Von Schubert bis Shakespeare
Wie „bluespots productions“ Augsburg bespielen – und nun im Handwerkerhof gelandet sind
Von Frank Heindl
Leonie Pichler wirkt unaufgeregt wie meistens, aber stolz ist sie schon: „Ja, alle Vorstellungen sind komplett ausverkauft, wir könnten noch viel öfter spielen“. Anlass für diesen glücklichen Seufzer: „Liebe, Macht, Tod“ – das neue Stück, das die jungen Kreativen aus der Augsburger Off-Szene am vergangenen Wochenende in den Wassertürmen am Roten Tor aufgeführt haben. Ein mutiges Projekt von „bluespots productions“, das, soviel kann man schon im Vorspann sagen, sehr geglückt ist.
Ein paar Tage vorher hatten wir uns zum Gespräch getroffen in den neuen Räumen der bluespots, die schon wieder die alten sind – ein paar ärgerliche Zufälle haben dafür gesorgt, dass die Truppe um die 31jährige Leonie Pichler demnächst schon wieder ausziehen muss, manche Kisten sind – glücklicherweise – noch gar nicht ausgepackt. Pichler stöhnt nicht, sondern nimmt’s mit Gelassenheit. Ans Improvisieren gewöhnt man sich wohl, wenn man ein Ensemble anführt, das vor noch nicht einmal fünf Jahren aus dem Nichts begonnen hat – und heute zu einer festen Einrichtung in Augsburg geworden ist, schlichtweg zu dem Ensemble, wenn von einer Augsburger „Off-Szene“ die Rede ist, von jenen Theatermachern also, die sich abseits des etablierten Betriebs und abseits der etablierten Orte ihr Publikum erkämpfen.
„Das ging krass schnell“, sagt Leonie Pichler heute. Sie hatte in Augsburg, Paris und den USA Philosophie und Theaterwissenschaften studiert, hatte zwei Promotionsangebote in der Tasche und damit gute Chancen für eine akademische Karriere – und schlug aus. „Zu viel Theorie, zu wenig Handeln“, fand sie, hatte aber gleichzeitig herausgefunden, dass ihr die Schauspielerei nicht lag. Stattdessen gründete sie in Augsburg („hier kenne ich mich aus, hier kannte ich die Kunst-Szene“) das Ensemble „bluespots productions“. Mit mehrerlei Zielen. Ökonomisch: Es sollte zum Leben reichen. Künstlerisch: Die Wirklichkeit hinterfragen, den Theaterbegriff erweitern und: „eine bluespots-Produktion gesehen zu haben, soll für die Menschen ein bleibendes Erlebnis sein“ – was man sich halt so vornimmt als junger Mensch. Dazu „Lebenstechnisches“: Am 30. Geburtstag eine schonungslose Evaluation des Erreichten.
Neue Zugänge, neue Sichtweisen
Leonie Pichler ist mittlerweile 31 Jahre alt – die Evaluation scheint positiv ausgefallen zu sein. Und wenn man nachblättert und nachsieht: Es lässt sich kaum bestreiten, dass die bluespots eine Menge veranstaltet haben in Augsburg: Den provokativen „Nuttenbus“, den „Hotelturm“ in drei Zimmern des dortigen Hotels, „Call a Conflict“ im Möbelhaus, „Folie à deux“ im Planetarium, „Brecht³“ in der Brechtbühne und gleichzeitig in den USA und Japan, Schuberts „Winterreise“ an 24 Schauplätzen – verschiedene Orte, verschiedene künstlerische Zugänge und neue Sichtweisen zum Thema. Und, nicht zuletzt: Die drei Hauptprotagonisten des Ensembles leben von ihrer Arbeit, obwohl die Stadt nur 15.000 Euro pro Jahr spendiert. Wenig genug, doch Pichler freut sich trotzdem: „Das ist eine Grundsicherung für uns plus Miete.“
Hinzu kommen, und darauf ist sie nicht wenig stolz, Auftragsarbeiten. Für „Call a Conflict“ etwa kam die Anfrage von der Polizei. Familiäre Gewalt – ein kniffeliges Thema, von bluespots dem Publikum hautnah im Möbelhaus vorgeführt (die DAZ-Besprechung hier). Sicher kein Zufall, dass staatliche Stellen, die einen Missstand beleuchten wollen, sich an bluespots wenden: „Wir sind anders, und die wollen, dass wir anders sind“, konstatiert Pichler. Reich wird man auf diese Weise nicht, aber die bluespots-Regel, dass stets mehr Geld an die Künstler gehen muss als an Technik und Strukturen, kann die Gruppe problemlos erfüllen: 80 Prozent der Einnahmen gingen im vergangenen Jahr an die Kreativen – eine Zahl, von der städtische und staatliche Bühnen nur träumen können.
„24 Premieren im Dezember“
Auch das derzeitige Projekt der bluespots, „Liebe Macht Tod“ in den Wassertürmen am Roten Tor, wurde von einem Auftraggeber angestoßen: Die Augsburger Regio und ihr Chef Götz Beck hatten angefragt, ob man das Gelände im Rahmen der Augsburger Bewerbung für den Welterbe-Status der UNESCO bespielen könne. Mit ihren Leuten hatte Pichler da kein Problem: „Je größenwahnsinniger das Projekt, desto mehr brennt das Team“ war ihre Erfahrung – spätestens, seit sie im vergangenen Herbst das Projekt Winterreise vorgeschlagen hatte.
