Wenn es Deutschland nicht schafft, wie kann man es dann von der EU verlangen?
Go, Angie, go!
Kommentar von Siegfried Zagler
Jeder Staat hat ein berechtigtes Interesse daran, Zuwanderung und Abwanderung kontrolliert zu regeln. Verliert ein Staat diesbezüglich die Kontrolle, verliert er das Vertrauen seiner Bürger und befindet sich somit in einer schweren Krise. Die Menschen, die seit September hunderttausendfach die Grenzen nach Deutschland passierten, sind allerdings keine Zuwanderer, sondern Menschen, die Zuflucht suchen, weil sie von Not und Tod verfolgt sind. Sie stehen unter dem Schutz der Genfer Flüchtlingskonvention. Eine Übereinkunft von 145 Staaten, die Menschen auf der Flucht eine Rechtsstellung sichert, die zum Beispiel auch beinhaltet, dass es bei einer illegalen Einreise keine Rechtsverfolgung gibt, wenn sich der „illegal Eingereiste“ umgehend bei einer Behörde meldet.
Nicht die Flüchtlinge stellen das innerdeutsche Problem dar, sondern die Debatte darüber
Die deutsche Debatte bezüglich der Situation, die die Flüchtlingswelle seit Anfang September in Deutschland verursacht hat, ist eine Debatte, die schwer erträglich ist. Das hat damit zu tun, dass sie zwei menschliche Regungen voneinander abgrenzt, nämlich den Reflex der Hilfsbereitschaft und die Angst vor der Zukunft. Nicht von der Not und dem Elend der Flüchtlinge ist die Rede, sondern davon, ob Kanzlerin Angela Merkel an der Flüchtlingsthematik scheitert oder nicht. Fast ist man geneigt zu sagen, dass nicht die Flüchtlinge das innerdeutsche Problem darstellen, sondern die Debatte darüber. Wer setzt sich durch? Die Apokalyptiker, die sagen, dass wir das Undenkbare nicht zulassen können, ohne den sozialen Frieden und den Wohlstand zu gefährden, oder die „Merkelantisten“, die sagen: „Wir schaffen das!“
Von nicht bedrohten Flüchtlingen aus sicheren Drittstaaten ist die Rede, also von Menschen, die sich von ihren ersten „sicheren“ Zufluchtsorten lösen. Damit sind der Irak, der Libanon, Jordanien und die Türkei gemeint.
Zwischen vier und fünf Millionen Flüchtlinge haben diese Länder wohl aufgenommen. Länder, die zwar politische stabil sind, deren wirtschaftliche Leistungsfähigkeit aber zu schwach ist, um mehr als das blanke Überleben der Flüchtlinge sichern zu können. Die Länder, die die Hauptlast des Flüchtlingsstroms aus Syrien aufgenommen haben, sind von der EU und deren reichen Staaten zu wenig unterstützt worden. Besser: Sie sind mit dem Elend und der Not, die der syrische Bürgerkrieg auslöste, die alle Kriege auslösen, von den reichen Ländern Europas allein gelassen worden.
Wenn es keine Hilfsbereitschaft gäbe, wäre es besser, wenn es keine Menschen auf der Erde gäbe Wenn Flüchtlinge aus diesen Ländern fliehen, dann fliehen sie nicht vor Bomben und Gewehrhagel, sondern vor Krankheit und Siechtum. Falls es also stimmen sollte, dass die meisten Flüchtlinge nicht direkt aus Syrien nach Europa kommen, sondern ihren ersten Zufluchtsort verlassen, um nach Europa zu kommen, dann stimmt es eben. Die EU muss nun für ihr Versäumnis nachsitzen und eine ungeheure Anstrengung vollziehen. Sie muss sich selbst und der Welt beweisen, dass sie mehr ist als eine über das Knie gebrochene Währungsunion.
Wer Bilder von toten Kindern, die an die Strände Europas geschwemmt werden, aushalten kann, der soll eine europäische Abschottungspolitik gut finden. Wer nicht, darf nicht davon ausgehen, dass er zur Lösung der Situation beiträgt, indem er Alt-Kleider und Spielsachen vom Speicher spendet. Helfen bedeutet, einen Beitrag zu liefern, der das Elend lindert. Wer hilft, fragt nicht danach, ob ihm diese Hilfe später nützt oder schadet. Wer hilft, tut das, weil er die Not des anderen lindern will und kann. Wer hilft, verfolgt keinen Plan und strebt keine Gesamtlösung an. Die Hilfsbereitschaft der Deutschen ist großartig. Sie erzählt von einem der ersten menschlichen Reflexe, von einer Regung, die den Menschen zum Menschen macht. Ohne Hilfsbereitschaft, ohne das Gefühl füreinander, wäre es besser, wenn es auf der Erde keine Menschen gäbe. Ohne Hilfsbereitschaft füreinander müssten wir uns nicht um die Zukunft sorgen. Es gäbe sie nämlich nicht.
