Wie an Fäden dem Schicksal und der Revolution entgegen
Brechtfestival: „Die Mutter“ in einer Inszenierung aus Italien
Von Frank Heindl
Die bisher möglicherweise verblüffendste Inszenierung des diesjährigen Brechtfestivals lieferte am vergangenen Sonntag das italienische Ensemble des Teatro Elicantropo aus Neapel und sein Regisseur Carlo Cerciello: Die Truppe machte keine Anstalten, Brechts „Mutter“ (nach dem Roman von Maxim Gorki) irgendwie zu aktualisieren. Stattdessen versetzte sie sich und das Publikum zurück in eine Zeit der radikal „brechtischen“ Inszenierung.
Die Mutter – das ist Pelagea Wlassowa die, um ihren Sohn vor dem gefährlichen Umgang mit den russischen Bolschewiken zu schützen, selbst das Flugblattverteilen übernimmt und in der Folge nicht nur zur überzeugten Kommunistin, sondern zur erfolgreichen Agitatorin wird. Brechts Text strotzt von Propaganda, vor Gedichten und Songs wie dem „Lob des Kommunismus“ (mit der Musik von Hanns Eisler), vor – aus heutiger Sicht – drastischer Identifikation mit der Revolutionspolitik der russischen Kommunisten, mit leninistischer Theorie und der Diktatur des Proletariats. Und Cerciello setzt dieses Programm getreu der Brechtschen Vorlage um.
Im Halbdunkel der auf engsten Raum verkleinerten Bühne des Großen Hauses sieht das Publikum zunächst ein Standbild, dessen Ästhetik den weiteren Verlauf ungebrochen begleiten wird: Arbeiter mit erhobenem Werkzeug, in die Luft gereckte Fäuste, Armut, zerschlissene Kleidung, eine enge Wohnung. Dann kommt Bewegung in diese Szenerie – eine Bewegung, die nicht mehr zum Stillstand kommen wird, bis das gesamte Stück abgespult ist. Ein drängendes, hektisches Vorwärts, das oftmals an eine überdrehte Spieluhr erinnert, an ein hektisches Marionettentheater – und an einen Stummfilm. So viel und so schnell in dieser Inszenierung geredet wird (selbst für italienische Verhältnisse grenzen die nicht endenden, pausenlosen Dialoge ans Absurde) – die Schauspieler benehmen sich, als müsste jedes Wort auch noch in Gestik und Mimik übersetzt werden, chargieren bis zum Äußersten, wenden sich nie nur Gänze an ihre Ansprechpartner, sondern immer zur Hälfte ans Publikum. Pelagea, die Mutter, stützt die Hände in die Hüfte, als müsste sie bei jeder Bewegung betonen: „Ich bin zwar eine junge Schauspielerin, stelle aber eine alte Frau dar“, die christlichen Heuchlerinnen heucheln so offensichtlich, dass man ihnen sowieso kein Wort glaubt, die Revolutionäre revolutionieren ohn‘ Unterlass und in den lautesten Tönen, die Bösen hinken wie der Gottseibeiuns – jeder Satz eine Propagandarede, jede Geste eine Entlarvung, jedes Wort eine Agitation – und insgesamt nahe am Slapstick.
Songs und Belehrung fürs Publikum
Für die Songs wendet sich die Gruppe zur Gänze ans Publikum, und auch wenn die Kommunisten der Pelagea erklären, warum der Kommunismus die einzige Lösung ist, tun sie das in Wahrheit in Richtung Publikum. Der Bühnenraum ändert sich nie, aber die Schauplätze sehr wohl. Das merkt jeder. Trotzdem wird jeweils ein Hinweisschildchen aufgehängt, das uns noch einmal darauf hinweist, dass wir uns nun in der Wohnung des Lehrers befinden, ein andermal in Gefängnis und später in der Gutsküche.
Was das bedeutet? – Es scheint sich um die übertrieben akribisch durchgeführte Anwendung Brechtscher Schauspielkunst zu handeln. Ob das kritisch, distanzierend, gar parodistisch gemeint ist? Das lässt die Inszenierung glücklicherweise offen – da fordert sie ganz in Brechtscher Tradition die Entscheidung des Zuschauers.
Es gibt nur ganz wenige, klitzekleine Momente in dieser Inszenierung, in denen der Regisseur dieses Prinzip durchbricht. Er habe sein Augenmerk darauf gelegt, wie sich Mutter und Sohn im Laufe des Dramas voneinander entfernen, hatte Cerciello in einem Podiumsgespräch am Vormittag betont. Und in der Tat: Er hat hier eine bemerkenswerte Fallhöhe eingebaut. Denn wenn in all der Hektik und dem mechanischen Abspulen der (in marxistischer Interpretation) logisch und unaufhaltsam sich entwickelnden Handlung hin zur Revolution an einem ganz kurzen Haltepunkt der Blick auf die Mutter fällt; wenn sie nach dem Tod ihres Sohnes den Tröstungsversuchen der Nachbarinnen mit neuer, kluger Agitation begegnet ist; wenn sie nun wieder allein ist: dann lässt Cerciello die Maschine für Sekunden anhalten. „Pawel!“ ruft die alleine zurückgelassene Mutter, und plötzlich ist in diesem Aufschrei der ganze Schmerz einer Mutter zusammengefasst, die um ihren Sohn trauert und die sich das keine Sekunde lang anmerken lassen hat. In einer älteren Aufnahme kann man Therese Giese an derselben Stelle denselben Namen aussprechen hören: Sie sagt „Pawel“, wie andere sagen würden: „es regnet“ oder „Guten Morgen“ – ohne erkennbare Emotion, wie Brechts Vorstellung von epischem Theater das wohl haben wollte. So zeigt diese Stelle deutlich, wo Cerciello den Unterschied sieht: Er demonstriert mit diesem winzigen Einschnitt, wie das Individuum (und sicher nicht nur „die Mutter“) leidet – auch wenn es um das hehre Ziel der proletarischen Revolution geht.
Zum Schluss ein Lied aus der guten alten Zeit
Doch schon ist die Spieluhr wieder aufgezogen, saust die Maschine weiter, werden die Akteure wie an Fäden ihrer Bestimmung entgegen gezogen – nur sind es hier nicht die Nornenfäden der griechischen Mythologie, sondern die der materialistischen Geschichtsauffassung von Marx und Brecht. Cerciellos Inszenierung zeigt nicht, ob sie diese Auffassung für falsch hält, wohl aber, dass sie Opfer fordert. Und dass sie gescheitert ist: Auch über der roten Fahne, für die viele gestorben sind und die Pelagea mutig und ungebrochen durch das Schlachtengetümmel bis zum Sieg der Revolution getragen hat, hängt am Schluss ein Hinweisschild: „Geschlossen“. Und die „Internationale“ erklingt in einer verzückt romantischen Version, als wär’s „Am Brunnen vor dem Tore“, als wär’s ein Volkslied aus der „guten alten Zeit“.
Leider viel zu wenig Publikum, doch begeisterte Bravi von der stark vertretenen italienischen Community.