Fünf Premieren pro Jahr sind eigentlich das Ziel bei bluespots. Die Winterreise erforderte dagegen „24 Premieren im Dezember“, so Pichler: Schuberts Liederzyklus im Gewand eines Adventskalenders, in 24 Tagen an 24 Orten in der Stadt – was würde das Team zu dieser Idee sagen? Nach einem kurzen „du spinnst“ waren alle mit Enthusiasmus dabei. Und dass auch Leonie Pichler selbst für ihre Projekte „brennt“, zeigt das Gespräch über Schubert am deutlichsten: Auswendig rezitiert sie die „Krähe“ aus dem besagten Zyklus, um begeistert zu erklären, wie Schuberts Musik hier funktioniert. Sie sei, sagt Pichler, „ganz und gar auf Text gepolt – aber bei der Winterreise habe ich erkannt, was Musik Gutes tun kann für den Text.“ Die 24 Ergebnisse dieses Einsatzes kann man übrigens immer noch im Netz sehen und hören (diewinterreisedurchauxburg.de) – zum Beispiel, wie sich „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus“ im Flüchtlingsheim an der Calmbergstraße anhört oder wie ein schwarzer Flügel wirkt auf der weißen, weiten Eisfläche des Curt-Frenzel-Stadions. Zusammengefasst: Wie sich Musik, Text, Bild und Publikum unmerklich und betörend verbinden und – Theater werden.
Ein „Fratzenfest“ fürs Publikum
Auch „Liebe Macht Tod“ braucht viele Spielorte. Das Stück ist eine moderne Fassung von Shakespeares „Romeo und Julia“, übersetzt von Thomas Brasch, und der Rest dieses Artikels ist leider fast vergeblich, denn: Auch die Vorstellungen am kommenden Wochenende waren schon bei der Premiere am vorigen Wochenende restlos ausverkauft, Werbung ist nicht mehr vonnöten. Die Inszenierung ist ein Augenschmaus erster Güte, eine lyrisch-poetische Erweiterung des Shakespeare-Stoffes. Dass das Stück bekannt ist, sozusagen im kollektiven Bewusstsein verankert, setzt die Inszenierung voraus, die Leonie Pichler in Co-Regie mit Martin de Crignis in Szene gesetzt hat. Sie zerlegt das Stück in 14 Einzelszenen, deren erste bereits den Gast in ihren Bann zieht: Im Handwerkerhof, vor den erleuchteten Zimmern des Museums und der Wassertürme, haben die bluespots ein „Fratzenfest“ inszeniert, bei dem sich die Zuschauer willkommen fühlen dürfen.
Hinter einer geliehenen Maske verborgen, sitzt man im Gras auf gemütlichen Polstern, im Hintergrund erklingt hypnotische Techno-Musik, Nebel wabern über den Innenhof, den man nun eher als Park empfindet – und plötzlich flüstert einem in dieser einzigartigen Atmosphäre Julia selbst einen verschwörerischen Satz ins Ohr, küssen sich in einer Ecke zwei maskierte Verliebte, wird geturtelt, getanzt, gefeiert, und als Zuschauer ist man mittendrin, ein kleines bisschen Schauspieler, ein kleines bisschen Shakespeare-Figur. Ein Ort also, an dem man schon vor dem Stück relaxen kann, ein ganz anderer Ort als das Foyer im Stadttheater, das immer nur in der Pause zugänglich ist. Ja, Theater muss raus, muss neue Orte entdecken! Schafft die Bühnen ab, damit neue Bühnen entstehen! Und sorgt so dafür, dass neues, junges Publikum kommt! Man muss durchaus kein Gegner des etablierten Theater sein, um an einem heißen Abend im Augsburger Handwerkerhof doch eine Weile solchen Gedanken nachzuhängen …
Auch das Publikum wird vergiftet
Irgendwann ist man „dran“ – wie bei einer Führung wird man nun durch weitere 13 Szenen geleitet, allesamt im Wasserturm gespielt, der, wenn man noch nie hier war, durch seine wunderschöne Architektur berauscht. Schnell wird man nun Zeuge einer Schlägerei zwischen den Capulets und den Montagues und gerät mittenhinein, wenn etwa plötzlich Mercutio neben dem Zuschauer an die Wand gedrückt und bedroht wird. Einen Raum weiter singt Eva Gold von „Misuk“ (leider nur vom Band) betörend von Tränen und Herzeleid, und dann sind wir schon bei einer verzaubernden Balkonszene, die damit endet, dass Julia, ganz hoch oben und unerreichbar auf einem Übergang platziert, einen Goldregen (oder ist‘s Sternenlicht?) auf Julio herabregnen lässt – und auf uns.
Man kann hier nicht jede Station beschreiben, muss aber erwähnen, dass, nach viel Treppensteigen weit hinauf, auch eine Szene getanzt wird, dass es Solo-Szenen wie das bedrohliche „Auftritt Krieg“ gibt, und, wir sind wieder hinunter geklettert, dass geheiratet wird, dass es zu Aggressionen kommt, und dass gegen Ende auch das Publikum vom Priester vergiftet wird – glücklicherweise nur mit Bonbons. „Noch fünf Minuten zu leben“, heißt diese Szene. Wer sich auskennt weiß, dass das zunächst nur ein Trick ist, um Julia für 48 Stunden außer Gefecht zu setzen. Das klappt nicht und endet im Drama – die letzte Szene spielt in der Gruft.
Wer das Stück nicht kennt, der hat möglicherweise nur wenig verstanden. Aber alle durften wunderbare, bleibende Bilder mit nach Hause nehmen, die bluespots dürften reichlich Fans dazugewonnen haben und zu Leonie Pichlers Projekten sagt eh schon lange keiner mehr „du spinnst“.