Viel Pathos, wenig Kampf und Leidenschaft
Mit dem Schlusskonzert „Alle Menschen werden Brüder“ endete das Kulturprogramm der „City of Peace“
Von Frank Heindl
1 Philharmonisches Orchester, 2 Bands, 4 Solisten, 370 Chorsänger und -sängerinnen, 450 Musiker insgesamt – der Schlussabend von „City of Peace“ war ein Mammutkonzert.
Zunächst mal wurden alle Veranstalter Brüder: Noch bevor das Konzert begann, versammelte sich vor der Bühne ein Großteil derer, die sich um das Gelingen von „City of Peace“ verdient gemacht hatten, ließen sich bejubeln und bejubelten sich gegenseitig. Das war verdient, das darf so sein, und das nahm schon ein bisschen die Stimmung vorweg, die den restlichen Abend prägen sollte: Pathos allerorten. „Alle Menschen werden Brüder“ – unter dem Motto, das gleichermaßen Beethovens Neunte Sinfonie wie Schillers „Ode an die Freude“ zitiert, stand der Schlussabend von Richard Goerlichs kulturellem Rahmenprogramm für den Teil der Frauen-Fußball-WM, der sich in Augsburg zugetragen hat.
Höchstes deutsches Kulturgut also als Krönung zweier sehr erfolgreicher Wochen, die sich zum Ziel gesetzt hatten, uns alle ein bisschen zu erziehen: „Geh hin und du wirst ein besserer Mensch“, war das Programmheft betitelt, und von dem Quäntchen Ironie, das darin gesteckt haben mag, war am Sonntagabend kein noch so kleiner Rest mehr zu spüren. Beethoven also – doch damit nicht genug. Denn um das Thema der Brüderlichkeit auf die Stadtgesellschaft zu übertragen, hatte man den vom Komponisten vorgesehenen Chor personell vervielfacht: 370 Sänger und Sängerinnen aus vielen Augsburger Laienchören standen auf der Bühne und traten sich dort, so muss man fürchten, gegenseitig auf die Füße. Pathos rächt sich stets – am Sonntag auf subtile Weise durch die notwendige Kürzung des Beethovenschen Hauptwerkes auf seine beiden letzten Sätze. GMD Dirk Kaftan, der nicht nur dirigierte, sondern den Abend auch moderierte, merkte zurecht an, die schweren und schwierigen Kämpfe, deren Resultat erst der versöhnlich-optimistische Schluss der Symphonie sei, hätten leider an diesem Abend keinen Platz im Programm gehabt – die fünf Sätze zusammen dauern knapp 70 Minuten.
Der Sound der City: Martinshorn, Straßenbahn, Glockenklang
Das Pera Ensemble aus Istanbul spielte osmanische Musik – einst als Ansporn komponiert, um „euch Christen hier zu überfallen.“
Die frohe Schiller/Beethovensche Botschaft vernehmen und verkünden, für den Prozess ihrer Entstehung aber keine Zeit haben – das mag verzeihlich sein, da der Verlust einem höheren Ziel geschuldet war. Bedauerlich muss man es trotzdem finden. Zumal leider noch mehr auf der Strecke blieb: Waren die vier Solo-Sänger indisponiert oder vermochte es die Verstärkeranlage nicht, ihre Stimmen adäquat zu transportieren? – das mag dahingestellt bleiben. Die Laienchöre jedenfalls kamen deutlich präziser und präsenter rüber. Dass der Alltagsound der „City of Peace“ die Vorstellung ebenfalls mehrfach störte, darf man hingegen als Positivum verbuchen: Das Läuten zur vollen Stunden, das Kreischen der Straßenbahn, ein Martinshorn – Kultur in der City muss sich in ein solches Klangspektrum einfügen, wenn sie so mittendrin, so präsent, so faszinierend gegenwärtig sein will, wie das Kulturstadion sie zwei Wochen lang gezeigt hat.
Auf Beethoven folgte, weil das Schlusskonzert die drei bei uns vertretenen Weltreligionen repräsentieren sollte, das türkische Pera Ensemble mit klassischer osmanischer Musik. Dessen Leiter, Mehmet Yesilcay, würzte den Abend mit ein wenig Humor, als er das Einsickern der bratschenähnlichen Viola d’amore ins westliche Orchester mit der Situation von Deutschtürken der dritten Generation verglich – und als er die Aufgabe der militärischen Janitscharenmusik bündig damit erklärte, es sei darum gegangen, „euch Christen hier zu überfallen.“ Eines der wenigen Instrumente, die nahezu auf der ganzen Welt zuhause sind, ist das Hackbrett – wenngleich es nicht überall so heißt. Grund genug für die Programmmacher, anschließend einen von Enjott Schneider arrangierten Landler für zwei Hackbretter und Orchester zu präsentieren.
