, verfallen jedoch zwischendurch den erotischen Reizen des jeweils anderen Mannes und der gegenseitigen Eifersucht.

Komik mit Charakter



Die reiche Situationskomik  in dieser explosiven Konstellation ist vom Stück gewollt  und wird von Regisseurin Maria Viktoria Linke lustvoll zelebriert, ohne die Grenze zum Kitsch zu überschreiten. Einerseits ist das Stück zu vielschichtig angelegt: Bei aller Typisierung der Charaktere ist der Verlauf der Situationen nicht vorhersehbar und auch das Ende bringt keine platte Auflösung der Konflikte. Vor allem aber wird die Komik von der hervorragenden Darstellung getragen. Alle vier Akteure überzeugen kongenial als die von ihnen vertretenen Charaktere. Lethargisch und von aller Geschäftigkeit unbeeindruckt versteigt sich Kai Meyer (gut gewählter Gast im Ensemble) als Sebastian in philosophische Betrachtungen, energisch und willensstark turnt Lea Sophie Salfeld als Hannah („mit H vorne und hinten“) über die Bühne. Alexander Darkows Roman ist der nervige Perfektionist und fortschrittsgläubige Technik-Freak par excellence, der allerdings noch nicht weiß, dass er seinen Job verloren hat. Freundlich-naiv lüftet die „Pferdephysiotherapeutin“ Magdalena (Jessica Higgins) immer wieder ihren kurzen Rock, um stolz die (dank Cellulite-Prophylaxe mit Stickstoff) „Beine einer Zwanzigjährigen“ zu zeigen, ist jedoch bei weitem nicht das blonde Dummchen, als das sie von ihrem Mann verkauft wird.

Akrobatische Herausforderung auf dem Spielfeld



Das Bühnenbild erleichtert den Akteuren ihre Sache keinesfalls, ermöglicht ihnen jedoch, die Früchte jahrelangen Bewegungstrainings fulminant zu präsentieren. Es mag an der Beschaffenheit der Brechtbühne liegen, die die Bühnenbildner (in diesem Fall Wolfgang Menardi) wohl zu halsbrecherischen Aufbauten inspiriert: Zum wiederholten Mal durften die Zuschauer den Darstellern bei akrobatischen Höchstleistungen zusehen. Nicht zu ihrem Missvergnügen übrigens und auch nicht zum Nachteil des Stückes. Menardi entwarf sozusagen einen Wohnungs-Grundriss (inklusive Balkon), wo die Schauspieler wie auf einem Spielfeld agieren konnten. Die schiefen Ebenen und zu überwindenden Hindernisse verliehen diesem Spielfeld eine gewisse Plastizität und verstärkten die Aussage des Stückes, wonach die Menschen wie Spielfiguren unwissend und unreflektiert in bestimmte Konstellationen geraten, mit denen sie sich dann auseinandersetzen müssen. Eine Komödie mit Niveau.

Fotos: Nikolas Hagele