Dass es keine Obergrenze gibt, hat niemand gesagt
Dass es für alles eine Obergrenze gibt, ist aber auch für die hilfsbereitesten Helfer keine Frage. Natürlich kann auch ein reiches Land wie Deutschland nicht unbegrenzt Flüchtlinge aufnehmen. Dass das der Fall sein solle, hat allerdings auch niemand gesagt. Und wenn man will, kann man auch Seehofer und den bayerischen Apokalyptikern ein wenig Verständnis entgegenbringen: Bayern hat vom 5. September bis zum 8. Oktober von den 210. 000 Flüchtlingen, die in Bayern ankamen, 71.000 aufgenommen. Das sind doppelt so viele wie der Königsteiner Schlüssel vorschreibt. Eine geheime Liste des Bundes, die die Süddeutsche Zeitung freundlicherweise veröffentlichte, zeigt, dass Bayern die Hauptlast trägt und andere Länder gemäß des Königsteiner Schlüssels weit unter Soll liegen.
Wer nichts tut, darf also nicht über Seehofer schimpfen! Die meisten Länderchefs bauen Dämme. Dass es auch anders geht, zeigt die Ausnahme, nämlich Hannelore Kraft in NRW. Die meisten Länderchefs mauern, weil ihnen als Politiker die Sorge um die Zukunft näher ist als der Impuls der Hilfe. Sie haben Angst davor, dass die Stimmung kippt und wieder Flüchtlingsunterkünfte brennen. Sie haben Angst davor, dass sie die Integrationsmaßnahmen nicht gestemmt bekommen. Sie haben Angst davor, dass die Flüchtlinge in ihrer großen Zahl ein anderes Deutschland bewirken. Ein gefährlicheres Deutschland, eines mit geplünderten Sozialkassen und mit eisigen Parallelgesellschaften, ein Deutschland, das schwieriger zu regieren und kaum noch zu kontrollieren ist.
Niemand weiß, was die Zukunft bringt
Kurzum: Ohne jeden Zweifel ist die Politik derzeit nicht bereit, die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung auf ein professionelles Gleis zu schieben, da sich niemand sicher sein kann, wie sich die Situation weiter entwickelt und sich keine einfachen Lösungen abzeichnen. Ein Aufnahmestopp würde gegen das Grundgesetz verstoßen, darin sind sich die meisten Verfassungsexperten einig. Unabhängig davon muss man es ernstnehmen, wenn sich Landräte und Bürgermeister bezüglich der Belastungskapazitäten ihrer Gemeinden und Städte sorgenvolle Gedanken machen. Was eine weiter zunehmende Zahl an Flüchtlingen in Zukunft für die Gemeinden, für die Länder bedeutet, vermag niemand zu denken. Eine Zukunft mit 800.000 bis 1,5 Millionen Flüchtlingen pro Jahr lässt sich nicht als etwas vorstellen, das zu schaffen ist – weshalb Defensive angesagt ist. Wo das Loch am größten sei, fließe das meiste Wasser hin, soll Augsburgs OB Kurt Gribl sinngemäß in vertrauter Runde gesagt haben, als es darum ging, ob man in der Stadt voraussehend weitere Einrichtungen für Flüchtlinge erstellen solle. Im Grunde bringt Kurt Gribl damit zum Ausdruck, was die meisten Ministerpräsidenten der Bundesländer denken.
Wenn es aber einem hochfunktionalen Staat wie Deutschland nicht gelingt, seiner Pflicht nachzukommen und es ihm nicht gelingt, „seine“ Flüchtlinge im Land angemessen zu verteilen, wie kann man das dann von der EU verlangen?
„Wir müssen uns von unserem nationalstaatlichen Denken lösen“, um dieses Problem zu lösen“, sagte Bundeskanzlerin Merkel in Straßburg. Nicht viel mehr als ein frommer Wunsch, wenn man auf die Kleinstaaterei in Deutschland blickt, wenn es um Flüchtlingspolitik geht. Go, Angie, go!, möchte man der Bundeskanzlerin zurufen, um sie in ihrem Kampf gegen die kleinteiligen Bedenkenträger in der Union und in der SPD zu unterstützen.