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Samstag, 23.11.2024 - Jahrgang 16 - www.daz-augsburg.de

Wir haben Pegida

Religion ist ein kultureller Code, der sich nicht universal verstehen lässt, wie eine mathematische Gleichung oder die Musik von Beethoven.

Kommentar von Siegfried Zagler



Wenn ein Besucher in Augsburg das jüdische Museum in der Halderstraße aufsucht, wird ihm schlagartig klar, dass ein öffentliches jüdisches Gemeindeleben auch in einem Land wie Deutschland nicht möglich ist: Sicherheitsvorkehrungen als befände man sich im Krieg. Es sind erst ein paar Wochen vergangenen, als der „neue“ deutsche Antisemitismus zu Debatte stand. Antisemitismus scheint ein Phänomen unserer Geschichte zu sein, ein Phänomen, das offenbar als Kontinuum zu uns gehört, wie die stetig aufflammende Islam-Phobie, die Angst vor Überfremdung und die damit verbundenen Aversionen gegen islamische Kulturen in Deutschland.

II

Antisemitismus wie Islamphobie waren und sind durch ein permanentes Hintergrundrauschen gekennzeichnet. Beide Strömungen befinden sich außerhalb der Übereinkünfte, die Zivilgesellschaften eben also solche erkennbar machen. Beide Phänomene werden von den Eliten unserer Gesellschaft bekämpft oder ignoriert. Innerhalb der deutschen Parteienlandschaft gibt es (noch) keine ernstzunehmende antisemitische Tendenzen, gibt es keine fremdenfeindliche Großredner und keine nationale parteipolitische Programmatik. (Die NPD wäre längst wegen Volksverhetzung verboten, wäre sie nicht die ideale Einstiegsplattform für den Verfassungsschutz.).

III

Der politische Wertekanon für eine offene Gesellschaft in Deutschland besteht ohne politische Ausreißer, auch wenn man das der AfD fälschlicherweise gerne vorhält. Hierzulande gibt es keine Rechtspopulisten wie Geert Wilders in Holland, Marine Le Pen in Frankreich, Peppe Grillo in Italien, Pia Kjærsgaard in Dänemark, Nigel Farage in Großbritannien, die Schwedendemokraten in Schweden, der Vlaams Belang in Belgien – doch nun das: Wir haben Pegida. Die antiislamischen Kundgebungen in Dresden erzeugen bei unseren politischen Eliten Ratlosigkeit und Distanzierungseifer. Was verborgen immer als Hintergrundrauschen da war, wagt sich nun ins offene Feld. Sind diese Menschen mit ihrer Positionierung verabscheuungswürdig, faschistisch oder antidemokratisch? Die Antwort ist einfach: Nein!

IV

Haben die Pegida-Demonstranten den islamistischen Antisemitismus derjenigen Gruppen kritisiert, die sich in den islamistischen Fundamentalismus und in seinen Antisemitismus verrannt haben? Haben sie begründet, woher ihre Aversionen kommen, haben sie erklärt, welche Fehler die Migrationspolitik der vergangenen Jahrzehnte gemacht hat? (Es wären deren viele!). Nein! – Die Pegida-Bewegung ist nichts anderes als ein Bestätigungspool von Ressentiment-Getriebenen, die ihr diffuses kulturelles Unbehagen auf die Straße tragen – friedlich. Dagegen sollte man als Demokrat zunächst mal nichts haben. Das ist besser als das gefährliche Hintergrundmurmeln einer angenommenen “schweigenden Mehrheit”, die – so die Hoffnung – keine Mehrheit, sondern eine kleine Minderheit ist.

V

Es interessiert also in erster Linie, was “wir” meinen. Und mit “uns” ist nicht Pegida gemeint, sondern das “linksliberale Meinungskartell” sowie „unsere“ Moslems. Gehört der Islam zu Deutschland, wie das ein ehemaliger Bundespräsident in einer bemerkenswerten Rede proklamierte? Auch hier muss die Antwort entschieden ausfallen: Ja! – Es wäre zu wünschen, dass wir in Deutschland von „unseren“ Moslems sprechen könnten wie über unsere Katholiken, unsere Protestanten und unsere anderen Konfessionsgruppen. Ohne Anführungszeichen also, was aber beinhalten würde, dass wir sie in ihrer Haltung auch offen kritisieren könnten. Wie bei der Distanzierungsforderung zum IS kommt  von „unseren“ Moslems öffentlich zu wenig um die Ecke. Sie sind weder auf lokalen Ebenen noch auf einer anderen Ebene unserer Zivilgesellschaft so organisiert, dass sie mit einer politischen Stimme sprechen könnten. Wären sie das, würden sie sich vermutlich sehr zurückhaltend äußern.

VI

Noch hat sich niemand darüber gewundert, dass sich noch kein Vertreter einer islamischen Gruppierung zu Pegida geäußert hat. Das zeigt im Grunde, dass ein Missverhältnis der Leitkulturen zur Außenseiterkultur des Islam existiert. Wir müssen uns also daran halten, was unsere Parteien so meinen, unsere Katholiken, Protestanten und unsere konfessionslose Geister, unsere Medien und unsere Leitartikelschreiber. Und es ist festzustellen, dass viele sehr elegant und klug im Trüben fischen. Im Prinzip scheint es fast ausschließlich darum zu gehen, das eigene Nichtverstehen so beredt wie möglich in die Welt zu streuen.

