Wenn Tom Sawyer ’nen Lada klaut
Wolfgang Herrndorfs Jugendroman „Tschick“ im Hoffmannkeller
Von Frank Heindl
Es ist ein schönes Buch: „Tschick“, geschrieben von Wolfgang Herrndorf und ein Erfolgstitel nicht nur auf dem Buchmarkt, sondern auch auf den deutschen Bühnen. Die Augsburger Inszenierung ist die 27ste, seit der Jugendroman 2010 erschien, weitere sieben sind, so Schauspieldirektor Markus Trabusch, noch für diese Saison angekündigt. Doch während das Buch den Leser tatsächlich in seinen Bann zieht und ihn mit seiner hin- und mitreißenden Sprache über all seine Schwächen hinweg fliegen lässt, trägt die Bühnenfassung von Robert Koall nicht so weit. Premiere war am Mittwoch im Hoffmannkeller.
Der erste Schock, den die Inszenierung uns zumutet, ist die Besetzung. Wer das Buch gelesen hat und wen der Charme dieser jugendlichen Mischung aus Schnodderigkeit, Naivität, Wortwitz und Wagemut gepackt hat, der kann sich mit dem gut dreißigjährigen Tjark Bernau als Tschick zunächst nur schwer abfinden. Florian Innerebner als Maik, Sarah Bonitz als Isa – das passt eher. Allerdings: Diese Hürde nimmt Fabian Alders Inszenierung recht schnell – irgendwann nimmt man Bernau tatsächlich die Rolle des russlanddeutschen Achtklässlers ab und schafft es sogar, über dessen lichtes Stirnhaar hinwegzusehen.
Ein anderes Problem, für das die phantasiereiche Inszenierung nichts kann, ist der Text. Herrndorfs Roman ist 230 Seiten dick und erzählt, kurz gesagt, die Geschichte zweier von ihren Elternhäusern vernachlässigten Achtklässler, die in den Sommerferien ein Auto klauen und damit auf Tour gehen. Im Filmgenre würde man von einer Mischung aus Coming of age und Roadmovie sprechen – es geht ums Unterwegssein und ums Erwachsenwerden. Herrndorf hat diese Abenteuerreise mit einer eher unwahrscheinlichen Häufung von Abenteuern vollgestopft und dazu mit einer erheblichen Menge von am Abgrund des Kitsches balancierenden Bildern: Verfolgungsjagden, Verliebtheitsszenen und Schießereien kontrastieren mit Sonnenuntergängen, Gewitterwolken und dem unendlichen Sternenhimmel. Das Buch trägt über diese Schwächen hinweg, weil zum einen nicht immer klar ist, wo der Autor mit Ernsthaftigkeit dahintersteht und wo er seine Protagonisten in Phantasiewelten abdriften lässt, und weil Herrnberg zum anderen virtuos einen Jugendslang beherrscht, der mit seinem wunderbaren Witz, aber auch und gerade in seinen sprachlichen Schwächen, seinen Wiederholungen und seiner gelegentlichen Phrasen- und Klischeehaftigkeit durchaus die Weltsicht von Vierzehn- oder Fünfzehnjährigen zu spiegeln vermag.
Wackelige Brücken und ein schießwütiger Weltkriegsveteran
Für die Bühnenfassung gilt das nicht unbedingt, denn sie ist ein zu konzentriertes Destillat: Im Hoffmannkeller drängen sich auf engem Raum und in gerade mal 75 Minuten die Haupterzählstränge, und so wird geradezu aufdringlich deutlich, was für ein abenteuerlich übertriebenes Konstrukt und welche Zusammenballung aus Klischeevorstellungen uns Herrndorf da eigentlich zumutet. Während Tschick aus der sozialen Verwahrlosung einer russischen Einwandererfamilie kommt, geht’s Maik umgekehrt und daher genauso: Seine Eltern sind reich, aber die Mutter hoffnungslose Alkoholikerin, der Vater ein prügelnder Ignorant. Im Niemandsland haust ein schießwütiger Weltkriegsveteran, über Schluchten führen wackelige Brücken, die den geklauten Lada trotzdem tragen, auf der Müllkippe haust die hübsche, aber verdreckte Isa, genächtigt wird an einem einsame Bergsee – das ist ein wenig zu viel des Ausgedachten.
Fabian Alders Regie und Nikolaus Frinkes Ausstattung illustrieren das Geschehen mit einfachen Ideen – sie lassen eine grüne Decke zur Wiese werden, sie hängen ein paar Sternchen an die Decke, die Hauptperson – der alte Lada – wird einfach von einem Richard Clyderman spielenden Kassettengerät repräsentiert, und Sarah Bonitz darf neben der Isa nicht nur eine Art Faunin, sondern auch noch eine Böschung spielen, die beim Verkehrsunfall gnadenlos auf die beiden Jungs zusaust. Reizvollste und geradezu poetische Idee: Als Maiks Mutter am Ende die Möbel im Pool versenkt, werden diese an die Decke des Hoffmannkellers gehängt – Mutter und Sohn tauchen unten durch. Das ist stimmig und stimmungsvoll und rettet alles, was zu retten ist. Dem jugendlichen Publikum, immerhin Zielpublikum des Stücks, wird das wahrscheinlich selbst dann gefallen, wenn es bemerkt, dass das echte Leben so Tom-Sawyer-haft dann doch nicht ist. Wer die Pubertät hinter sich hat, wird allenfalls schmunzeln über dieses realistisch angehauchte Märchen.