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Dienstag, 23.07.2024 - Jahrgang 16 - www.daz-augsburg.de

Was ist Wählertäuschung, was nicht?

Anmerkungen zum Scheitern der CSM

Kommentar von Siegfried Zagler

Im Gegensatz zu Berufspolitikern in Landtagen und im Gegensatz zu Bundestagsabgeordneten üben Stadträte in den kommunalen “Verwaltungsparlamenten” ein Ehrenamt aus, von dem man nicht einfach zurücktreten kann, weil man sich politisch nicht mehr einer bestimmten Gruppierung oder Fraktion zugehörig fühlt. Ein Ausscheiden aus dem Stadtrat wird über die Gemeindeordnung geregelt. Krankheit oder Wohnortwechsel sind mögliche Gründe. Der Stadtrat stimmt über die Zulässigkeit des Ausscheidens ab. Bleibt ein Stadtrat, der aus einer Fraktion ausscheidet, ohne sich einer anderen Fraktion oder einer Ausschussgemeinschaft anzuschließen, als Einzelperson im Stadtrat, hat er kaum noch Möglichkeiten, an politischen Entscheidungsprozessen mitzuwirken.

Aus diesem Grund ist es über die Gemeindeordnung abgesichert und auch politisch sinnvoll, wenn sich in den kommunalen Stadt-und Gemeinderäten während einer Stadt- oder Gemeinderatsperiode fraktionslose Stadträte anderen Fraktionen anschließen oder neue Fraktionen oder Ausschussgemeinschaften bilden. Es ist also nicht nur formal falsch, sondern auch politisch falsch gedacht, wenn in der veröffentlichten Meinung die Ansicht vertreten wird, dass aus den Fraktionen ausgetretene Kommunalpolitiker auch aus den Kommunalparlamenten ausscheiden müssten. Das hat damit zu tun, dass das kommunale Wahlrecht in Bayern es ermöglicht, dass einzelne Kandidaten gewählt werden können, ohne dass man dafür die Partei-Liste wählen muss, auf der die Kandidaten zur Wahl antreten. Die Kommunalwahl in Bayern ist auch eine Persönlichkeitswahl. Wenn also Stadträte ihre Fraktionen verlassen, um zu anderen politischen Gruppierungen zu wechseln, darf man nicht kategorisch von “Wahlbetrug” oder Täuschung der Wähler sprechen. In allen Parteien des aktuellen Regierungsbündnisses gibt es Personen, die keine Stadträte wären, wären sie in ihren Listen nicht nach vorne gewählt worden. Eine Sieglinde Wisniewski (SPD) wäre wohl auch auf der Grünen Liste nach vorne gewählt worden, eine Pia Härtinger (Grüne) wohl auch auf einer SPD-Liste und ein Willi Leichtle (SPD) wohl auf jeder anderen Liste. Man könnte ein Dutzend weitere Beispiele nennen.

Unabhängig davon, sind personelle Wechselbewegungen von einer Fraktion zu einer anderen politische Aktionen, die selbstverständlich politisch bewertet werden müssen. Im Zusammenhang mit dem Wechsel der letzten CSM-Stadträtin Claudia Eberle zu Pro Augsburg stand in der vergangenen Woche wieder einmal das Wort der “Wählertäuschung” im Raum. Im Fall der CSM ist das zutreffend, in anderen Fällen nicht.

I Die CSM

Dass sich eine neue Gruppierung (CSM) bildet, die vor der Wahl damit wirbt, die bessere CSU sein zu wollen, und mit drei Stadträten in den Stadtrat gewählt wird, um nach drei Jahren wieder in die CSU zurückzukehren, ist schwere Wählertäuschung. Obwohl Claudia Eberle lange die Stellung hielt und am Ende des Tages nicht zur CSU-Fraktion zurückkehrte, muss festgehalten werden, dass die CSU 2014 mit 23 Stadträten in den Stadtrat gewählt wurde und nun mit den beiden CSM-Rückkehrern und dem ehemaligen AfD-Stadtrat Marc Zander 26 Stadträte in den Augsburger Stadtrat einbringt. Durch die Bildung der CSM und ihre späteren inhaltlichen Schwächen und die wiederum damit verbundene Auflösung, die auch damit zu tun hatte, dass Frontmann Hermann Weber ausschied, weil er einen hochkarätigen Verwaltungsjob nicht ablehnen wollte, diente die CSM in hohem Maße der Stärkung der CSU – nachträglich. Im direkten Wahlergebnis verlor die CSU im Vergleich zu 2008 2,4 Prozentpunkte. Nachträglich liegt die CSU durch die “Zuwanderung” der AfD-CSM Stadträte mit Stadtratssitzen deutlich über dem Ergebnis von 2008. Zu verantworten haben das die Stadträte von CSM und AfD: Ein schwerer Fall von Wählertäuschung!