VII

Wenn „wir“ also davon ausgehen, dass es zum zivilisatorischen Fortschritt keine Alternative gibt, muss man verstehen, dass sich eine Zivilgesellschaft ohne eine pluralistische Struktur ins Absurde drehen würde. Auf der Ebene der Zivilgesellschaften gibt es eine Reihe von interkulturellen Übereinstimmungen. In diesen Schnittmengen existieren vitale gemeinsame Interessen samt der dafür erforderlichen universalen Sprache. Das trifft in erster Linie für die Wissenschaften und die Künste zu. Die Pegida-Bewegung argumentiert bestenfalls mit einer religiösen Selbstvergewisserung aus der Position einer erhöhten Leitkultur heraus. Das ist die Position der Feinde einer offenen Gesellschaft.

VIII

Wer aber könnte von den Unterstützern einer offen Gesellschaft ohne zu flunkern behaupten, dass nicht zwischendurch Bedenken gegenüber denjenigen aufkeimen, die anderen Religionsgruppen angehören? In Augsburg gibt es bei fast gleich großen Anteilen kaum Ressentiments zwischen den beiden christlichen Konfessionen. In Glasgow und in Nordirland sieht das anders aus. Wenn verschiedene Religionsgruppen einander begegnen, dann selten auf der zivilisatorischen Ebene, sondern auf dem unübersichtlichen vielsprachigen Feld der Kultur, wo nicht nur Muslime von ihrem kulturellen Selbstverständnis, von ihrer kulturellen Identität sprechen. – Während wir mit großer Neugier offen sind für aus islamischen Kulturen kommende Schriftsteller, Filmschaffende, Lyriker, Maler, sind wir empfindlich und verklemmt, wenn wir einen Dialog, eine Debatte, einen Diskurs über den Islam führen sollen. Das hat damit zu tun, dass wir ihn nicht kennen und dass er uns auch fremd bleibt, wenn wir ihn kennen lernen wollen. Im Gegensatz zur Wissenschaft und zur Kunst kennt der Islam keine universale Sprache. Wir müssen uns mit einer (unseren) kulturellen (inneren) Abwehr auseinandersetzen, wenn es um den Islam geht, auch dann, wenn wir die besten Absichten haben. Nicht anders dürfte es den Moslems gehen, wenn sie aufgefordert werden, das Christliche der europäischen Kultur verstehen zu wollen.

IX

Es mag Ausnahmen geben, aber eine Religion ist ein verwinkelter unverständlicher kultureller Code, der sich nicht universal verstehen lässt, wie eine mathematische Gleichung oder die Musik von Beethoven. Religion folgt einem apodiktischen Muster einer historischen Wahrheitsvereinbarung. Aus diesem Grund ist ein Staat, der eine Religion zur Staatsdoktrin macht, befremdlich und verabscheuungswürdig zugleich. Und in regelmäßigen Abständen gibt es immer wieder Schockmeldungen aus Ländern, deren Diktatoren den Islam zur Staatsdoktrin etabliert haben. Dort werden die – von unseren Zivilgesellschaften erkämpften – bürgerlichen Rechte nicht respektiert. Diese Staaten sind die Feinde einer globalen Zivilgesellschaft und einer friedlichen Welt. Ihnen gegenüber müsste man harte Kante zeigen. Dass das nicht der Fall ist, zeigt zum Beispiel die WM-Vergabe in das Emirat Katar. Die Differenz Islam-Islamismus sollte keine akademische Bildungsdebatte abbilden, sondern den politischen Diskurs bestimmen.

X

Noch ein Satz zum “Meinungskartell”. Der Schreiber dieser Zeilen hat nichts gegen ein politisches Meinungskartell der Parteien oder einen “elaborierten Einheitsbrei” der Medien, wenn es um Positionen geht, die zur Fortführung einer Gesellschaft niemals aufgegeben werden dürfen, wie zum Beispiel das Bekenntnis zum Grundgesetz, das Gewaltmonopol, das Recht auf Eigentum, die Persönlichkeitsrechte undsoweiter. Ein politisches Meinungskartell bedeutet, dass sich in Kernthesen unserer Demokratie unsere Parteien und deren Führungspersönlichkeiten nur marginal unterscheiden. Das ist eine gute Sache, wie man zum Beispiel bei der Debatte um die Todesstrafe erkennen kann. In den sechziger, siebziger und achtziger Jahren war in Umfragen die Mehrheit der Deutschen für die Einführung der Todesstrafe. Die Parteienlandschaft, die Eliten und die Medien ließen ihr „Meinungskartell“ nicht erweichen. Heute sind weniger als 30 Prozent der Deutschen für die Einführung der Todesstrafe. Immer noch zu viel, aber dieser lange Marsch zeigt auf, dass ein Fortschrittsprozess im ethischen Sinn ein zivilisatorisches Projekt über mehrere Generationen darstellt.

XI

Als sich die Grünen zu Beginn der achtziger Jahre gründeten, um gegen eine politische Doktrin Politik zu machen (Energie- und Rüstungspolitik), herrschte bei den etablierten Parteien (altes Meinungskartell) das blanke Entsetzen. Dreißig Jahre später hatten sich die historischen Positionen der Grünen nicht nur durchgesetzt, sondern daraus wurde ein neues Meinungskartell gebildet. Eine Alternativpartei zur Energiewende ist nicht in Sicht! Womit gesagt sein soll, dass ein Meinungskartell auch bekämpft werden kann, wenn eine andere Grundhaltung in eine womöglich bessere Richtung führen könnte. Bei den Themen der Flüchtlingspolitik, Einwanderungspolitik und Asylpolitik ist in Deutschland vieles ausbaufähig. Eine Debatte über eine restriktivere Politik in diesen Angelegenheiten wäre ein großer Rückschritt, wäre der Beginn eines Auflösungsprozesses einer Sache, die uns nicht nur aufgrund unserer zivilisatorischen Abstürze ins Herz gemeißelt sein sollte.