Wertevermittlung mit der Knarre
„Verrücktes Blut“: doppelbödige Migranten-Komödie in der Brechtbühne
Von Frank Heindl
Die „wilden Kerle“ stürmen die Bühne, schütteln sich, nähern sich bedrohlich den ersten Zuschauerreihen. Wer das Kinderbuch von Maurice Sendak kennt, wird allerdings ihre plüschigen Felle zu interpretieren wissen: Vor denen muss man sich gar nicht fürchten. Die wählen eher ein Kind zu ihrem König und führen dann dessen Anordnungen aus.
Ein lärmender, schwer erträglicher Haufen: Sonia Kelichs Migrantenklasse mit (von links) Ulrich Rechenbach, Sebastian Baumgart, Anton Schneider, Helene Blechinger, Alexander Darkow, Sarah Bonitz und Florian Innerebner.
So einfach macht Lehrerein Sonia Kelich es sich nicht – sie probiert’s mit einem Theater-Workshop für die jungen Migranten ihrer Schule. Schillers „Räuber“ sollen gespielt werden, eine Lektion über Freiheit und Verantwortung gibt’s dabei inklusive. Doch die Typen, die aus den Masken der „wilden Kerle“ schlüpfen, sind von anderem Kaliber. Sie ignorieren die Autorität der Pädagogin, hören ihr nicht zu, interessieren sich weder für deutsche Kultur, noch für Freiheit in Verantwortung, beschimpfen sich gegenseitig ebenso wie die Pädagogin und das Publikum: „Isch fick deine Mutter, du Scheiß-Wichser!“ Die Lehrerin steckt dabei im gleichen Dilemma wie die Gesellschaft um sie herum: Sie hat keine Machtmittel, mit denen sie ihre Ansprüche durchsetzen könnte. Ihre Schüler benehmen sich wie Tiere, knurren, brüllen, röhren und balzen. „Bis heute“, behauptet sie, sei „Schiller aus unserem kulturellen Alltag nicht wegzudenken“ – o weltfremdes Germanistengerede, o heilige, grunddeutsche bildungsbürgerliche Illusion!
Das heillose Durcheinander der multikulturellen Gesellschaft
Und schon sind wir mitten drin im Konfliktsyndrom: denn hier geht’s nicht nur um Schule, hier geht’s ums Theater, um schulische und ästhetische Erziehung, um Thilo Sarrazins Phrasenschmiede, um die „Einwanderungsgesellschaft“, um Autorität und Pädagogik, um das ganze heillose Durcheinander der multikulturellen Gesellschaft und um die Frage, wie man Zuwanderer zu Mitbürgern macht. Notfalls geht das, so lehrt das Stück, mit Waffengewalt. Denn im Verlauf eines Handgemenges mit ihren Schülern bekommt die Lehrerin eine Pistole in die Hände – ab jetzt wird scharf geschossen, und zwar deutlich öfter, als ein Magazin außerhalb des Theaters Kugeln enthält.
Kampfeinsatz im Krisengebiet Integration: Louisa Stroux als bewaffnete Lehrerin. (Fotos: Nik Schölzel)
Das zu kritisieren wäre kleinlich und nicht angebracht, denn das Setting von Nurkan Erpulats Erfolgsstück „Verrücktes Blut“ ist so drastisch wie absurd – und doch nicht als Klamauk abzutun. Geschickt und ohne allzu große Verrenkungen hat der Autor alles in seinem Stück untergebracht, was die „Migrantenproblematik“ so problematisch macht. Denn Frau Kelich (als Gast im Ensemble Louisa Stroux, pädagoginnen-bieder in weißer Bluse und knielangem Rock) nutzt den Besitz der Waffe zur Machtausübung, wird zur schießfreudigen Despotin im Dienst des Guten und der deutschen Kultur. Gut, dass Susanne Hillers gewellte Bühne jede Menge schützengrabenähnliche Deckungsmöglichkeiten bereitstellt, während Frau Kelich ihre Schüler zunächst zu korrekter Aussprache zwingt („ich“ statt „isch“, „Vernunft“ statt „Vernumpft“), später zum macho-widrigen Herunterlassen der Hosen, zum Ablegen des Kopftuchs und zur exakten Definition des sinnwidrig verwendeten Begriffs „Nutte“ anhand von Schillers Ästhetik. Da vermischt sie aber schon Pädagogen-Sprech mit Ghetto-Slang: „Es ist ganz wichtig, dass ihr diese Erfahrung macht: Luise ist keine Schlampe, sie stirbt unschuldig!“ Dafür will, nein muss, nein darf Latifa (Helene Blechinger) einem ihrer Mitschüler dann „an den Arsch fassen.“
Mit „Mannszucht“ gegen Machoverhalten
Während Regisseur Ulf Goerke dafür sorgt, dass die Zuwanderer/Schüler ihre Konflikte auch unter der bewaffneten Herrschaft so brutal und gewaltsam austoben, wie sie es gewohnt sind, werden die wachsenden Widersprüche im Handeln der Lehrerin evident: Kann sie, die gerade noch weinend um das Verständnis ihrer Schüler gebettelt hatte, nun Liberalität mit Gewalt erzwingen, Schiller mit der Knarre vermitteln, Schüler gleichzeitig als „Arschlöcher“ bezeichnen und zur Toleranz erziehen? Kann man Machos ihre Allüren austreiben mit dem Appell an „Mannszucht, wie das früher hieß“, also mit dem Rückgriff auf Werte, die noch kürzlich in heftigem Widerspruch zu Schillers Freiheitsgedanken standen? Und was passiert, wenn sich plötzlich Latifa die Knarre schnappt? Erpulat hat seine Lehrerin in die Mitte all der Konflikte gestellt, die die „deutsche Kultur“ in ihrer Auseinandersetzung mit Zuwanderern und deutscher Geschichte durchzustehen hat – von der bedingungslosen Multi-Kulti-Beseeltheit bis zum Rückfall in Nazilösungen.
Je mehr das alles durcheinander gerät auf der Bühne, desto mehr hat das Publikum zu lachen. Erpulats Text, das ist nicht sein geringster Verdienst, gibt die Konflikte auf der Bühne genauso wie die noch viel schwieriger zu lösende gesellschaftspolitische Problematik einer intelligenten, ebenso erhellenden wie doppelbödigen Lächerlichkeit preis. Dabei macht er die Verfechterin des Freiheitsgedankens beinahe zur Vollstreckerin eines Todesurteils gegen Musa, den Obermacker unter den Machos (erst unter Dampf, dann ganz weinerlich: Ulrich Rechenbach) und lässt sie schließlich vor Sarrazinischer Verächtlichmachung ihrer Schüler sprühen: „Rausgeschmissenes Geld seid ihr!“ – „Ghettogangster!“ – „Schulniveausenker!“. Da hat aber ihre schwarze Pädagogik plötzlich und unerwarteter Weise schon gefruchtet: Die Schüler verweigern den Gehorsam und die Lynchjustiz unter Hinweis auf die deutschen Klassiker.
Und geben dem Publikum zum Schluss noch eine eingängige Auswahl von zwar drastischen, aber in verschiedenen Bevölkerungskreisen durchaus mehrheitsfähigen Vorurteilen aus dem durchschnittsbürgerlichen Phrasenschatz mit nach Hause. Den Schiller dürfen wir wohl alle nochmal lesen. Und die „wilden Kerle“ auch – denn auch diese Frage bleibt natürlich unbeantwortet, ob die auch ein bisschen gefährlich sind oder wirklich „nur spielen“ wollten.
Viel Applaus für neunzig so kurzweilige wie nachdenkenswerte Minuten.