Wenn die Musik zur Heuchlerin wird
Danach spielte die „Hamburg Klezmer Band“ als Repräsentant jüdischer Kultur Klezmermusik. Etwa das Stück „Bazar“, in dem sich Melodien und Rhythmen aus fünf Balkanländern vereinigen – in den Augen der Musiker ein Beispiel dafür, wie sich verschiedene Völker ähnlicher Ausdrucksmittel bedienen, um die Schönheit der Welt in einem Tanz zu feiern. Dem Motto des Abends geschuldet war das letzte Stück der Klezmerband: „Un mir zaynen alle brider.“ Das war mal ein schöner, ausdrucksstarker Song, ein Arbeiterlied, ein Aufruf zu Einigkeit und Solidarität, auch zum Kampf gegen Unrecht und Unterdrückung – ein Appell zur Brüderlichkeit jedenfalls, ganz gewiss nicht deren Feststellung. „Un mir zaynen alle brider, oy, oy alle brider“ – oy, war das ein beseelt-naiver Wunsch, oy, wie machten den die Judenmörder in diesem Deutschland zunichte, oy, und heute wird geklatscht und mitgesungen und niemand mehr hört Trauer und Verzweiflung heraus, „un mir zingen freileche lider, oy, oy, oy.“ So droht hinter dem Pathos die Wirklichkeit zu verschwinden – der Inhalt bleibt auf der Strecke, die Wohlfühlmusik wird zur Heuchelei. Ein paar Worte zur Einleitung, nur ein paar Tropfen Wermut in den Kelch des Klischees – und alles wäre gut gewesen.
Die „Hamburg Klezmer Band“: virtuos, mitreißend, einmal fast schon poppig – und ein wenig zu geschichts-vergessen. (Fotos: Eric Zwang-Eriksson)
Das Hauptwerk des Abends, auf das all diese Musiken hingeführt hatten, war schließlich die von Enjott Schneider als Auftragswerk ausgeführte „Salaam Friedens-Sinfonie“. Schneider hatte nicht nur spirituelle Schriften aus aller Herren Länder von der Kabbala über die Genesis und den Koran bis zum iranischen Dichter Rumi, dem Türken Nazim Hikmet und anderen verarbeitet, sondern auch Stile und Rhythmen aus den Musiken dieser Länder zur Vertonung benutzt. Nun intonierte der 370stimmige Chor östliche Töne, ertönten aus Augsburger Kehlen Koransuren und Bibelverse. Das war noch einmal pathetisch, zumal der Komponist seine Erfahrung als Filmkomponist deutlich hörbar machte und die Möglichkeiten des großen Orchesters noch einmal „beethovenmäßig“ ausreizte, und ging doch auch ans Herz. Noch fast sechs Monate bis Weihnachten, und man durfte auch mal mitten im Sommer gerührt sein und fühlen, wie erstrebenswert eine friedliche Welt wäre.
Die Diskrepanzen waren ausgeblendet
Muss man Pathos geißeln? Muss man nicht. Es wäre ja so schön, wenn wir alle Brüder – und „brider“ – wären, werden könnten. Man darf das, man muss das sagen, immer und immer wieder und gerne mit allen verfügbaren Gefühlswallungen. Wer könnte, wer möchte sich schon Beethovens Suggestivkraft entziehen. Aber während wir uns nach Brüderlichkeit sehnen, verkaufen wir Panzer nach Saudi-Arabien. Die Chance, an diese Diskrepanz mit ein paar Tönen nur zu erinnern, hätten sich die Programmmacher nicht entgehen lassen sollen. Glück gibt es nicht ohne Kämpfe – die Neunte, zur Gänze gehört, bringt es zum Ausdruck. Von dem türkischen Dichter Nazim Hikmet stammten die deutlichsten Sätze in Schneiders Libretto: „Schafft die Knechtschaft ab des Menschen durch den Menschen!“, fordert der ganz brechtisch und formuliert die Sehnsucht nach „Leben, einzeln und frei wie ein Baum und brüderlich wie der Wald.“ Da klingt eine Leidenschaft an, von der der Abend zu wenig hatte. Hikmets Wunsch bleibt eine Sehnsucht, nicht weniger, aber leider auch nicht mehr.
Dass wir bessere Menschen werden, wenn wir hingehen – es kann nur ironisch gemeint gewesen sein.