II Die AfD

Die AfD zog 2014 mit vier Stadträten in den Augsburger Stadtrat ein. Nach dem Essener Parteitag und dem damit verbundenen Rechtsrutsch und der Lücke-Abspaltung traten Thomas Lis und Marc Zander aus der AfD aus. Lis ging zu Pro Augsburg, Zander blieb eine Weile parteilos, um später bei der CSU einzutreten. Thorsten Kunze trat später aus persönlichen Gründen aus der AfD aus. Kunze wurde bei der Wahl von Listenplatz 3 auf Platz 5 zurückgewählt und kam ohnehin nur als Nachzügler in den Stadtrat, weil der vorgewählte Alexander Bolkart schnell (“aus persönlichen Gründen”) hinwarf und aus dem Stadtrat ausschied. Sind die Motive der AfDler, die AfD zu verlassen plausibel und verständlich, so trug die Fastauflösung der AfD erheblich dazu bei, am Ende des Tages eben jene politische Konkurrenz zu stärken, gegen die sie im Wahlkampf angetreten waren. Wie gesagt: Ein klarer Fall von Wählertäuschung!

III Die FDP

Einen besonders merkwürdigen Fall der Wählertäuschung finden wir bei der Augsburger FDP vor. Dabei geht es nicht um die FDP, sondern um Stadtrat Markus Arnold, der mit dem FDP-Ticket als einziger FDP-Mann 2014 in den Stadtrat einzog. Aus Gründen, die wohl nur Bernd Kränzle und Johannes Hintersberger erklären können, bot die CSU Arnold eine Hospitanz in der CSU-Fraktion an. Arnold nahm an und sitzt nun als vollwertiges Mitglied in der CSU-Fraktion und pflegt seit vielen Jahren seinen individuellen Distanzierungsprozess bezüglich der Augsburger Kreis-FDP, wo Markus Arnold kein Standing mehr hat und darauf auch wohl wenig wert legt. Die Kreis-FDP hatte von Beginn an nur formal ein Mandat im Augsburger Stadtrat. Politisch gehört Arnold zur CSU-Fraktion, der er auch einen Fraktionskostenzuschuss von 300 Euro pro Monat zukommen lässt.

IV Peter Grab

Der ehemalige Kulturreferent und 2. Bürgermeister (2008 – 2014) der Stadt Augsburg stürzte innerhalb eines kurzen Zeitkorridors zweimal tief. Zuerst bei der Kommunalwahl 2014, als er als Frontmann von Pro Augsburg ein granatenschlechtes Wahlergebnis einfuhr und somit sein Hang zur Selbstüberschätzung vom Wähler erkannt und sanktioniert wurde. Und zum Zweiten, als er wegen einer in einem Schmuddelblog ausgebreiteten Sexaffäre vom PA-Verein aus Pro Augsburg heraus gemobbt wurde. Grab versuchte sich mit einer Ausschussgemeinschaft mit der damals noch zweiköpfigen AfD politisch über Wasser zu halten, wovon er aber wieder Abstand nahm, weil er einsehen musste, dass eine Bürogemeinschaft mit Rechtspopulisten politisch nicht vermittelbar ist. Grab gründete als Einzelstadtrat eine neue Wählergruppierung (WSA) und leistet heute unaufgeregte und kaum wahrnehmbare Oppositionsarbeit. Kein Medium hat Grab stärker kritisiert als die DAZ. Und dennoch muss man an dieser Stelle WSA-Mann Peter Grab attestieren, dass er gerade wegen seines dilettantischen Agierens keine Wählertäuschung betrieben hat.

V Die CSU

Einer Partei wie der CSU, die in Bayern seit mehr als einem halben Jahrhundert an der Macht ist, wird in Sachen nicht eingelöster Wahlversprechungen aus Tradition viel zu wenig nachgetragen. Ungeachtet dessen liegt schwerwiegende Wählertäuschung vor, wenn man im Wahlprogramm Steuererhöhungen ausschließt und sie dann mit einem Impetus der Selbstverständlichkeit beschließt, als hätte es dieses Versprechen nie gegeben.

VI Die Grünen

Bei den Grünen reicht ein Blick ins Wahlprogramm, um zu erkennen, dass sie sich mit großer Lust vor der Wahl an eine Maxime der Regenbogenregierung erinnerten: keine weitere Neuverschuldung, sondern Haushaltskonsolidierung. Aus der Grünen Priorisierung des nachhaltigen Haushaltens ist nichts geworden. Die Grünen stimmten, nach der Wahl zum Regierungsbündnis gehörend, geschlossen für Haushaltseinbringungen, die die höchsten Neuverschuldungsbeträge der Nachkriegsgeschichte beinhalteten. Für diese 180-Grad-Kehre ließ sich die Grüne Fraktion das Placet von ihren Mitgliedern geben, die sie zu einer Urabstimmung baten, um ihre Beteiligung an einer beispiellosen städtischen Schuldenpolitik politisch absichern zu lassen. Die Grünen haben zirka 200 Mitglieder, die nicht ansatzweise ihre Wählertäuschung an 84.000 Wählern legitimieren können.

VII Die SPD

Die Augsburger SPD verlor bei der Kommunalwahl 2014 sechs Stadtratssitze und erzielte mit 22,4 Prozent das schlechteste Wahlergebnis in der Stadt Augsburg, die in den 70er- und 80er-Jahren eine SPD Hochburg war. Vergleicht man die Anzahl der aktuellen SPD-Fraktion mit den Fraktionsstärken der 70er- und 80er-Jahre, lässt sich feststellen, dass sich die SPD in Augsburg halbiert hat. Festzumachen ist das am Führungspersonal der Augsburger Sozialdemokraten, das von Periode zu Periode zunehmend an politischer Aura und gesellschaftlicher Überzeugungskraft verlor. Nach dem Wahldesaster 2014 trat innerhalb der Augsburger SPD niemand aus einer Führungsposition zurück. OB-Kandidat Stefan Kiefer wurde Sozialreferent, Fraktionsgeschäftsführer Dirk Wurm Ordnungsreferent. Der damit zusammenhängende Aufstieg der Margarete Heinrich zur Fraktionsvorsitzenden unterstreicht die Unsichtbarmachung der Augsburger SPD auf spektakuläre Weise. Obwohl die SPD bisher kaum Wahlversprechen ihres umfangreichen Wahlprogramms umzusetzen verstand, liegt bei der SPD keine Wählertäuschung vor. Eine Koalitionsbildung mit der CSU lag bereits vor der Wahl in der Luft und bei der Bildung einer Koalition muss man in der Lage sein, von eigenen Programminhalten Abstand zu nehmen. Die Augsburger SPD leidet an vielen Krankheiten, nicht aber daran, dass sie die Wähler getäuscht hat.

VII Oberbürgermeister Kurt Gribl

OB Kurt Gribl, der mit 51,8 Prozent der Wählerstimmen 2014 zum zweiten Mal ins Oberbürgermeisteramt gewählt wurde, ist der Architekt des aktuellen Augsburger Regierungsbündnisses zwischen CSU, SPD und den Grünen. Kurt Gribl hat seinen überzeugenden Wahlsieg (51,8 Prozent) und die überraschend niedrigen 37,7 CSU-Prozentpunkte dafür verwendet, um mit 72,5 Prozent der Stadtratssitze Politik zu machen. Kurt Gribl sitzt inzwischen dem Bayerischen Städtetag vor, gehört in der bayerischen CSU zu einer anerkannten Größe (einer von fünf stellvertretenden Parteivorsitzenden) und sitzt nach langen Anlaufschwierigkeiten nun auch in der Augsburger CSU fest im Sattel. Er gehört in Bayern zur politischen Elite und zu den schnellsten Aufsteigern der CSU-Geschichte. Diesen Aufstieg verdankt er auch dem Augsburger Bündniskonstrukt, das dem Macher Kurt Gribl stets solide Mehrheiten sichert. Mit dem Wählerwillen der Kommunalwahl 2014 korrespondiert das Augsburger Bündnis nur schwach. Die Wähler der SPD und der Grünen haben diese beiden Parteien nicht gewählt, um einen CSU-Oberbürgermeister in Augsburg zum politischen Supermann zu küren.

Die Praxis der Politik fragt nicht nach dem Wählerwillen, sondern danach, was sich aus einem Wahlergebnis machen lässt. Die Augsburger Kommunalpolitik reflektiert auf atemberaubende Weise die Differenz zwischen Politik und moralischen Verpflichtungen. Eine Differenz, die in ihrer Schnittmenge das technische Handwerk der Wählertäuschung erkennbar macht, nämlich Überzeugungen zu besitzen, diese zu erhöhen und zu verraten.